Grenzgemeinden / Interview mit dem Bürgermeister der reichsten Gemeinde Belgiens
Josy Arens (72, Les Engagés) hat für die Grenzgemeinde Attert viel erreicht. Der ehemalige Pferdezüchter und Landwirt ist seit 30 Jahren in der Politik – auf kommunaler wie nationaler Ebene. Hohe Standards für Naturschutz, ein striktes Baureglement und ein pädagogischer Sonderweg für die Schulkinder prägen die reichste aller belgischen Gemeinden.
Tageblatt: Attert wirkt wie ein Vorzeigeort des gehobenen Mittelstandes. Schmucke Einfamilienhäuser, gute Infrastruktur, Geschäfte … Ihre Gemeindekasse muss gut gefüllt sein, oder?
Josy Arens: Als ich vor 30 Jahren hier als Bürgermeister und Delegierter in Brüssel anfing, hatte Attert mit seinen 17 Dörfern gerade mal rund 3.200 Einwohner. Heute sind es rund 6.000, darunter wenig Luxemburger. Hierhin sind viele Belgier aus Brüssel, Liège oder Charleroi gezogen, in der Mehrzahl gut ausgebildete Führungskräfte, die in Luxemburg arbeiten. Wir sind gemessen an dem, was die Einwohner verdienen, die reichste Gemeinde in Belgien. 60 Prozent der Bevölkerung arbeiten in Luxemburg.
Trotzdem scheint gerade Attert viel zu bieten zu haben.
Wir sind seit 1994 Naturpark und legen Wert auf strikten Naturschutz. Dessen Gründung habe ich schon als einfacher Gemeinderat forciert. Durch die Nähe zum Arbeitsort Luxemburg und die Natur und Ruhe haben viele beschlossen, hier Land zu kaufen und zu bauen. Der Einsatz von Glyphosat ist auf dem gesamten Gemeindegebiet verboten und wir machen aus Tierschutzgründen keine Feuerwerke.
Große Apartmentblocks gibt es hier aber nicht?
Das haben wir in der Gemeinde verboten. Wir haben ein striktes Baureglement für diese ländliche Gemeinde. Das ist eines der Dinge, die ich initiiert habe. Die Notare waren gar nicht froh darüber. Deswegen haben wir keinen Ausverkauf von Land. Es gibt noch Land, aber natürlich ist es hier auch teuer.
Und was ist hier noch anders?
Wir haben hier eine Grundschule und eine „Ecole secondaire à pédagogies alternatives“. Wir haben uns vorher das Schengen-Lyzeum angeschaut und haben immer noch Kontakte dorthin. Wir halten die Schüler an, sich einzubringen und nicht wie beim Frontalunterricht still zuzuhören. Dabei kommen außergewöhnliche Ergebnisse zustande und sie lernen als erste Fremdsprache Deutsch.
Ist das sonst in Belgien nicht so?
Normalerweise lernen sie Flämisch. Aber was sollen sie hier in unmittelbarer Nachbarschaft zu Luxemburg damit? Das war ein harter persönlicher Kampf, das durchzusetzen. Und in Brüssel ist man nach wie vor nicht glücklich damit.
Wieso heißt das Rathaus eigentlich „Centre Robert Schuman“?
Es gibt hier Angehörige von Robert Schuman. In unserem Archiv existiert eine Heiratsurkunde, die der Vater von Robert Schuman als Trauzeuge unterschrieben hat. Zu dem Zeitpunkt war er schon Rentner.
Was bedeutet die Nähe zu Luxemburg für Sie als Bürgermeister?
Wir arbeiten sehr eng mit Luxemburg zusammen, vor allem mit den Gemeinden Redingen, Ell, Préizerdaul und Beckerich. Deshalb ist hier Deutsch als Fremdsprache auch so wichtig. Da geht es um die Zukunft unserer Kinder. Die Gemeinde hat während meiner Amtszeit durchgesetzt, dass das überhaupt geht. Der Unterricht wird aus der Gemeindekasse von der ersten bis zur vierten Klasse finanziert.
Wie machen Sie das denn? Die Einwohner zahlen ihre Steuern in Luxemburg …
Wir bekommen ja einen Ausgleich von Luxemburg. Das war meine erste parlamentarische Intervention, als ich Abgeordneter in Brüssel wurde – übrigens zur gleichen Zeit wie Bürgermeister. 1995 waren wir als heutige Partei „Les Engagés“ in der Opposition. Ich habe den Zuzug von neuen Einwohnern gesehen. Unsere Schule war zu klein, die Wasserversorgung hätte nicht mehr ausgereicht – ganz zu schweigen von der Kläranlage. Wir haben zuerst Kredite aufnehmen müssen, das geht aber nicht unendlich, um die Ansprüche einer wachsenden Bevölkerung zu befriedigen. Heute geht die Entwicklung in eine andere Richtung …
Inwiefern?
Wir haben mittlerweile Familien hier wohnen, die nicht mehr in der Gemeinde gemeldet sind.
Wieso?
Das belgische Finanzamt kontrolliert so scharf, dass sie in Luxemburg eine Meldeadresse haben und Attert nur noch der Zweitwohnsitz ist. Das heißt, richtig gerechnet liegen wir mit einem jährlichen Einkommen pro Einwohner von rund 40.000 Euro im Median jetzt sogar noch höher. Die Zahl hat das statistische Landesamt 2021 errechnet.
Treten Sie zu den Gemeindewahlen im Oktober 2024 noch mal an?
Wenn man in der Gemeinde etwas verändern will, muss man sich engagieren. Deswegen habe ich vor 30 Jahren die Wahl zum Bürgermeister angenommen. Naturpark, Schule … Ich habe viel bewegt, darüber bin ich sehr glücklich. Aber jetzt bin ich 72 und habe Projekte privater Natur.
Reichtum und Armut
Eine Befragung 2021, die das Statistische Landesamt Statbel durchgeführt hat, hat ergeben, dass Attert vor Kraainem, Messancy, Tervuren und Woluwe-Saint-Pierre die reichste Gemeinde im Land ist. Grundlage ist das jährliche Einkommen pro Erwerbstätigen im Median. Die ärmsten Gemeinden sind Koekelberg, Farciennes, Anderlecht, Molenbeek und Schlusslicht Saint-Josse mit einem jährlichen Medianeinkommen von rund 18.300 Euro pro Erwerbstätigen.
Grenzgemeinden-Serie
Wie erleben unsere Nachbarn die Nähe zu Luxemburg? Das Tageblatt hat in sechs Gemeinden der Nachbarländer nachgefragt. Jeweils Samstag können Sie das Interview mit einem Bürgermeister aus der Grenzregion lesen.
Bisher erschienen sind Arlon, Echternacherbrück, Villerupt und Mont-Saint-Martin.
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- Verlust oder Chance? Wenn jeder Tag ein Sonntag ist, helfen Pensionscoaches - 2. November 2024.
- „Habe eine Welt kennengelernt, die ich so nicht kannte“ – Porträt einer Betroffenen - 29. Oktober 2024.
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