/ Apokalyptische Szenen im Internierungslager Al-Hol
Unter der sengenden Sonne steht Maha al-Nasser mit ihrer kleinen Tochter in den Armen in der Schlange vor der überfüllten Klinik des Lagers Al-Hol.
„Wenn meine Tochter Krämpfe hat, verliert sie das Bewusstsein und Schaum tritt aus ihrem Mund“, berichtet die Mutter, während ihre 14 Monate alte Tochter mit geschlossenen Augen in ihren Armen liegt, die Haut blass, die Lippen ausgetrocknet. Eigentlich müsste sie dringend in ein Krankenhaus, doch das gibt es in dem Internierungslager nicht.
Die 30-Jährige und ihre Tochter gehören zu den Zehntausenden Frauen und Kindern, die im März nach der Eroberung der letzten Bastion der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) im Osten Syriens nach Al-Hol gebracht wurden. Das Lager nahe Hassakeh im Nordosten Syriens wird von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) kontrolliert, die eine führende Rolle im Kampf gegen die Extremisten gespielt haben.
70.000 Menschen leben im Lager
„Die sanitäre Lage ist schlecht und eine Behandlung ist schwer zu erhalten“, sagt al-Nasser, die mit insgesamt sechs Kindern in Al-Hol lebt. Ihren Ehemann halten die Kurden mit anderen mutmaßlichen Dschihadisten in einem Gefängnis fest.
Mit dem Anstieg der Temperaturen im Sommer hat sich die Situation weiter verschärft. „Die Kinder haben Durchfall. Die Krankheit ist endemisch in diesem verfluchten Lager“, klagt al-Nasser. Mehr als 70.000 Menschen leben heute in al-Hol, zwei Drittel davon Kinder. Alle sind auf die Unterstützung von Hilfsorganisationen angewiesen, doch sind die Hilfen meist unzureichend.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat die Situation im Lager als „apokalyptisch“ bezeichnet. Human Rights Watch (HRW) sprach von einer „Wüstenhölle“. Dutzende Kinder sollen schon an Hunger und Krankheiten gestorben sein. Allein in diesem Monat seien 20 Kinder im Lager gestorben, teils bei der Geburt, teils durch Unterernährung, sagt Ramadan Jussef al-Daher, der das Gesundheitszentrum des kurdischen Roten Halbmonds in Al-Hol leitet.
12.000 Frauen und Kinder
HRW schrieb in einem Bericht kürzlich von „überlaufenden Latrinen“ und „unter Hautausschlag leidenden kleinen Kindern mit skelettartigen Gliedern und geschwollenen Bäuchen, die in Müllhaufen wühlen“. Viele der Bewohner von Al-Hol würden lieber früher als später weg. Doch für die meisten gibt es keinen raschen Ausweg.
„Sie sperren uns ein. Öffnet die Türen, damit wir gehen können“, fordert Um Huseifa, eine 34-jährige Irakerin. Zwar haben die kurdischen Behörden im April mit dem Irak eine Vereinbarung zur Rücknahme von 31.000 irakischen Nicht-Kombattanten geschlossen, doch wurde das Abkommen bisher nicht umgesetzt.
Für die rund 12.000 Frauen und Kinder anderer Nationen gibt es überhaupt keine Lösung. Nur in wenigen Fällen wurden bisher Frauen und Kinder repatriiert. Die meisten Länder scheuen sich, ihre Staatsangehörigen zurückzunehmen, da sie die IS-Anhänger als Sicherheitsrisiko sehen. Tatsächlich gaben sich viele Frauen bei der Räumung der letzten IS-Bastion kämpferisch und zeigten keine Reue für die Verbrechen der IS-Miliz. Auch in Al-Hol scheint der Glaube vieler Frauen an den IS-Führer Abu Bakr al-Bagdadi ungebrochen. Die Stimmung ist angespannt, schon wiederholt wurden kurdische Wachleute ermordet.
Um den Dschihadisten den Prozess zu machen, haben die Kurden kürzlich ein internationales Tribunal vorgeschlagen. Doch scheint dies nur schwer umsetzbar. Eine rasche Lösung ist daher nicht in Sicht – so untragbar die Lage in Al-Hol auch sein mag.
Von unserem Korrespondenten Delil Souleiman, Lager Al-Hol (Text und Fotos)
Über 400.000 Menschen seit Ende April im Nordwesten Syriens vertrieben
Seit Beginn einer neuen Regierungsoffensive im Nordwesten Syriens vor drei Monaten sind nach UN-Angaben mehr als 400.000 Menschen in die Flucht gezwungen worden. Viele seien in bereits völlig überfüllte Lager an der türkischen Grenze geflohen, erklärte das UN-Büro zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Ocha) am Freitag.
UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet warf der Staatengemeinschaft „Gleichgültigkeit“ gegenüber dem Leid der Zivilisten in Idlib vor. Idlib ist die letzte Provinz Syriens unter Kontrolle der Aufständischen. Seit vergangenem September gilt dort eigentlich eine Waffenruhe zwischen Rebellen und Regierung, doch wurde die von der Türkei und Russland ausgehandelte Vereinbarung nie voll umgesetzt.
Angriffe auf zivile Ziele
Ende April begannen die Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad und ihre russischen Verbündeten eine neue Offensive gegen die Dschihadisten und Rebellen in Idlib. Die Kämpfe im Süden der Provinz Idlib und dem Norden der Provinz Hama hätten seit Ende April über 400.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben, erklärte Ocha nun. Ganze Städte und Dörfer seien jetzt menschenleer. Die meisten Vertriebenen hätten Zuflucht im Norden von Idlib und in Lagern nahe der türkischen Grenze gesucht. Die Camps seien aber völlig überfüllt, sodass viele Flüchtlinge dort unter freiem Himmel schlafen müssten.
UN-Menschenrechtskommissarin Bachelet warf den syrischen und russischen Streitkräften vor, auch Kliniken, Schulen, Märkte und Bäckereien zu bombardieren. „Dies sind zivile Ziele und angesichts der Häufigkeit und Hartnäckigkeit der Angriffe scheint es sehr unwahrscheinlich, dass sie zufällig getroffen werden“, erklärte Bachelet. Gezielte Angriffe auf Zivilisten seien Kriegsverbrechen.
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