Internet / Auch in Luxemburg äußern Jugendliche vermehrt Suizidgedanken wegen Cybermobbing
Mobbing im Internet ist ein gesellschaftliches Problem, das man nicht unterschätzen sollte. Kinder und Jugendliche, die von Cybermobbing betroffen sind, haben keine Verschnaufpause und können dadurch keine Distanz zu den Tätern aufbauen. Nicht selten entstehen Suizidgedanken. Wir haben bei den Diplompsychologinnen Sally Stephany und Aline Hartz vom „Kanner-Jugendtelefon“ (KJT), das Partner der staatlichen Initiative für Informationssicherheit „Bee Secure“ ist, nachgehakt.
Tageblatt: In knapp zwei Wochen, am 11. Februar, findet der Safer Internet Day statt. Cybermobbing ist ein Thema, das dort immer wieder auftaucht. Wie viele Jugendliche melden sich bei euch wegen Cybermobbing?
Sally Stephany: Die Zahlen sind nicht absolut, weil Mobbing und Cybermobbing in viele Themenbereiche einfließen können. 2019 erhielt die „Bee Secure Helpline“ 26 Anrufe, das Elterntelefon 13, das KJT unter der Nummer 11 61 11 wurde 23-mal angerufen und sechsmal wandten sich Betroffene an die Online-Hilfe.
Aline Hartz: Unsere ehrenamtlichen Mitglieder müssen bei einer Meldung abwägen, ob es sich um Konflikte zwischen Jugendlichen oder um Mobbing handelt. Deshalb kann es vorkommen, dass Zahlen in anderen Kategorien auftauchen. Eine Kategorie heißt zum Beispiel allgemeiner Missbrauch und Gewalt. Dort erhielten wir 114 Anrufe im vergangenen Jahr. Mobbing und Cybermobbing machten mehr als die Hälfte der Anrufe in dieser Kategorie aus. Die Zahlen sind in etwa gleich mit jenen von 2018. Von Mobbing und Cybermobbing sind Mädchen eher betroffen als Jungs.
Gibt es auch Jugendliche, die etwas melden, weil sie helfen wollen?
A.H.: Wir haben Freunde von Opfern, die uns kontaktieren. Diese Freunde trauen sich oft nicht, einzuschreiten, da sie Angst haben, damit alles noch schlimmer zu machen. Es ist immer von Vorteil, wenn ein Mobbing-Opfer jemanden hat, der zu ihm hält. Dann kann man gemeinsam dagegen vorgehen, um aus dem Teufelskreis herauszukommen.
Was ist das für ein Teufelskreis?
A.H.: Es ist eine Situation, in der man Angst hat, sich schämt, hilflos ist und sich unsicher fühlt. Genau diese Faktoren bewirken, dass es schwierig wird, aus dem Teufelskreis auszubrechen, und sich nicht traut, Hilfe zu holen. Die Schwäche rührt daher, dass in einer Mobbing-Situation die Grundbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen nicht erfüllt werden. Dabei handelt es sich um Sozialbedürfnisse, Anerkennung, Selbstverwirklichung, Gleichheit, Schutz, Ich-Bedürfnisse und Gruppenzugehörigkeit. Wenn man ausgeschlossen wird, fühlt man sich alleine. Weil man sich nicht gut fühlt, steht man unter Stress.
Der Jugendliche fragt sich ständig, wann die nächste SMS kommt. Oft kommen solche Nachrichten anonym.Diplompsychologin KJT/Bee Secure
Der Jugendliche fragt sich ständig, wann die nächste SMS kommt. Oft kommen solche Nachrichten anonym. Das Opfer weiß allerdings, dass es beispielsweise um seine Kleidung geht. Dann wird schnell klar, dass es sich bei den Tätern um Jugendliche handelt, die es kennt, aber es weiß nicht, um wen es sich genau handelt. Dieser Stress kann unter anderem Schlaf- und Essstörungen auslösen.
Zu Hause ist kein sicherer Ort mehr. Früher konnten die Jugendlichen dort, fernab der Schule, durchatmen.Diplompsychologin KJT/Bee Secure
Kann man Mobbing und Cybermobbing überhaupt voneinander trennen?
S.S.: Nein, man kann beides nicht mehr so strikt trennen, weil es oft parallel passiert. Fast jeder Jugendliche in Luxemburg hat Internetzugang und ein eigenes Handy. Wenn das Kind oder der Jugendliche nicht von sich aus sagt, ich lege das Handy weg, ich schaue nicht mehr darauf oder blockiere die Nachrichten, dann ist die Trennung nicht da. Und zu Hause ist kein sicherer Ort mehr. Früher konnten die Jugendlichen dort, fernab der Schule, durchatmen.
Ab welchem Alter haben Kinder denn ein Handy? Können Sie das aus Ihren Meldungen ablesen?
S.S.: Das ist sehr unterschiedlich. Das ist teils schon sehr früh, im Zyklus 4, also im fünften oder sechsten Schuljahr, teils auch schon im Zyklus 3 (dritte und vierte Klasse). Bee-Secure-Trainings werden schon in der Grundschule angefragt. Manche bekommen ein Handy als Geschenk, wenn sie ins Lyzeum gehen, andere erhalten eins, wenn sie die Kommunion machen. Und wenn es nicht das Handy ist, dann ist es das eigene Tablet. Kinder kommen schon sehr früh mit digitalen Medien in Berührung. Spätestens ab dem Moment ist Cybermobbing möglich.
Wie können sich Jugendliche dagegen schützen?
A.H.: Hier gilt das Motto: Was euch selber nicht gefällt, muss dem anderen auch nicht gefallen. Auf jeden Fall ist es immer besser, wenn man direkt reagiert und der Gewalt keine Chance lässt. Mobbing passiert meistens innerhalb eines Prozesses, in dem zuerst die Möglichkeiten getestet werden. Reagiert das Opfer nicht und andere Kinder oder Jugendliche ziehen mit, dann entsteht eine Dynamik, die sich in der Folge immer mehr festigt. Je weiter dieser Prozess fortschreitet, desto schwieriger wird es, da herauszukommen. Sobald etwas passiert, das eine Grenze überschreitet, sollte man Nein sagen und es stoppen. Oder sofort von jemandem Beistand bekommen, der Zivilcourage zeigt. Das gilt für online und offline.
Wenn ich nur zuschaue und nicht eingreife, dann gehöre ich auch zum Mobbingprozess. Wenn ich aber Nein sage, dann unterstütze ich das Opfer.
S.S.: Die Frage ist nicht nur, wie kann ich mich selber davor schützen, Opfer von Cybermobbing zu werden, sondern auch, wie kann ich meine Mitschüler davor schützen. Wenn ich nur zuschaue und nicht eingreife, dann gehöre ich auch zum Mobbingprozess. Wenn ich aber Nein sage, dann unterstütze ich das Opfer, das sich dadurch besser zur Wehr setzen kann.
Was können Eltern und Lehrer tun?
A.H.: Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher Eltern oder Lehrpersonal auf das Thema anspricht, müssen diese das ernst nehmen. Das ist sehr wichtig. Das Kind muss sich gestärkt darin fühlen, wenn es so etwas mitteilt. Eltern und Lehrer sollen hinschauen, wenn sie so etwas hören, und so schnell wie möglich reagieren. Jede Situation ist anders. Als Elternteil sollte man erwägen, ob man den Lehrer mit ins Boot nimmt oder ob es schon eine Straftat ist und man zur Polizei gehen sollte.
Es gibt mittlerweile sehr viele Dienstleistungen, die richtig gut funktionieren, zum Beispiel StopMobbing. Ein Kind oder Jugendlicher kann sich auch selber an StopMobbing wenden. Ein Mitarbeiter kann unter anderem mit in die Klasse kommen. Wenn das Mobbing hauptsächlich in der Schule stattfindet, gibt es eine Schulmediatorin, die mit ins Boot genommen werden kann. Es sollte so schnell wie möglich gegen das Problem angekämpft werden.
Oft wenden sich Jugendliche in Bezug auf Suizid an uns, aber es sind auch immer mehr sehr junge Menschen dabei, die Suizidgedanken äußern.
S.S.: Eltern und Lehrer können auch auf unsere Helplines aufmerksam machen, wenn das Opfer nicht mit ihnen darüber reden mag. Wichtig ist, dass der Betroffene weiß, dass es einen Ort gibt, wo er anonym darüber reden kann.
In Frankreich gab es ja den bekannten Fall der 13-jährigen Marion, in dem Cybermobbing zum Selbstmord der Jugendlichen führte. Der Film „Marion, 13 ans pour toujours“ beruht darauf. Ist das ein Einzelfall?
A.H.: Unsere Zahlen zum Suizid sind relativ hoch. 2018 hatten wir 35 Anrufe zum Thema Selbstmord, 2019 waren es 61. Die meisten dieser Meldungen erfolgten über die Onlinehilfe. Dort muss man nicht reden, sondern kann einfach schreiben. Oft wenden sich Jugendliche in Bezug auf Suizid an uns, aber es sind auch immer mehr sehr junge Menschen dabei, die Suizidgedanken äußern. Dass sie oder ihre Eltern sich hier melden, ist aber ein guter Schritt. Oft ziehen sich Betroffene zurück und wollen ihre Probleme nicht mitteilen.
Suizidgedanken haben vielfältige Ursachen. Cybermobbing kann dazu führen, weil sich Opfer isolieren. Sie verlieren das Vertrauen in die anderen, fühlen sich hilflos, ängstlich und geben sich teilweise selber die Schuld dafür. Oft kommen hier viele Faktoren zusammen. Eltern sollten genau hinzuschauen, wenn sie Änderungen am Verhalten ihres Kindes bemerken.
Das KJT betreibt gemeinsam mit Bee Secure auch die Stopline. Dort gingen im vergangenen Jahr über 3.000 Meldungen zu Videos oder Bildern über sexuellen Missbrauch ein. Über 2.500 davon haben sie als illegal eingestuft und weitergeleitet. Wie gehen Sie damit um, diese Masse an schrecklichen Bildern und Videos zu verarbeiten?
A.H.: Wir haben mittlerweile sehr gute Strategien entwickelt, um uns zu schützen. Bei der Analyse eines Bildes oder Videos beschränken wir uns auf ein absolutes Minimum. Daneben haben wir eine Beaufsichtigung, die uns dabei hilft, falls ein Bild uns doch mal länger im Kopf bleibt. Dort wird geschaut, wieso uns dieses bestimmte Bild so nahe geht. Auf diese Weise haben wir einen Ort, wo wir darüber sprechen können, um das Gesehene zu verarbeiten.
S.S.: Wir sind alle darin ausgebildet, zu wissen, nach welchen Charakteristika wir ein Bild klassifizieren. Das hilft uns dabei, über einen technisch und juristisch strukturierten Weg ein wenig Distanz zu bekommen. Damit das Analysieren der Bilder weniger belastend wird.
KJT und Bee Secure
Das „Kanner-Jugendtelefon“ (KJT) ist eine nationale Helpline für Kinder und Jugendliche. Wenn es Schwierigkeiten gibt, können Hilfesuchende das KJT entweder telefonisch über die 11 61 11 oder online auf kjt.lu kontaktieren. Die Anonymität wird stets gewährleistet. Daneben gibt es auch ein Elterntelefon. Das KJT wird von Caritas Luxemburg, dem Roten Kreuz, der „Fondation Kannerschlass“ und der „Ligue médico-sociale“ verwaltet. Eine Konvention mit dem Bildungsministerium besteht. In Zusammenarbeit mit Bee Secure betreibt das KJT sowohl die Bee Secure Helpline unter der Nummer 80 02 12 34 (Beratung und Orientierung zur sicheren Nutzung der neuen Medien) als auch die Bee Secure Stopline auf stopline.bee-secure.lu (Meldung illegaler Inhalte im Internet).
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