/ Ardennenstadt unter Schock: Wiltz am Tag nach der tödlichen Beziehungstat
Wiltz trägt Trauer nach dem tragischen Beziehungsdrama, bei dem ein 47-jähriger Luxemburger Familienvater versucht hat, seine Ex-Partnerin zu überfahren. Das zweijährige gemeinsame Kind kam dabei ums Leben. Vier weitere Personen wurden verletzt. Eine ganze Stadt steht unter Schock und sucht einen Tag danach nach Erklärungen.
Von Laurent Graaff, Wiebke Trapp und Roger Infalt
„Es ist einfach nur dramatisch“, so Frank Arndt. „Mit so etwas rechnet keiner“, sagt der Wiltzer Bürgermeister und wiegt den Kopf hin und her. Er ist erst vor kurzem aus dem Urlaub zurück. Seit zehn Jahren ist der 60-Jährige jetzt im Amt und hat bislang manche Höhen und Tiefen erlebt. „Wir sind ja alles andere als verwöhnt hier“, sagt Arndt weiter.
Wiltz sei eine Arbeiterstadt mit Migrationshintergrund. Aber mit solchen Klischees habe diese Tat rein gar nicht zu tun. Es ist ein Beziehungsdrama und vermutlich eine Kurzschlussreaktion. Dem Vernehmen nach ist der Mann nämlich Ende des Jahres aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, in der er mit seiner Ex-Partnerin und dem gemeinsamen Kind lebte. „Solche negativen Schlagzeilen helfen uns nicht weiter auf unserem Weg nach vorne. Vor allem die Berichterstattung darüber, die teils alles andere als sachlich war“, so Arndt weiter. Und dann die Mutmaßung, dass es sich gar um einen Terrorakt handele. Oder eben um keinen Terrorakt.
Service technique wollte nach Bottrop fahren
„Der Clou war auch noch, dass wir geplant hatten, in den nächsten Tagen zusammen mit den Verantwortlichen des Service technique nach Bottrop zu fahren, um ein paar Ferienhäuser in Augenschein zu nehmen“, erzählt Arndt weiter. Die Gemeinde Wiltz hat vor, ebenfalls solche Ferienhäuser aufzubauen, deshalb die Reise dorthin. In der Silvesternacht fuhr bekanntlich ein Amokfahrer in Bottrop und in drei anderen Städten im deutschen Ruhrgebiet mehrfach in Menschenmengen und verletzte dabei insgesamt acht Personen. Und dann ereignet sich so ein Szenario auch in Wiltz: „Wir saßen zusammen im Schöffenrat, als die Nachricht kam. Es ist nicht einfach, diese Tat in Worte zu fassen.“ Als Gemeinde leide man mit. „In einer Großstadt ist dies wahrscheinlich völlig anders.“
Gegen 15.10 Uhr hatte der 47-jährige Familienvater mit seinem blauen Citroën am Mittwoch versucht, seine Ex-Lebensgefährtin in der rue Grande-Duchesse Charlotte zu überfahren. Er kam aus Richtung Krankenhaus. Er habe beschleunigt, statt abzubremsen, so jedenfalls lessentiel.lu. Der Fahrer hielt vermutlich auf die Personengruppe zu, in der sich seine Ex-Partnerin und das gemeinsame Kind befanden, und verließ dabei die rechte Straßenseite. Die Staatsanwaltschaft geht denn auch von einer vorsätzlichen Tat aus. Am Donnerstag wurde der Luxemburger dem Untersuchungsrichter in Diekirch vorgeführt. Ermittelt wird unter anderem wegen Mordes.
Fassungslosigkeit bei den Bürgern
In Höhe der Hausnummer 37 in der rue Grande-Duchesse Charlotte war am Donnerstagvormittag auch der Mess- und Erkennungsdienst der Polizei noch dabei, Fotos vom Tatort zu machen. Der Bewohner eines der anliegenden Häuser sagt, dass er es nicht fassen kann, was sich ein paar Stunden zuvor vor seiner Haustür ereignet hat. Er ringt nach Worten. Eine Frau, die mit ihrer Tochter gerade von einem Arztbesuch kommt, schüttelt den Kopf: „Wie kann ein Familienvater so etwas tun? Es ist unfassbar und einfach nur dramatisch. Mir fiel es schwer, heute hierherzukommen, nachdem ich die Bilder im Fernsehen gesehen hatte.“
Eine andere Passantin kann es ebenfalls nicht fassen: „Ich komme gerade aus einer Versammlung. Man kann sich das nicht vorstellen, dass einer zu so einer Tat fähig ist. Er muss diese ja irgendwie geplant und der Frau regelrecht aufgelauert haben. Mir fehlen die Worte“, so die Frau weiter, die die Tat des Familienvaters nicht nachvollziehen kann. Einem jungen Mann, der sich gerade in der Nähe des Krankenhauses mit einem Bekannten unterhält, steckt der Schock ebenfalls noch in den Gliedern: „Es ist schlimm, dass Menschen so weit kommen und eine solche Tat begehen. Das macht mir Angst. In der Form gab es das ja noch nicht hier bei uns in Luxemburg. Wenn so was passiert, geht einem vieles durch den Kopf“, sagt der Mann.
Nach den dramatischen Ereignissen wird es schwer werden in Wiltz, das mittlerweile etwas mehr als 7.000 Einwohner zählt, wieder von heute auf morgen zum Alltag zurückzukehren. „So etwas bleibt haften und ist schwer für uns zu verkraften. Und das Schlimme ist, dass man dagegen keine Handhabe hat“, sagt Frank Arndt. Dem Vernehmen nach ist der 47-jährige Familienvater bislang nicht auffällig gewesen. Bis zu jener Kurzschlussreaktion am 2. Januar 2019.
Warum nicht gleich in die Wiltzer Klinik?
Nach dem tragischen Vorfall, der sich am Mittwoch vor der Wiltzer Klinik abgespielt hat (siehe unsere gestrige Ausgabe und den nebenstehenden Artikel), fragen sich viele, warum die schwer verletzten Opfer mit Ambulanzen bzw. gleich mit zwei Rettungshelikoptern in das Klinikum in Ettelbrück geflogen werden mussten, obwohl sich das Unglück – wie erwähnt – fast vor der Eingangstür des Wiltzer Krankenhauses ereignete.
Die Antwort liegt in der Organisation der beiden genannten Kliniken. Im Rahmen der Fusion der beiden Häuser zum „Centre hospitalier du Nord“ (ChdN) wurden die einzelnen Bereiche vor Jahren völlig neu organisiert. So verfügt die Wiltzer Klinik wohl noch über eine Poliklinik und eine Notaufnahme sowie über einen OP-Block (drei Säle für geplante Eingriffe), doch die schwer- bzw. polytraumatisierten Verletzten nimmt das ChdN in den allermeisten Fällen im Ettelbrücker Krankenhaus auf (als Polytrauma bezeichnet man in der Medizin mehrere gleichzeitig erlittene Verletzungen verschiedener Körperregionen, wobei mindestens eine Verletzung oder die Kombination mehrerer Verletzungen lebensbedrohlich ist).
„An unserem Standort in Ettelbrück sichert das ChdN an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr den Bereitschaftsdienst für den Norden des Landes ab. Deshalb hat die Ettelbrücker Klinik auch einen größeren Stab an spezialisierten Medizinern, auf den sie für den Bereitschaftsdienst zurückgreifen kann. Das erleichtert natürlich die Absicherung einer ärztlichen Bereitschaft, die in Wiltz nicht immer gegeben ist“, war am Donnerstag aus dem ChdN zu hören. Vergessen sollte man zudem nicht, dass der SAMU-Arzt die Entscheidung trifft, wohin die Verletzten transportiert werden. Abgesehen von den Verletzungen spielen bei dieser Entscheidung die zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Notfallteams sowie freie OP-Säle in den einzelnen Kliniken eine wichtige Rolle.
Mordanklage
Der Pkw-Fahrer, der am Mittwoch in Wiltz in der rue Grande-Duchesse Charlotte fünf Menschen, darunter seinen zweijährigen Sohn, verletzt hat, wurde am Donnerstag dem Untersuchungsrichter in Diekirch vorgeführt. Der zweijährige Junge erlag wenig später seinen Verletzungen. Der Untersuchungsrichter bestätigte, dass der 47-jährige Mann wegen versuchten und vorsätzlichen Mordes sowie des versuchten und vorsätzlichen Totschlags angeklagt wird. Beide Vergehen können mit lebenslanger Haft bestraft werden.
Die Ermittlungen dauern an, wie die Staatsanwaltschaft Diekirch weiter mitteilt. Der Alkoholtest war negativ, die Tat wurde nicht unter Alkoholeinfluss begangen. Der Täter wurde bislang wegen Gewaltdelikten nicht straffällig bzw. auffällig. Drei der Opfer, die 42-jährige Ex-Partnerin des mutmaßlichen Täters, eine 24-jährige Frau und ein 47-jähriger Mann sind nach wie vor im Krankenhaus. Ihr Gesundheitszustand gilt als stabil, wie die Staatsanwaltschaft weiter mitteilt. Das zehn Monate alte Mädchen der 24-jährigen Frau konnte das Krankenhaus inzwischen verlassen.
Amoklauf ist nicht gleich Amoklauf: Das sagt der Psychologe
Ein Pkw-Fahrer fährt in eine Gruppe von Menschen auf der rue Grande-duchesse Charlotte. Dort gehen gerade zwei Mütter mit ihren Kindern spazieren, neben ihnen ist ein Passant. Der Fahrer verletzt alle – darunter ein Kind von zwei Jahren so schwer, dass es später seinen Verletzungen erliegt. Wie sich herausstellt, ist es sein eigenes. Unter den Verletzten ist auch seine Ex-Partnerin. Viele fragen sich, wie konnte es so weit kommen? Der Versuch, etwas Unerklärliches zu erklären.
Tageblatt: War das am Mittwoch ein Amoklauf?
Marc Stein: Da muss man vorsichtig sein. Es gibt zwei Definitionen von Amokläufen. Das hängt stark vom Planungsgrad ab. Wenn Menschen die Idee dazu lange Zeit im Kopf haben, ist das meistens genauestens geplant. Es gibt aber auch diejenigen, bei denen der Amoklauf eher ein Zufallsprodukt ist. Es kam alles zusammen und dann hat es sich so ergeben. Was das am Mittwoch war, müssen die Ermittlungen zeigen. Fragen wie: hat er gewusst, dass die Frau mit dem Kind um diese Uhrzeit an diesem Ort ist, um die Tat dann auszuführen? Oder hat er sie gesehen und dann die Tat spontan ausgeführt? All das ist bislang nicht geklärt.
Können Amokläufe verhindert werden?
Das ist in allererster Linie eine Beziehungstat. Die Statistiken in Luxemburg sprechen eine deutliche Sprache, wenn es um Mord und Totschlag geht. Die meisten Delikte sind Beziehungstaten. Auch da müssen die Ermittlungen Details ans Licht bringen. Zu vieles ist ungeklärt. Ob der Mann wissentlich in Kauf genommen hat, auch andere Menschen zu verletzen, wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, wie sich alles entwickelt hätte, wenn seine Ex-Partnerin allein gewesen wäre.
Sind solche Täter sich in dem Moment bewusst, was sie tun?
Wenn es durchgeplant ist, wir sprechen da von „kalter Wut“, dann sind sie sich dessen bewusst. Es gibt Täter, die bringen ihre Ehefrauen um und stellen sich anschließend ganz ruhig der Polizei. Für sie ist die Haft die logische Konsequenz ihres Tuns. Ist es nicht geplant, sondern passiert spontan – wir sprechen dann von „heißer Wut“ –, ist es meistens eine Kurzschlussreaktion. Auch dazu kann man zum derzeitigen Stand der Ermittlungen nichts sagen. Wir kennen die Vorgeschichte der Familie ja nicht. Ob der Mann den Tod seines Kindes bewusst in Kauf genommen hat, wissen wir nicht. In jedem Fall wird der Täter nun damit leben müssen.
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