Mehr als ein Modetrend / Anno 1900: von der Erde zum Mond und wieder in den Fond-de-Gras
Für die einen ist es einfach ein Spaziergang oder geselliger Nachmittag in einem einzigartigen Ambiente, für andere ein Treffen mit Gleichgesinnten. Manch einer fachsimpelt über H.G. Wells oder Vintage-Objekte, während sich andere auf die hausgemachten Macarons in unzähligen Geschmackssorten freuen. Oder wie wäre es mit einer Fahrt in der „Minièresbunn“? Willkommen sind sie alle beim Anno 1900 – ob im Steampunk-Stil oder in Alltagskleidung, mit Faible für selbstgebaute Geräte, viktorianische Literatur oder Gin-Verkostungen.
In der Steampunk-Welt treffen Vergangenheit und Zukunft aufeinander. Utopien und Paralleluniversen ziehen die Erfinder*innen, Zeppelin-Pilot*innen, Held*innen aus Schauerromanen und viele weitere an. Sie schöpfen ihre Inspiration aus dem viktorianischen Zeitalter, wie es wirklich war, bringen aber eigene Ideen ein und fügen dem Ganzen einen „Wie wäre die Welt geworden, wenn …?“-Blickwinkel hinzu. Authentisch und genau wie zur Zeit von Königin Viktoria – einer Zeit, die von wirtschaftlichem Aufschwung, aber auch von Doppelmoral, strengen Verhaltensnormen und Ausbeutung von Arbeitern gekennzeichnet war – kleiden sich nämlich die wenigsten Steampunks. So werden beispielsweise moderne Stoffe verwendet, Schnitte bequemer gestaltet, Röcke drapiert und hochgezogen, Korsetts über der Oberbekleidung getragen usw. Auch die verschiedenen Schaltschemen und Objekte werden häufig bemalt, um wie Kupfer oder Messing auszusehen, sind aber aus anderem Material, oft aus weggeworfenen Teilen oder Flohmarkt-Funden.
Gegen die Wegwerfgesellschaft
Kreativität, Fantasie, Do-it-yourself und auch Upcycling statt Wegwerfen sind Kernthemen der Steampunk-Bewegung. Dies konnte das Tageblatt aufs Neue bei Gesprächen mit Besuchern feststellen. Sowohl Menschen, die sich als Anhänger der Subkultur ansehen, als auch Bewunderer oder einfache Spaziergänger wissen diese Aspekte besonders zu schätzen. Denn auch wenn die teils aufwendige Kleidung das Erste ist, was einem ins Auge springt, und das Anno 1900 ein echtes Fotografie-Eldorado bietet, wird klar, dass das Äußere, neben dem „Sehen und gesehen werden“, vor allem eine Darstellung der inneren Werte der Personen ist. Mit anderen Worten: Das Ganze auf eine Modenschau mit ein paar Zylindern und Zahnrädern zu reduzieren, wäre zu kurz gegriffen.
So erzählte eine Besucherin, die ein deutliches Faible für Vintage-Plüschtiere hatte, dass sie diese bereits seit Jahren sammelt und einzeln an Rock, Hut und Tasche befestigt hat. Etliche andere Besucher lieben Secondhand-Artikel oder gaben Erinnerungsstücken der Großeltern ein zweites Leben. Das Thema Ressourcenverschwendung in der heutigen Zeit kam ebenfalls öfters auf – ein Gedanke, den auch Le Comte Caspar, Mitglied der Steampunk-Band Coppelius, im Tageblatt-Interview geäußert hatte: „Das ist kein Müll, sondern das sind Ressourcen. Von dieser Wegwerfwelt wegkommen und erkennen, dass man aus Sachen noch etwas machen kann. Denn wenn wir irgendwie die Welt retten wollen, müssen wir uns alle ein bisschen zusammen anstrengen. Ferner soll Kunst ja auch Vorreiter sein und Gedankenwege öffnen, und das tut es damit.“
„Il faut oser!“
Nicht jeder Steampunk stellt seine Kleidung selbst her, doch für einen Teil der Gemeinschaft ist das Nähen eine große Leidenschaft. Andere interessieren sich für die Literatur aus dem 19. Jahrhundert, beispielsweise Jules Vernes „Von der Erde zum Mond“ oder die Welt von Charles Dickens, wiederum andere für den Aspekt der Mechanik und des Tüftelns. Wie zahlreiche Personen im Fond-de-Gras gegenüber dem Tageblatt berichteten, können sie auf solchen Veranstaltungen sie selbst sein – eben als Anno-1900-Version. Ein Besucher, der wohl einen viktorianischen Kraftsportler darstellte, meinte nur: „Il faut oser!“
Events dieser Art gibt es mittlerweile in hoher Anzahl in Europa, allerdings sei dieses laut vielen Anwesenden „the Steampunk place to be“. Allein die Kulisse, mit Dampflokomotive und Backsteinarchitektur, fände man sonst nirgendwo vor. Demzufolge hieß es auch in Sachen Rahmenprogramm „Volldampf geben“. Musiker, Zauberer und andere Künstler wie die Band Turm und Strang aus Österreich oder die mittlerweile kaum mehr vom Anno 1900 wegzudenkenden Les Gavroches traten rund um die Paul-Wurth-Halle und den Bahnhof auf. Was die Stände betrifft: Accessoires und handgemachte Kleidung gab es selbstverständlich – eine gute Gelegenheit, um Handwerk und Kleinunternehmen zu unterstützen –, aber auch beispielsweise Skulpturen, Illustrationen und Mobiliar. Wer für ein Getränk oder ein „Fondant aux pommes“ vorbeikommen wollte, kam mit der breiten Auswahl an Deftigem, Süßem, Teekannenfreundlichem und Spirituosem auf seine Kosten.
Festzuhalten ist ebenfalls die Anwesenheit traditioneller Hutmacher*innen, die größtenteils Einzelkreationen anboten und mit ihren Werken einen schwindenden Berufsbereich vertreten. Auch Siebdruck-Plakate im Stil um die Jahrhundertwende konnte man kostenlos bekommen oder den Künstlern bei ihrem Schaffen über die Schulter blicken. Neu war in diesem Jahr der Kultur-Waggon, in dem der Film „Steampunk Connection“ von der kanadischen Regisseurin Annie Deniel gezeigt wurde und der luxemburgische Autor Tim Kesseler aus seinem Werk „Mydgar, le retour“ vorlas.
So wird Steampunk eben ausgelebt: mit Gegensätzen wie Fantasie und Wissenschaft, Vergangenheit und Zukunft, Analogem und Digitalem, Wertschätzung lokaler Produktion und dem Blick in die Ferne gerichtet, Utopie und einer Portion Punk-Attitüde – und vor allem mit Liebe zu diesem Hobby.
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