Philosophie / Auf der Spurensuche nach Habermas
Jürgen Habermas hat die großen politischen Debatten der vergangenen Jahrzehnte in der Bundesrepublik Deutschland begleitet und auch mitgeprägt. In dem Buch „Der Philosoph. Habermas und wir“ begibt sich der Kulturhistoriker Philipp Felsch auf Spurensuche nach einem der bedeutendsten Denker des vergangenen halben Jahrhunderts.
Philipp Felsch hat Jürgen Habermas, der im vergangenen Juni 95 Jahre alt geworden ist, zweimal in seinem Haus in Starnberg besucht. Mit dem ersten Aufeinandertreffen beginnt er sein Buch: „Der modernistische Bungalow, der einen bewaldeten Abhang überblickt, würde besser in die Hamptons als nach Oberbayern passen; in seinen Chinos und fabrikneuen Reeboks kommt mir der Hausherr wie ein Amerikaner vor. Trotz seines Alters macht Jürgen Habermas einen schlanken, beweglichen Eindruck.“ Der Autor gibt zu: „Ich kann nicht verhehlen, dass ich ihm mit Ehrfurcht gegenübertrete.“ Weiter schreibt er: „Der erste Eindruck war der eines Kosmopoliten. Dann haben wir uns zum Kaffeetrinken in die Couch-Ecke gesetzt und es gab Tee und Marmorkuchen, eine merkwürdige Mischung aus Kosmopolitismus und Provinzialität.“ Habermas’ Vision einer postnationalen, demokratischen Einstellung lasse sich als eine Art provinziellen Universalismus bezeichnen.
Der 1929 in Düsseldorf geborene Philosoph und Soziologe wächst während der NS-Zeit auf. Er gehört wie einige großen deutschen Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller zu jener Generation, die zum geistigen Wiederaufbau der Bundesrepublik beitrug: neben Ralf Dahrendorf und Wilhelm Hennis waren dies etwa Günter Grass und Martin Walser, Rudolf Augstein und Joachim Fest, Hans-Ulrich Wehler sowie die Brüder Hans und Wolfgang J. Mommsen. Was er mit dem zwei Jahre jüngeren Historiker Wehler gemeinsam hat, ist die Tatsache, dass beide in Gummersbach aufwuchsen. Beide kannten sich und besuchten dasselbe Gymnasium. Die Stadt ist den meisten Menschen als Heimat des berühmten Handballclubs bekannt. Habermas hat Gummersbach gleich nach dem Abitur verlassen.
Mit der NS-Zeit verbindet Habermas eigene traumatische Erfahrungen, was unter anderem auf seine Sprachbehinderung zurückzuführen ist. Er vermutet, dass seine Obsession für kommunikative Verständigung darin wurzele. Nach dem Abitur studiert er in Göttingen, Zürich und Bonn Philosophie, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie und promoviert in Bonn mit dem Thema „Das Absolute in der Geschichte“ über Schelling. Eine Zeitlang arbeitet Habermas als freier Journalist, bevor Theodor W. Adorno ihn 1956 als Assistent ans Frankfurter Institut für Sozialforschung holt. Mit einer 1952 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Polemik gegen Martin Heidegger wird Habermas bekannt.
Öffentlicher Diskurs und Konsens
Habermas habilitiert 1961 in Marburg mit der Schrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ und tritt eine außerordentliche Professur für Philosophie in Heidelberg an. Weiter arbeitet er eng mit dem Institut für Sozialforschung zusammen. 1964 tritt er seine Professur für Philosophie und Soziologie in Frankfurt an. Er wird zum Hoffnungsträger linker Studierenden und nimmt Anteil an deren Bewegung, übt jedoch auch Kritik. Als sie sich radikalisieren, wirft er deren Anführer Rudi Dutschke linken Faschismus vor. Der Philosophieprofessor will keinen Umsturz, sondern die Bundesrepublik von innen verändern. Die Schrift „Erkenntnis und Interesse“ (1968) macht ihn über den deutschen Sprachraum hinaus bekannt. Er behauptet, dass eine „radikale Erkenntniskritik nur als Gesellschaftstheorie möglich ist“.
Anfang der 70er Jahre wechselt Habermas nach Starnberg und leitet dort zusammen mit Carl Friedrich von Weizsäcker das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt. Nach Publikationen wie „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ (1973) und „Rekonstruktion des historischen Materialismus“ (1976) erscheint 1981 sein zweibändiges Hauptwerk „Theorie des kommunikativen Handelns“. Er entwickelt die universalistische Theorie einer idealen politischen Kommunikation. Für Habermas ist Kommunikation ein „herrschaftsfreier Diskurs“ und „zwangloser Zwang des besseren Arguments“. Und erst der öffentliche Diskurs ermöglicht den politischen Konsens.
Habermas bleibe „innerhalb eines bundesrepublikanischen Horizonts“, konstatiert Felsch. Die Welt außerhalb der deutschen Grenzen scheint kaum eine Rolle zu spielen. Allerdings übt Habermas Einfluss auf Philosophen weltweit aus, etwa auf chinesische Intellektuelle. Dies spart Felsch jedoch aus. Die Starnberger Zeit der 70er Jahre ist die soziologisch wohl wichtigste Phase in Habermas’ Schaffen. In Felschs Buch bleibt sie weitgehend ausgeblendet.
Anfang der 80er kehrt Habermas nach Frankfurt zurück und hält dort sowie am Collège de France in Paris und an der Cornell University in Ithaca eine Reihe von Vorlesungen. Daraus entsteht das Buch „Der philosophische Diskurs der Moderne“, in dem sich Habermas mit philosophischen Strömungen auseinandersetzt, die der Moderne kritisch gegenüberstehen. Er will das „unvollendete Projekt der Moderne“ gegen antiaufklärerische Strömungen verteidigen.
Nach der deutschen Wiedervereinigung widmet sich Habermas vornehmlich rechts- und staatsphilosophischen Themen. So erscheint 1992 „Faktizität und Geltung“, die „erste ausgearbeitete Rechtsphilosophie aus dem Umkreis der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule“. Darin geht es um die Rolle des Rechts in der Gesellschaft, dem er eine Funktion der „sozialen Integration“ beimisst, außerdem um das Verhältnis von Recht und Moral, „zwei verschiedene, aber einander ergänzende Sorten von Handlungsnormen“.
Mit dem zweibändigen Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019) rundet Habermas sein philosophisches Gesamtwerk ab. Neben diesem hat er sich immer wieder zu politischen, gesellschaftlichen und auch geschichtswissenschaftlichen Fragen geäußert. Als etwa der Historiker Ernst Nolte in den 80er Jahren behauptet, die Vernichtungspolitik der Nazis sei eine Reaktion auf die sowjetischen Verbrechen gewesen, schreibt Habermas einen Zeitungsartikel und adressiert ihn an Nolte. Er kritisiert eine Relativierung deutscher Schuld und betont die Singularität des Holocaust. Damit löst er den sogenannten „Historikerstreit“ aus. „Hier wurde ein Konsens geschaffen, der von liberal-konservativ bis links von der SPD ein Bekenntnis zur Republik und zur politischen Kultur Deutschlands ermöglicht hat“, so Felsch, der Habermas als „Geburtshelfer dieses breiten gesellschaftlichen Konsenses“ bezeichnet. Als eine Art moralischer Kompass.
Beginnender Fatalismus
Dieser unterscheidet trennscharf den Philosophen vom Publizisten. Habermas rechtfertigt noch die militärische Intervention im Irak 1991 und jene im Kosovo 1999 im Hinblick auf eine künftige „durchgehende verrechtlichte kosmopolitische Ordnung“. Eine Weltinnenpolitik wird zunehmend illusionär – sie mit kriegerischen Mitteln durchzusetzen, kommt für ihn nicht infrage. Für seine Haltung zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine erntet er Unverständnis, weil er sich bereits für Verhandlungen mit Russland ausspricht. Ihn schockiert der Krieg als Mittel der Politik, aber auch, dass die USA ihre Glaubwürdigkeit als eine von Werten geleitete Ordnungsmacht verloren haben. Er blickt fatalistisch in die politische Zukunft und malt ein „düsteres Szenario vom Abstieg des Westens“ aus, als Felsch ihn im September 2023 zum zweiten Mal besucht. Und er gesteht seinem Gast, dass alles, was sein Leben ausgemacht habe, Schritt für Schritt verloren gehe.
Habermas’ intellektuelle Lufthoheit scheint zu Ende zu gehen. Er fürchtet um seine politischen Ideale. Bezüglich des Krieges in Israel und Gaza betont er das Existenzrecht Israels als „besonders schützenswert“. Wer den Israelis bei ihrem Vorgehen in Gaza die Absicht eines Völkermordes unterstelle, dessen Maßstäbe seien verrutscht. „Der Schutz jüdischen Lebens, die Existenz Israels sind Anliegen, die sich für Habermas aus der deutschen Verantwortung für den Holocaust ergeben“, schreibt Felsch.
Eine umfassende Biografie über Habermas hat bereits der Frankfurter Soziologe Stefan Müller-Doohm 2014 veröffentlicht. An dem Anspruch, sich mit dem theoretischen Werk des großen Denkers tiefgehender auseinanderzusetzen, misst sich Felsch, der bisher unter anderem „Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990“ (2015) geschrieben hat, nicht. Sein Buch ist eine wunderbar leichtfüßige Annäherung im Stile eines essayistischen Streifzugs und mehr ein Porträt als eine Biografie. Auch wenn wichtige Momente in Habermas’ Leben und Werk nur angedeutet bleiben, kann eine Lektüre den Anfang dafür schaffen, sich mit dem Meisterdenker intensiver zu befassen. Vor allem für ein Publikum, das mit dem philosophischen Stoff noch nicht so vertraut ist, eignet sich das Buch.
„Der Philosoph. Habermas und wir“, Propyläen Verlag. Berlin 2024. 256 Seiten. Ca. 24 Euro.
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