Pflegenotstand / Applaus allein genügt nicht: Die Situation der Gesundheitsberufe in Luxemburg ist kritisch
Wir haben ihnen zum Dank jeden Abend um 20 Uhr applaudiert. Dieser Applaus galt den Krankenpflegerinnen und -pflegern, den Ärzten und anderen in der Pflege Beschäftigten. Für das, was viele von ihnen während der sanitären Krise leisteten bzw. leisten müssen, haben sie sich diese Anerkennung auch redlich verdient. Doch dieses Händeklatschen darf nicht alles gewesen sein. Der Pflegesektor ist seit vielen Jahren, ja seit Jahrzehnten in einer Krise, aus der man mit Sonntagsreden allein nicht herauskommt.
Seien wir doch mal ehrlich: Seit mehr als fünf Jahrzehnten gilt das Wort „Pflegenotstand“ zur Zustandsbeschreibung in unseren Krankenhäusern und Altenheimen. Das Problem und auch die Gründe, warum es so ist, sind bestens bekannt. Passiert ist in all den Jahren sehr wohl das eine oder andere, was für eine leichte Verkrampfung der Situation führte, aber bis zum Kern des Problems ist man leider nie vorgedrungen.
Entrüstet gaben wir uns im März bzw. Anfang April dieses Jahres, als die Rede darüber ging, dass ein Nachbarland wie Frankreich eventuell die Pflegefachkräfte, die tagtäglich aus dem Hexagon nach Luxemburg zur Arbeit kommen, zwangsrekrutieren wolle. Entrüstet waren wir, weil wir mit einem Schlag wieder die Realität vor uns sahen, nämlich die, dass zwei Drittel aller in Luxemburg beschäftigten Pflegekräfte aus dem Ausland kommen.
Nehmen wir uns heute doch mal die Zeit und blättern kurz bis in die 1980er und 1990er Jahre zurück. Damals gab es bereits langatmige Diskussionen auf Politikebene, wie man dem Pflegenotstand entgegenwirken könne. Es gab eine Situation, die hätte eigentlich jeden, der nicht gerade auf beiden Ohren taub war, aufhorchen lassen müssen. In luxemburgischen Lyzeen gab es damals sogenannte „Paramédical“-Klassen, die mit nur acht oder weniger Schüler besetzt waren. Es wurden sogar Klassen aus Mangel an Schülern ganz einfach geschlossen. Den jungen Leuten wurde damals vorgegaukelt, der Pflegebereich sei mit Kandidaten übersät und die Einstellungschancen seien deswegen sehr klein.
Das hatte nicht nur zur Folge, dass in den darauffolgenden Jahren viele Arbeitsstellen im Pflegebereich unbesetzt blieben bzw. dass im Ausland rekrutiert werden musste. Es führte zudem zu einer Veralterung des Personals. Da es in Luxemburg auch heute leider noch immer keine offiziellen Zahlen über die Altersstruktur im Pflegebereich gibt, müssen wir an dieser Stelle auf deutsche Zahlen zurückgreifen. Dort seien nur 15 Prozent der Beschäftigten zwischen 20 und 30 Jahren alt, die über 40-Jährigen machen hingegen 60 Prozent aus. 40 Prozent aller Pfleger und Pflegerinnen seien sogar älter als 50 Jahre. Die Quote der über 60-Jährigen beträgt neun beziehungsweise 9,6 Prozent.
In Luxemburg sieht es laut Betroffenen nicht viel anders aus. Diese Zahlen sprechen für sich. Wenn nichts passiert, steuern wir auf eine Situation zu, die weitaus schlimmer wird als die, die der Pflegebereich im Moment kennt. In 15 Jahren kämen wir bei einer stetig wachsenden Zahl an Pflegebedürftigen auf halb so viele Pflegekräfte wie bisher!
Chaotische Ausbildungsverhältnisse
Tina Koch, Generalsekretärin der ANIL („Association nationale des infirmières et infirmiers du Luxembourg“), macht auf ein weiteres Problem aufmerksam: „Wir haben wohl noch junge Leute, die sich für den Pflegeberuf interessieren, doch viele von ihnen springen im Laufe der Ausbildung ab. Warum das so ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Wir gehen nicht davon aus, dass es die Verdienstmöglichkeiten sind, die sie von einem Abschluss ihrer Ausbildung abhalten, sondern eher die chaotischen Ausbildungsverhältnisse, die Vermischung von BAC und Berufsausbildung in vier Jahren Zusatzausbildung, um nachher mit einem BTS dazustehen. Die jungen Leute legen heute viel Wert auf eine gute Ausbildung, auf die Möglichkeit, sich weiterzubilden, und vor allem auf gute Arbeitsverhältnisse. Junge Leute denken heute mehr in Richtung ‚Work-Life-Balance’, ein Begriff, der für einen Zustand steht, in dem Arbeits- und Privatleben miteinander in Einklang stehen. Im Pflegebereich wird auf drei Schichten gearbeitet, und das auch an Sonn- und Feiertagen. Es müssen viele Überstunden geleistet werden, nur selten wird man an freien Tagen nicht auf die Arbeit zurückgerufen …“
Wir hörten uns in den Reihen des Pflegepersonals einer Klinik um und mussten feststellen, dass die Unzufriedenheit am größten bezüglich des Stellenwertes und der Wertschätzung des Pflegepersonals ist. „Wir brauchen endlich ein visionäres Konzept für den Pflegebereich, ja für die Gesundheitsberufe insgesamt. Die sanitäre Krise hat uns einmal mehr gezeigt, dass Luxemburg medizinisch gut aufgestellt ist, pflegerisch jedoch nicht. Unsere Hoffnungen liegen nun in der von Gesundheitsministerin Paulette Lenert angekündigten Schaffung des ‚Chief Nurse Officer’.“ Diese nationale Pflegedienstleitstelle soll unseren Informationen nach am kommenden 1. Juni mit einer diplomierten Krankenpflegerin mit erweiterten Kenntnissen in der Pflegepolitik besetzt werden.
„Ein falsches Signal“
Auf die Diskussionen bezüglich einer Spezialprämie für Krankenpflegerinnen und -pfleger in Anbetracht ihrer Arbeit während der Corona-Krise angesprochen, antwortete die Generalsekretärin der ANIL Folgendes: „Wir befürworten eine solche Prämie nicht, da sie unseres Erachtens ein falsches Signal aussendet. Jeder ist natürlich glücklich darüber, Geld zu erhalten, doch man sollte sich gleich die Frage stellen, was denn danach passiert. Wir ziehen es vor, anstelle des ‚Schweigegeldes’ endlich eine Anerkennung und eine Revalorisierung unserer Attributionen zu erreichen. Das würde unserem Berufsstand weitaus mehr bringen als eine Einmalprämie.“
Dringender Handlungsbedarf
Neben dem Pflegebereich gibt es auch in anderen Gesundheitsberufen Diskussionsbedarf, der zwar bereits vor der Krise bestand, doch nun dringender denn je geworden ist. Bei den Kinesitherapeuten, um nur dieses Beispiel zu nehmen, hängt der Haussegen schief. Der Präsident der ALK („Association luxembourgeoise des kinésithérapeutes“), Patrick Obertin, gab uns gegenüber zu verstehen, dass die Politik ihre Probleme allem Anschein nach nicht ernst nimmt. „Wir haben bereits vor der Krise auf zahlreiche Probleme hingewiesen, die uns unsere Arbeit und unsere Überlebenschancen in diesem Beruf erschweren, um nicht zu sagen unmöglich machen. In den vergangenen Jahren mussten wir zunehmend investieren, die laufenden Kosten stiegen unentwegt. Die Vorgaben, die mitunter finanzielle Einbußen mit sich zogen, auch. Nach langwierigen Verhandlungen mit dem Gesundheitsministerium haben die Kinesitherapeuten 2018 endlich die Anerkennung ihres Masterstudiums erlangt. Zu gleicher Zeit wurde dann auch die Konvention und die Nomenklatur des Berufsstandes erneuert. Was unsere Tarife anbelangt, schreien wir bereits seit Jahren nach einer Anpassung sprich Verbesserung. Doch gehört scheinen wir nicht wirklich zu werden. Damit muss nun Schluss sein.“
Im gleichen Atemzug gibt Patrick Obertin aber zu verstehen, dass es ihm dabei nicht nur um die Kinesitherapeuten, sondern auch um zahlreiche andere selbstständige Gesundheitsberufe geht. „Vor der Pandemie war es für uns schwierig, über die Runden zu kommen, jetzt ist es noch schwieriger geworden. Viele Kollegen haben im Moment nur 50 Prozent ihres normalen Einkommens, die laufenden Kosten bleiben aber unverändert.“
Apropos Einkommen: „Schönreden hilft hier nichts. Mein Brutto-Einkommen pro Stunde lag vor der sanitären Krise unter 80 Euro“, so Patrick Obertin weiter. „Jeder kann sich ausrechnen, was nach Steuern und sonstigen Abzügen sowie Mietzahlungen usw. übrigbleibt.“ Und der Präsident der ALK geht noch weiter: „Im Moment lege ich sogar bei jeder Behandlung Geld drauf.“ Das Einkommen pro Stunde eines selbstständigen Kinesitherapeuten müsste seines Erachtens heute bei 100 bis 110 Euro liegen.
Ein Kollege fügte hinzu, dass neben der längst fälligen Anpassung der Tarife auch der Stellenwert der Gesundheitsberufe unbedingt und schnellstmöglich von Grund auf verbessert werden müsste. „Die Politik sollte endlich beweisen, wie wichtig ihr ein gut funktionierender Gesundheitssektor wirklich ist.“
Diese Problematik kennt keine Grenzen
Vergangene Woche saßen einmal mehr Vertreter von Berufsorganisationen des Pflegesektors aus Luxemburg, Frankreich, Deutschland und Belgien zusammen. Bei diesen Gesprächen werden nicht nur Erfahrungen ausgetauscht, sondern auch die Probleme an die Wand geschrieben, mit denen sich das Pflegepersonal in den einzelnen Ländern herumplagt. Und diese Probleme sind in vielerlei Hinsicht die gleichen in Luxemburg wie in unseren Nachbarländern.
Sie lieben alle ihren Beruf – und schimpfen auf die Bedingungen, unter denen sie ihn ausüben müssen. Ihr Beruf sei eine so wundervolle, umfassende und vielseitige Arbeit, man schätze es, Menschen zu begegnen, sie zu begleiten, ihnen helfen zu können. Aber: „Die Arbeitsbedingungen müssen sich verbessern, sonst ist der Beruf für viele nicht attraktiv. Wir haben mehr offene Stellen als Bewerbungen“, sagt eine deutsche Abteilungsleiterin. Zudem hielten viele die Arbeitsbelastung nicht dauerhaft aus. Junge, motivierte Mitarbeiter seien ihr nach einem halben Jahr nicht mehr gewachsen, viele von ihnen bekämen sogar psychische Probleme. Mit mehr Geld sei dem Ganzen allein nicht beizukommen, sagen die Pflegekräfte übereinstimmend. Natürlich freue sich jeder über eine Gehaltserhöhung, aber: „Geld ist nicht das Entscheidende.“
Bei dem grenzüberschreitenden Treffen wurde zudem über die von verschiedenen Seiten erwähnte Einmalprämie für das Pflegepersonal in Anbetracht ihrer schweren Arbeit während der Covid-19-Krise gesprochen. Auch hier sei man sich einig: Eine solche einmalige Prämie sende ein komplett falsches Signal. Das Pflegepersonal befürchtet, dass es mit dem Ausbezahlen dieses Geldes für die Politik wieder getan sei. Deckel drauf und zu!
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat 2020 zum Jahr der Pflegekräfte und Hebammen erklärt. Ihnen soll besondere Aufmerksamkeit und Anerkennung zuteilwerden. Gegenüber dem deutschen Nachrichtenmagazin Spiegel meinte Deutschlands bekanntester Pflegeexperte, der Sozialarbeiter Claus Fussek aus Bayern, Anfang des Jahres: „Das Thema interessiert doch niemanden!“ Seit Jahren klingelt sein Telefon immer dann, wenn es ein Problem beim Thema Pflege gibt. Am Hörer sind dann Kinder pflegebedürftiger Eltern, Pflegekräfte, Heimleiter, Journalisten. Die Gesellschaft habe sich an den Pflegenotstand gewöhnt. Was etwas ändern würde? „Eine MeToo-Bewegung in der Pflege.“ Auf die wartet Fussek bislang vergeblich.
Abgesehen von den schlechten Arbeitsbedingungen kämpfen vor allem die französischen und auch belgischen Berufsorganisationen des Pflegesektors für eine ihrem Studium angepasste Gehaltsstruktur. Laut einer uns vorliegenden Statistik aus dem Jahr 2018 verdienen ein Drittel der diplomierten Krankenpflegerinnen und -pfleger in Frankreich zwischen 1.700 et 1.899 Euro im Monat (netto). 28 Prozent haben ein Gehalt zwischen 1.500 et 1.699 Euro und 16 Prozent liegen zwischen 1.900 et 2.099 Euro. 15 Prozent der unter 25-jährigen Pfleger(innen) verdienen zwischen 1.300 et 1.499 Euro …
Ungleicher Lohn für gleiche Arbeit
Nicht nur bei der Ausbildung zur Krankenpflegerin oder zum Krankenpfleger gibt es in Luxemburg große Unterschiede, die für viel Diskussionsstoff sorgen, sondern auch bei der Bezahlung nach abgeschlossener Ausbildung. Im Kollektivvertrag der Mitarbeiter des „Secteur d’aide et de soins et du secteur social“, kurz SAS, ist das Anfangsgehalt mit 237 Punkten bei einem Punktwert von 19,78790 Euro angegeben, was monatlich 4.689,7323 Euro (brutto) ausmacht.
Im Kollektivvertrag für die Mitarbeiter der „Fédération des hôpitaux luxembourgeois“ ist das Anfangsgehalt für Krankenpfleger(innen) wie folgt festgelegt: 227 Punkte bei einem Punktwert von 20,1789315 Euro. Das macht monatlich 4.580,61745 Euro aus.
Das macht immerhin einen Unterschied von 1.309,3782 Euro (brutto) pro Jahr aus.
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Es reicht in der Tat nicht aus in die Hände zu klatschen und Kerzen zu entzünden. Unser Pflegepersonal weltweit sollte durch bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen „geehrt“ werden. Zu wenig Personal für Patienten und Senioren, welche ein Vieles mehr an Betreuung benötigen; als vorgesehen ist. Ich besuchte lange Zeit kranke und schwache Familienmitglieder und Freunde in Senioreneinrichtungen. Ich konnte sehen, das Personal bringt zumeist mehr an Einsatz als gefordert! Das lange Zeit vor der Corona Krise.
Auch als Patientin vor, bei und nach einer Op. wurde ich sehr gut und liebevoll betreut. Musste ich einmal etwas länger auf Schmerzmittel oder Hilfe zum Badezimmer warten, stets nette Entschuldigungen und Trostworte… welche gar nicht nötig gewesen wären. Ich machte mir ja bewusst, wie überfordert diese lieben Menschen sind.
Die Berufe unserer pflegenden Mitmenschen sollen und müssen aufgewertet werden.
Danke an alle „Pflege-Engel“, bleiben sie bitte alle seelisch sowie körperlich gesund❣❣❣
Tja,mat déen villen Milliounen deï diën komischen an guër nit neïdigen Satellit kascht,wiiren dach vill Saachen meïgelich,oder?
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