Luxemburg / Angstzustände, Einsamkeit, Depression – Die Psychiatrie und die Folgen der Pandemie
Vergangene Woche hatten Premierminister Xavier Bettel und Gesundheitsministerin Paulette Lenert im Laufe einer Pressekonferenz u.a. gesagt, dass immer mehr Mitbürger psychische Probleme aufweisen würden, die wohl auf die Corona-Pandemie und die damit verbundenen erforderlichen Schutzmaßnahmen zurückzuführen seien. Wir fragten nach.
Engpässe bei den Betten, volle Psychiatrien, stark eingeschränkte Therapiemöglichkeiten: Die Behandlung von psychisch Kranken werde in der Coronavirus-Pandemie zunehmend schwieriger. Der Lockdown erschwere die Arbeit der Spezialisten gleich in vielerlei Hinsicht. So schrieb Journalistin Michèle Zahlen (reporter.lu) am 29. April letzten Jahres: „Es kommen immer mehr Patienten wegen schweren psychiatrischen Notfällen“, unterstrich damals Dr. Paul Hédo, leitender Arzt der Psychiatrie-Abteilung des „Centre hospitalier de Luxembourg“ (CHL). „Teilweise, weil ihre übliche Betreuung in Versorgungsstrukturen oder beim behandelnden Psychiater nicht mehr angemessen gewährleistet ist. Teils sind es auch Patienten, die bisher keine größeren psychischen Probleme hatten.“
„Viele Patienten, die zu uns kamen und die versucht haben, sich während der Pandemie das Leben zu nehmen, hatten eine Vorgeschichte psychischer Erkrankungen“, so derselbe Arzt im August letzten Jahres gegenüber der Journalistin Ines Kurschat (siehe Lëtzebuerger Land vom 28.8.2020). Der Psychiater hat auch während der Krise psychisch Kranke betreut, darunter Menschen, die schon vor der Corona-Pandemie wegen Angststörungen oder Depressionen in Behandlung waren. Aber auch gänzlich Unbekannte. „Vielleicht waren für sie plötzlich Druck und Angst zu groß geworden, dass sie es nicht mehr ausgehalten haben“, so Hédo Mitte 2020.
Zunehmend Jugendliche
Auch bei den verschiedenen Notruftelefonen notierte man in den letzten Monaten bei Weitem mehr Anrufe als vor der Pandemie, und dabei ging es längst nicht nur um das Virus selbst, sondern um Angstzustände, Folgen der Isolation, die Einsamkeit und deren Auswirkungen auf den seelischen Zustand usw. Auffallend sei, dass es unter den Anrufern zunehmend Jugendliche gibt, die leichte bis schwere Probleme mit der heutigen Gesellschaft haben.
„Um gesund zu bleiben, muss sich der Mensch an der Gesellschaft orientieren können“, so Dr. Mark Ritzen, Generaldirektor des „Centre hospitalier neuro-psychiatrique“ (CHNP) aus Ettelbrück, am Freitag gegenüber dem Tageblatt. „Und diese Gesellschaft hat sich eben in den letzten Monaten derart verändert, dass viele nicht mehr in und mit ihr zurechtkommen.“
Diese Tatsache habe einerseits zur Folge, dass vor allem in den Akutpsychiatrien im Bereich der Allgemeinkrankenhäuser höhere Aufnahmezahlen als vorher notiert werden. „Vor allem die Zahl derer, die an Suchtkrankheiten leiden, stieg rasant an. Hier steht der Alkoholkonsum an vorderster Stelle“, so Ritzen. Andererseits stelle die veränderte Gesellschaft aber auch ein Problem dar, wenn es darum gehe, Patienten nach einer psychiatrischen Behandlung zu entlassen, sprich sie wieder in die Gesellschaft eingliedern zu wollen.
Hoher Stressfaktor
Da noch keine offiziellen Zahlen vorliegen, wäre es heute unmöglich, sich ein genaueres Bild machen zu können, doch in einer Sache sind sich die Fachleute einig: Es sind nicht die schweren psychotischen Störungen, die in den letzten Monaten die Zahl der Aufnahmen in die Höhe schnellen ließen, sondern Depressionen, Angstzustände und, wie bereits erwähnt, die Suchterkrankungen. Es sei ebenfalls zu früh, um genau sagen zu können, welche Auswirkungen diese Corona-Krise auf die mentale Gesundheit der Menschen hat bzw. haben wird. Bekannt sei aber heute schon, dass der allgemeine Stress bei fast allen Mitbürgern, ob jung oder älter, derart gestiegen sei, dass es durchaus zu akuten oder auch Langzeitfolgen kommen kann.
Bekannt sei ebenfalls, dass viele Menschen, die an dem Virus erkrankt waren, unter schwerem posttraumatischem Stress leiden würden, was in vielen Fällen wiederum zu Depressionen mit oder ohne Suchterkrankungen führe. Doppelt und dreifach schlimm sei es für Mitmenschen, die davor bereits unter psychischen Problemen litten.
Der Mensch verfügt grundsätzlich über ein erhebliches Potenzial, psychische Gefährdungen und Krisen zu durchleben und sich auch allein wieder zu erholen, doch es ist auch bekannt, dass die Selbstheilungskräfte des Menschen überfordert sind und die Möglichkeit zu psychischen Erkrankungen eher gegeben ist, je länger Krisen, Konflikte und lebensgefährdende Ereignisse dauern.
Konkrete Sorgen
Es sei auch erwähnt, dass sich die psychische Gesundheit vieler Kinder und Jugendlicher, die während des Lockdowns über lange Zeit Schließungen der Kindertagesstätten, Schulen, Spielplätze und Vereine hinnehmen mussten, laut einer Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf während der Pandemie verschlechtert hat. Das Risiko für Hyperaktivität und emotionale sowie Verhaltensprobleme sei von rund 18 Prozent vor Corona auf 31 Prozent während der Krise angestiegen, so die Studie weiter.
Während unseres Gesprächs hob der Generaldirektor des CHNP, Dr. Mark Ritzen, noch hervor, dass sich vor allem Heranwachsende und jüngere Erwachsene mit ganz konkreten Sorgen um ihre Zukunft plagen, was natürlich zusätzlichen Stress auslöse. „Heranwachsende machen sich Sorgen um ihre schulischen Resultate, sie blicken frustriert in eine ungewisse Zukunft, was den Arbeitsmarkt anbelangt, sie fühlen sich eingesperrt und um einen Teil ihrer Jugend gebracht, sie plagen sich mit zunehmender Traurigkeit herum, sind motivationsarm und fühlen sich von Altersgenossen, aber vor allem von den Erwachsenen alleingelassen.“
Anschließend sprachen wir noch ein für viele doch eher heikles Thema an. Frustration in verschiedenen Lebensbereichen, Verzweiflung und Einsamkeit, das Gefühl der Isolation, Misserfolg bei der Prüfung, Arbeitslosigkeit, Unzufriedenheit am Arbeitsplatz und Frustration in der Liebe oder in irgendeinem Lebensbereich sind die Hauptgründe für Selbstmord in jüngeren Altersgruppen. Wie sieht die Selbstmordinzidenz zurzeit aus? „In unserer Klinik haben wir eine sehr niedrige Inzidenz, was Suizide anbelangt. Wie es extramural aussieht, weiß ich nicht genau. Es ist zu befürchten, dass es zu einem Anstieg der Selbstmordfälle gekommen ist, doch es liegen uns noch keine statistisch signifikanten Zahlen vor. Im Verlauf der kommenden Monate werden wir dazu wohl mehr in Erfahrungen bringen können,“ so Mark Ritzen.
Erwähnt sei abschließend, dass das CHNP in Ettelbrück mit 247 Patienten sowohl vor der Pandemie als auch Ende 2020 voll belegt war. Daran habe sich auch im neuen Jahr nichts geändert.
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„Und diese Gesellschaft hat sich eben in den letzten Monaten derart verändert , dass viele nicht mehr in und mit ihr zurechtkommen“, so Dr. Ritzen. In den Vor -Corona-Zeiten haben gerade die jüngeren Generationen die älteren Generationen vorgeführt , weil sie oft mit den technologischen, gesellschaftlichen Veränderungen nicht zurechtkommen. Das Blatt scheint sich gewendet und die die glaubten sie seien unverwundbar , hat es hart getroffen.
@Scholer
Eingedenk aller Boshaftigkeiten, die mir die letzten Tage auf Facebook begegnet sind, gehört die kaum verhohlene Genugtuung ihres Kommentars zu den größten Widerwärtigeiten, die mir seit langem untergekommen sind.
@Mumpitz: Es ist keine Bosheit, ich analysiere nur die Situationen und stelle fest , vor Jahren ältere Generationen gerade von jüngeren Generationen sich den neuen Gegebenheiten anzupassen angehalten , in Kommentaren gemaßregelt wurden. Es ist bedrückend zu sehen , wie das Schicksal sich gerade eben mit der zitierten Anpassungsfähigkeit an neue Gegebenheiten eben an den jüngeren Generationen rächt.Glauben Sie mir auch die älteren Bürger müssen sich diesem Virus unterordnen, es ist eine tagtägliche Herausforderung, einziger Vorteil die älteren Generationen haben , sie nicht in einer von Konsum-,Spassgewohnheiten , Freiheiten überhäuften Gesellschaft groß geworden sind . Dabei müssten wir Alten eigentlich jeden Tag in depressiver Stimmung sein, wir wissen das Virus uns nicht schont , der Tod bei Erkrankung unser Begleiter ist.