Bettelverbot / Arme und Roma werden unter Generalverdacht gestellt
Unter den Bettlern in Luxemburg wie auch in anderen Ländern Europas befinden sich viele Roma, die aus dem Osten und Südosten des Kontinents zugewandert sind. Und die häufig einem Generalverdacht und dem weit verbreiteten Antiziganismus ausgesetzt werden, wie die Diskussion über ein Bettelverbot zeigt.
Die Ampel springt auf Rot. Pedro setzt sich in Bewegung, so gut es geht. Eilig humpelt er zu dem ersten Auto an der Kreuzung, gibt dem Fahrer ein Zeichen. Dieser schaut ihn an und versucht den Mann mit der Gehbehinderung zu ignorieren. Ich überquere die Straße in Pedros Richtung. Als dieser mich sieht, lässt er von der Schlange wartender Autos ab und kommt mir entgegen. Gleich beginnt er seine Geschichte zu erzählen, die er schon tausendfach erzählt hat, nachdem er darauf hingewiesen hat, so gut wie nicht Französisch zu sprechen: „Meine Mutter ist im Krankenhaus. Sie hatte einen Schlaganfall und liegt noch im Koma“, sagt er in einer Mischung aus Italienisch und Spanisch. Er sei mit seiner Familie aus Rumänien gekommen, erklärt er. Auf die Frage, wo er wohnt, entgegnet der 28-Jährige: „Auf der Straße vor dem Bahnhof.“
Auch seine Schwester Maria, die auf der anderen Seite der Kreuzung bei den Autos steht, die aus Gasperich kommen. Die Familie sei schon seit einiger Zeit in Luxemburg. So wie viele Roma, die vor allem aus Ländern wie Bulgarien, Rumänien, Ungarn und der Slowakei nach Westeuropa kommen. Einige betteln oder schicken ihre Kinder zum Betteln, manche sind sogar kriminell und entsprechen ganz dem Klischee vieler Leute, die selbst keine Roma kennen und nur von ihnen gehört haben. Manche Klischees stimmen. Auch die von den Eltern, die sich von ihren Kindern, die auf Raubzug in bürgerliche Wohngegenden gehen, aushalten lassen oder von den jungen Männern, die ihre Schwestern zur Prostitution zwingen. Doch das sind nur einige Beispiele der gesellschaftlichen Verwahrlosung. Wie das von einer Familie, die mit dem körperlichen Gebrechen ihrer Angehörigen Geld verdient. Aus ihnen ist ein Sammelsurium von Vorurteilen entstanden. Die Wahrheit ist viel komplexer – und sie ist als gesellschaftliche Realität Folge einer jahrhundertelangen Unterdrückung, denen die Roma in Europa ausgesetzt waren und noch immer sind. Und die unter den Nazis bis zum Genozid an Sinti und Roma führte.
Vom Elend in der Heimat …
Als größte Minderheit leben sie in den genannten Ländern wie etwa Rumänien in verwahrlosten Siedlungen am Rande der Städte oder in kleinen abgelegenen Dörfern. Unter den Roma ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch, unter ihren Kindern ist der Anteil derer, die zur Schule gehen, besonders niedrig. Und ihre Lebenserwartung liegt deutlich unter dem Bevölkerungsdurchschnitt. „Ich bin mit der Behinderung zur Welt gekommen“, sagt mir Pedro. „In unserem Dorf waren wir immer arm.“ Sicherlich gebe es auch reiche Roma, sagt er mir nach einiger Zeit, als unser Gespräch schon fortgeschritten ist. Aber das sind nur wenige. „Das sind nicht alles Diebe. Viele sind durch Schrotthandel reich geworden“, sagte mir einmal ein alter Romni, der mit seiner Familie in der Nähe von Mont-Saint-Martin wohnte. „Aber es gibt sicherlich auch solche, die es mit Diebstahl zu etwas gebracht haben.“ Von schillernden Roma-Königen, wie schon in Medien berichtet, kann keine Rede sein.
Pedro gehört sicherlich nicht dazu. Er ist einer der Armutsmigranten, die auch hierzulande keine feste Unterkunft finden und selbst im Winter im Freien schlafen. „Ganze Familie leben so auf der Straße“, sagt mir Christian Körner, Streetworker bei Inter-Actions. Ihm sind einige von ihnen bekannt, die vor allem in der Oberstadt betteln und sich dort abends zum Schlafen legen. „Sie sind eine Zeitlang hier und gehen dann wieder für ein paar Wochen oder Monate nach Rumänien zurück. In Ferien, wie sie sagen.“ Er berichtet auch von Familien, die betteln. Manche seien in der Tat schwer zu erreichen. Wenn es nicht die sprachliche Barriere ist, dann ist es ein Schweigen aus Angst und aus Argwohn. Denn die Ausgrenzung hat die Roma geprägt.
Bei der „Stëmm vun der Strooss“ habe ich einige Roma getroffen, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Ein 51-jähriger Romni erzählte mir, dass er in Rumänien auf dem Bau gearbeitet hat. Einfache Hilfstätigkeiten ohne Absicherung. Von Tag zu Tag malocht und von der Hand in den Mund gelebt. Dann sei er mit seiner Frau nach Luxemburg gekommen. „Ich würde hier gerne arbeiten“, so der dreifache Familienvater. „Aber ohne feste Adresse finde ich nichts.“ Ihre angeblich traditionellen Tätigkeiten wie Korbflechten oder Scherenschleifen – ebenso aus der Not geboren. Dass aus der Gruppe der Sinti und Roma ganze Musikerfamilien entstanden sind, die ein ganzes Genre prägten, war dieses Jahr zu erleben, als wieder im lothringischen Grostenquin rund 30 Kilometer südlich von St. Avold mehrere zehntausend Roma auf einem früheren Militärflugplatz zusammenkamen und für einige Tage eine ganze Wohnwagenstadt entstand.
Vom angekündigten Bettelverbot des neuen Innenministers Léon Gloden weiß Pedro nichts. Dadurch würde man den Menschen, die so gut wie nichts haben, auch noch die letzte Gelegenheit wegnehmen, an Geld zu kommen, sagt Christian Körner. Er kennt einige der Familien. Wie etwa jene, von denen schon die Mutter gebettelt hat und jetzt die Töchter es tun. Eine der Töchter treffe ich, als ich zum Bahnhof gehe. Einer ihrer Brüder ist bei ihr. Während die junge Frau zusammengekauert, vor sich ein Becher für die Münzen, in der Passerelle auf dem Boden sitzt, entfernt er sich telefonierend. Ein Mann wirft zwei Euro in den Becher. „Ich gebe immer wieder etwas, weil die Leute sonst nichts haben“, erklärt der Luxemburger. „Auch wenn es durchaus sein kann, dass die junge Frau am Ende des Tages ihr Geld abgeben muss.“
Auf dem Bahnhofsgelände ist Betteln verboten, bestätigt mir ein Mann von einer Sicherheitsfirma. „Alles, was außerhalb stattfindet, entzieht sich unserem Einfluss“, sagt er und erklärt, dass gerade in den Wintermonaten immer wieder Obdachlose zum Bahnhof kommen, um hier zu übernachten. „Unter der Woche müssen sie draußen schlafen, an den Wochenenden können sie herein. Wir drücken da ein Auge zu.“ Von den angeblichen Bettlerbanden wisse er nichts, sagt der Franzose. „Ich weiß nur, dass einige der Roma aus Frankreich kommen, sich am Bahnhof von Bettemburg verteilen und in alle Richtungen verstreuen.“ Dabei handele es sich um etwa ein halbes Dutzend bis ein Dutzend Personen. Organisierte Kriminalität? „Ach was“, so der Security-Mann, „das ist eher Gruppendynamik.“
… zum Elend in Luxemburg
Wenn das Polizeireglement der Hauptstadt in Kraft tritt, wird das Betteln vor allem im Zentrum zwischen sieben Uhr morgens und zehn Uhr abends verboten sein, nachdem Gloden die Entscheidung seiner Vorgängerin Taina Bofferding (LSAP) gekippt hat. Diese hatte vor gut einem halben Jahr gegen das Polizeireglement entschieden. Ein solches Verbot könne nur dann gelten, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestünde. „Wenn eine Person mit einem Becher dasitzt“, so die LSAP-Abgeordnete, „ist dies noch lange kein Grund, sie in ihrer Freiheit einzuschränken.“ Eine Gemeinde könne per Reglement nicht weiter gehen als die nationale Gesetzgebung, sondern müsse mit dieser konform sein. Bofferding kritisierte bei der Pressekonferenz ihrer Partei: „Der aktuelle Innenminister ist mehr Richter als Minister.“ Er könne nicht in laufende Prozeduren eingreifen, bezogen auf die ausstehende Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Außerdem verstoße ein allgemeines Verbot des Bettelns gegen die Menschenrechte.
Bofferdings Partei- und Abgeordnetenkollege Dan Biancalana, zudem Bürgermeister von Düdelingen, betonte zudem, seine Partei könne Glodens Entscheidung weder juristisch noch gesellschaftspolitisch gutheißen. Die Regierung gehe gegen die Schwächsten unserer Gesellschaft vor. „Die Regierung hat angekündigt, die Armut zu bekämpfen“, so Biancalana. „Die Armut wird so vielleicht im öffentlichen Raum weniger sichtbar, aber sie wird nicht verschwinden. Aus den Augen, aus dem Sinn.“ (*) Und der studierte Kriminologe fügte hinzu, dass die Stärke eines Rechtsstaats sich gerade darin zeige, „wie man mit den Schwächsten umgeht“. Dass gegen das Betteln als Ausdruck der Armut nicht repressiv, sondern präventiv vorgegangen werden müsse, brachte auch die hauptstädtische Gemeinderätin Maxime Miltgen (LSAP) zum Ausdruck: „Die betroffenen Menschen werden unter Generalverdacht gestellt“, sagte sie. Ein Verdacht, der für Pedro und seine Schwester nichts Neues ist. Sie sind seit jeher Opfer eines weit verbreiteten Antiziganismus. „Seit unserer Geburt“, so der Romni, „werden wir für alles verdächtigt.“
*) Erinnert sei an den Song der US-Punkband Dead Kennedys: „Kill the Poor“
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Der Holocaust an Sinti und Roma wird Porajmos genannt. Auch in dem damals durch klerikale rassistische Fremdenfeindlichkeit geprägten Luxemburg war der Umgang mit „Zigeunern“ kein Nebenkriegsschauplatz. Ich schließe mich den Hoffnungen von Herrn Zoni WEISZ an.
▪ Zur Vernichtung freigegeben. Von Janka KLUGE, jungewelt.de. (10.12.20229 Vor 80 Jahren begann mit dem „Auschwitz-Erlass“ die Deportation der Sinti und Roma durch die Nazis. Für die Nazis gab es keine Zweifel an der angeblichen „Minderwertigkeit“ der Sinti und Roma. Infolge des „Gesetzes zum Schutz der Volksgesundheit“ wurden ab 1933 viele Sinti und Roma zwangssterilisiert. 1935 wurden das „Blutschutzgesetz“ und das „Ehegesundheitsgesetz“ auf die in Deutschland lebenden Sinti und Roma angewandt. (…) 1938 wurden zahlreiche Sinti und Roma bei der „Aktion Arbeitsscheu“ als sogenannte „Asoziale“ in die Konzentrationslager gebracht. Am 8. Dezember 1938 gab Heinrich HIMMLER den „Runderlass zur Bekämpfung der Zigeunerplage“ heraus. Nach dem Erlass sollten von den einzelnen Polizeistellen alle Menschen, die als sogenannte Zigeuner galten, systematisch erfasst werden. Ähnlich wie bei den jüdischen Menschen wurden auch „Mischlings“-Kategorien eingeführt. „Mischlinge“ sollten genauso erfasst werden wie Menschen, die nach „Zigeunerart“ durch Deutschland zogen. Ab 1939 durften sie ihren Wohnort nicht mehr verlassen. (…) Bei den Massakern der Einsatzgruppen gehörten die Sinti und Roma neben der jüdischen Bevölkerung zu denen, die sofort ermordet wurden. Insgesamt, schätzt der „Zentralverband der Sinti und Roma“, sind durch die Faschisten fast 500.000 Sinti und Roma direkt oder indirekt getötet worden. Nur zwischen 4.000 und 5.000 von ihnen überlebten den Faschismus. (…) Am 16. Dezember 1942 befahl Heinrich HIMMLER, Reichsführer der SS und der Polizei, dass alle „Zigeuner“ in ein Konzentrationslager eingeliefert werden sollen. Der Erlass selbst ist bis heute nicht gefunden worden. Lediglich eine Ausführungsbestimmung des Reichskriminalpolizeiamts vom 29. Januar 1943 ist überliefert. Es war der Auftakt zur Deportation von ungefähr 23.000 Menschen nach Auschwitz. Die Anordnung zur Deportation der Sinti und Roma der „Donau- und Alpenreichsgaue“ erfolgte Ende Januar 1943, für Elsass, Lothringen, Belgien, LUXEMBURG und die Niederlande Ende März 1943. Die meisten der Sinti und Roma wurden in das „Zigeunerlager“ nach Auschwitz-Birkenau gebracht. Das Lager befand sich am Rand von Birkenau ganz in der Nähe der Krematorien. Es war 600 Meter lang und 120 Meter breit. Auf diesen wenigen Metern mussten sich mehr als zehntausend Menschen zusammendrängen. (…) Den wenigen überlebenden Sinti und Roma wurden noch über Jahrzehnte die Anerkennung als Opfer des Faschismus versagt. Erst in den 1980er Jahren fand ein Umdenken in der Politik statt. Der heutige 85jährige Zoni WEISZ sagte bei der Einweihung des Denkmals zur Erinnerung an die ermordeten Sinti und Roma in Berlin am 2. November 2012: „Wir hoffen, dass Faschismus, Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus nicht die Form annehmen, die sie in den 1930 Jahren hatten.“ (…)
MfG
Robert Hottua
Sicher ein gut gemeinter Artikel, aber wieso kommt man dann nicht umhin, weiter Vorurteile zu verbreiten.
Zitat: „‚Manche Klischees stimmen. Auch die von den Eltern, die sich von ihren Kindern, die auf Raubzug in bürgerliche Wohngegenden gehen, aushalten lassen oder von den jungen Männern, die ihre Schwestern zur Prostitution zwingen. Doch das sind nur einige Beispiele der gesellschaftlichen Verwahrlosung.“
Wie wäre es mit: „Manche Klischees stimmen. So z.B., dass einige x regelrechte Schlitzohren sind und andere übers Ohr hauen. ….“
Solche oder ähnliche Behauptungen gegenüber irgendeiner anderen Gruppe würden mit Sicherheit zu einer Verleumdungsklage zu führen, hier scheinen sie aber dazu angetan, zu beweisen, dass man nicht naiv oder gar voreingenommen ist.
Einfach nur schrecklich!
„Manche Klischees stimmen. Auch die von den Eltern, die sich von ihren Kindern, die auf Raubzug in bürgerliche Wohngegenden gehen, aushalten lassen oder von den jungen Männern, die ihre Schwestern zur Prostitution zwingen. Doch das sind nur einige Beispiele der gesellschaftlichen Verwahrlosung.“
Eine solche oder ähnliche Aussage gegenüber irgendeiner anderen Gruppe wäre dazu angetan, eine Verleumdungsklage einzubriegen. Hier scheint sie jedoch dazu zu dienen, zu beweisen, dass der Autor objektiv und nicht einseitig und vor allem nicht positiv gegenüber von Sinti und Roma voreingenommen ist.
Trotzdem handelt es sich um nichts weitere als üble Nachrede und gehört nicht in eine Zeitung, die sich fortschrittlich wähnt!
Guten Tag Herr Joors,
ich finde, Sie sprechen ein wichtiges Thema an: die Toxizität von Worten. Mir fiel bei der Lektüre Ihrer Kommentare gestern abend die Sprache der päpstlichen Bistumszeitung „Luxemburger Wort“, die im Untertitel den Anspruch auf Wahrheit und Recht führt, ein: „Um eine Sozialreform durchzuführen, wie Herr Hitler sie plant, und um überhaupt eine Sozialreform im christlichen Sinn zu verwirklichen, muss erst die Masse aus der psychosenhaften Denkart, in die sie der Sozialismus und der Liberalismus hineingeführt haben, herausgelöst werden. (…) Diese Nacht habe ich mir dann mit der Lektüre zum Thema „Massenbewegungen“ um die Ohren geschlagen. Ich bin bei Frau Margret BOVERI und Herrn Eric HOFFER hängengeblieben. Niederträchtig-bösartige sprachliche und charakterliche Abwertungen von Menschen und Menschengruppen sind allen Kriegen seit Menschengedenken vorausgegangen. Die Apostel der Bergpredikt haben sich da nicht zurückgehalten. Von diesem Abwertungsfanatismus kann ich beim Artikel von Herrn KUNZMANN nichts finden.
MfG
Robert Hottua