Forum / Auf ihn mit Gebrüll! Oder: So schnell wird man ein Rassist
Jetzt hat es mich erwischt. Im Klartext: Ich bin ein Rassist. Und zwar genau seit dem 25. Oktober 2024. Vor diesem Stichdatum dachte ich immer, ich sei alles andere als rassistisch gesinnt. Ich bildete mir sogar ein, ein vehementer Antirassist zu sein, extrem allergisch gegen xenophobische Umtriebe. In Hunderten von Texten habe ich jahrzehntelang kräftig gegen Rassisten aller Art gewettert. Das kann man nachlesen, es ist schwarz auf weiß festgehalten. Doch dann, am 25. Oktober 2024, tauchte in den asozialen Hetzwerken ein Herr/eine Dame auf (beim verwendeten Namen „nitasaan“ kann ich das Geschlecht leider nicht bestimmen), der/die mir ein verheerendes Urteil entgegenschleuderte: Du bist ein Rassist!
Zur Beweisführung benutzte der Herr/die Dame einen Text, der genau 21 Jahre alt ist. Er heißt „Kleng Ried fir déi friem Päiperleken“ und steht im Kinderbuch „Ballo Farfallo“, das leider längst vergriffen ist. Wieso dieser Text gerade jetzt wieder ans Tageslicht kommt, ist mir schleierhaft. Es verhält sich wohl so, dass begnadete Rassistenjäger:innen grundsätzlich nie Ruhe geben, bevor sie nicht den allerletzten Rassismusverdacht im allerletzten verschollenen Büchlein ausgegraben haben. Nun, die Mühe hat sich gelohnt. Nach der gezielten Inkursion in die „Ballo Farfallo“-Seiten steht fest: Ich bin ein verachtenswürdiger, schädlicher, gesetzesbrecherischer Rassist. Ein paar helle Köpfe haben mich ertappt. Ich schäme mich in Grund und Boden. Meine dürftige Tarnung mit betont antirassistischen Texten ist aufgeflogen. Ich bin entlarvt. Als arglistiger rassistischer Fadenzieher stecke ich ganz schön in der Bredouille. Das nennt man wohl Künstlerpech. Mir bleibt nichts anderes übrig, als in Sack und Asche zu verduften. Adieu, liebe Leserinnen und Leser. Ich kann gut verstehen, dass Sie mit einem Rassisten nichts zu tun haben wollen.
Überhitzte Empörungsblase
Ironie beiseite, kommen wir zum ernsten Thema. Diese Polemik veranschaulicht drastisch die Funktionsweise der asozialen Hetzwerke. Irgendein aufgebrachter Anonymus greift irgendetwas auf, stürzt sich ohne Sachkenntnis und Hintergrundwissen auf das vermeintlich brisante Sujet, reißt es vollends aus dem Kontext, wirft ein paar knallige Reizwörter in den Ring – Rassist! Kindesverführer! Verächter von Ethnien! –, und schon tobt die Fehde in der überhitzten Empörungsblase. Die sogenannten Follower tun sich keinen Zwang mehr an, sie bemühen sich nicht im geringsten herauszufinden, worum es geht, sie äffen nur die Reizwörter nach und geben wie Pawlowsche Hunde ihren Senf dazu, bis am Ende ein überdimensionales Schreckgespenst am Pranger steht: der elende Rassist. Wir haben ihn dingfest gemacht! Den Kosovo-Hasser. Den barbarischen Menschenfeind. Nieder mit dem Drecksack! Verpasst ihm einen Maulkorb! Schmeißt seine Bücher aus den Schulbibliotheken! Erteilt ihm ein endgültiges Schreibverbot! Wer hinter der intriganten Kampagne steckt und mit welcher Absicht sie losgetreten wurde, ist natürlich nicht zu ergründen. Wer da alles mitmischt und mit welchen Hintergedanken auf den „rassistischen“ Autor eingedroschen wird, bleibt reine Spekulation. Einmal mehr bewähren sich die asozialen Hetzwerke mit ihren undurchsichtigen Verästelungen als quasi rechtsfreier Raum.
Für Schriftsteller ist es eine gängige Erfahrung: vor Missverständnissen oder Fehlinterpretationen ihrer Texte sind sie nie gefeit. Das gehört zum Berufsrisiko. Dazu kommt, dass in einer äußerst schnelllebigen Zeit mit atemberaubenden Beschleunigungsprozessen nur noch selten konzentriert, genau und geduldig gelesen wird. Texte werden bestenfalls hastig überflogen, was zwischen den Zeilen steht, tritt oft nicht mehr in Erscheinung. Die Nuance, die subtile Anspielung und vor allem die sinnstiftende Ironie wie im Text „Kleng Ried fir déi friem Päiperleken“ werden schlichtweg nicht wahrgenommen. Diese Holterdiepolter-Lesepraxis führt fast notgedrungen zu groben Missdeutungen. Es genügt eben nicht, das Alphabet zu beherrschen, man muss auch in der Lage sein, die Vielschichtigkeit von Texten zu erfassen. Genau das ist längst nicht mehr gesichert.
Tatsächlich muss man eine gewaltige Portion schlechten Willens aufbringen, um aus dem inkriminierten Liedtext eine rassistische Suada herauszulesen. Wenn nämlich einer sich über seine Rolle in diesem Text beschweren könnte, dann wäre es der darin karikierte Luxemburger. Er wird geschildert als verwöhnter Privilegierter, der schutzsuchende Kosovo-Albaner mit haarsträubend zynischen „Argumenten“ abwimmelt.
Der Liedtext besteht aus vier Strophen mit insgesamt zwölf Vierzeilern und einem Refrain. Über die gesamte Textstrecke häufen sich die Vorwürfe der lamentierenden Luxemburger, die sich gegen eine imaginäre Überfremdung stemmen und den zugewanderten Kosovo-Albanern die Schuld an selbstgeschaffenen Problemen zuschieben. Der Flüchtling erscheint als Sündenbock, er soll abhauen, damit das gestörte Gleichgewicht wieder hergestellt werden kann. Komisch, dass noch kein Luxemburger Anstoß an dieser krassen Karikatur genommen hat. Dass nun ausgerechnet Mitglieder der kosovo-albanischen Gemeinschaft sich über diesen Text ereifern, ist geradezu tragisch. Ihre Erregung beweist nur, wie schnell ein paar Brandstifter eine falsche Spur legen können, indem sie einen Text nicht nur tendenziös auslegen, sondern in seiner Grundaussage gänzlich deformieren.
Metapher des „Päiperlek“
Allein die Metapher des „Päiperlek“, einer sehr fragilen und gefährdeten Kreatur, die im Text die Kosovo-Albaner symbolisiert, deutet zur Genüge an, in welche Richtung der Autor zielt: Hier werden die Schwachen in Schutz genommen vor den wirtschaftlich Starken, die unter sich bleiben möchten. Zudem ist die Refrainzeile „Awer fiirs du mat der Heibleifskärchen, kriss du ganz geschwënn e giele Stärchen!“ an Eindeutigkeit nicht zu überbieten. Der Querverweis auf die Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg, die sich heutzutage unter veränderten Vorzeichen und mit abgewandelter Zielrichtung gegenüber Eingewanderten wiederholt, kann wohl kaum „falsch interpretiert“ werden. „Kleng Ried fir déi friem Päiperleken“ ist in der Essenz eine solidarische Hommage an die kosovo-albanische Gemeinschaft. Dies und nichts anderes war meine Absicht beim Schreiben, und die lasse ich mir von ein paar Hetzwerk-Hasardeuren nicht verbiegen.
Die Mitwirkenden an der Bühnenfassung von „Ballo Farfallo“ haben es übrigens genau so verstanden. Während der Inszenierung klang gelegentlich folgender Einwand an: Kann man Kindern Ironie zumuten? Sind sie durch diese eher komplexe literarische Ausdrucksform nicht überfordert? Meine Erfahrung aus unzähligen Lesungen in Schulklassen sagt mir: Kinder sind sehr wohl empfänglich für hintergründige Geschichten. Man sollte sie nicht für dumm verkaufen. Wer ihnen nur platte, eindimensionale Texte auftischt, unterschätzt ihre Intelligenz. Ein Freund, der die Hetzwerk-Angriffe auf „Ballo Farfallo“ kommentiert, umschreibt es so: „Do gesäit een, wéi ,couragéiert‘ mëttlerweil déi nei Moralapostelen, déi méi schlëmm si wéi déi an de vergaangenen Zäiten, optrieden. Ironie hu si nach ni verstan, Ironie, déi Kanner sécher besser verstinn.“
Das Rezept für einen erfolgreichen Shitstorm heißt: Übersehen, übergehen, unterschlagen, voreilig verurteilen, mit erschreckender Oberflächlichkeit hantieren. Die Methode der Hetzwerker ist immer die gleiche. Man trennt ein paar Sätze heraus, bauscht sie auf, ignoriert den Rest und zerstört so den Sinnzusammenhang. Man fabriziert sich seine Feindbilder sozusagen mit der Kettensäge. Auf Teufel komm raus kleistert man sich aus Bruchstücken einen Rassistenpopanz zusammen. Ob der Text eine solche Sinnverdrehung hergibt oder nicht, spielt keine Rolle. Hauptsache, man kann seine Entrüstung auf die Spitze treiben. Geballte Ignoranz trifft auf die fast schon groteske Unfähigkeit, genau zu lesen und literarische Gestaltungstechniken zu begreifen. Ein unbedachter und unbelegbarer Aufschrei ergibt den nächsten, die Raserei schaukelt sich hoch, und am Ende steht überlebensgroß eine verachtenswerte Figur: der rassistische Schriftsteller.
Protestbrief
Aufgrund des erbosten Gezeters im Netz fühlt sich plötzlich ein User ermächtigt, dem Rassismusvorwurf einen offiziellen Rahmen zu verpassen. Er mailt einen Protestbrief mit dem Titel „Reklamatioun wéinst rassisteschen Aussoen am Buch Ballo Farfallo“ an das Literaturzentrum in Mersch, das Nationaltheater in Luxemburg und das Kulturministerium. Alle sollen wohl erfahren, welch verruchten Autor sie sich aufgeladen haben. Zitat: „Ech, als gebiertege Lëtzebuerger mat Kosovareschen Originnen, fannen dat zimmlech schued, wéi an engem sou entwéckelte Land wéi Lëtzebuerg iwwerhaapt d’Iddi opkomme kann, fir esou een Text ze schreiwen. (…) Dofir wëll ech mat dësem Schreiwes eng formell Reklamatioun iwwert den Text abréngen, deen offensichtlech rassistesch an diskriminéierend géigeniwwer de Kosovo-Albaner ass. Den Text enthält Aussoe wéi ,Kosovo-Albaner, géi dach bei déi aner Kosovo-Albaner!‘ oder ,Awer fiirs du mat der Heibleifskärchen, kriss du ganz geschwënn e giele Stärchen!‘ oder ,Däin Haus ass futsch a ganz verbrannt, du bass ganz aarm. Mee tëscht de Steng ass et schéi waarm‘ an aner Beleidegungen, déi géint Leit aus enger bestëmmter ethnescher Grupp geriicht sinn. Sou Aussoe si kloer rassistesch a friemefeindlech, wat an eiser Gesellschaft net ze toleréiere sollt sinn. (…) Ech fuerderen Iech op, déi néideg Schrëtt ze ënnerhuelen, fir sécherzestellen, dass sou rassistesch Texter an Zukunft verhënnert ginn. Weiderhi géif ech eng ëffentlech Entschëllegung erwaarden an eng kloer Stellungnam, an där Dir iech géint Rassismus ausschwätzt. Ech hoffen, dass Dir dës Ugeleeënheet eescht hëlt an déi entspriechend Moossnamen trefft, fir d’Verbreedung vu Rassismus a Fremdenfeindlechkeet ze stoppen.“
Auffällig ist, dass dieser User völlig „vergisst“, auch mich ins Bild zu setzen. Ich bin der ausgemachte Täter, aber ich darf keine Stellung beziehen. Da ich mich weigere, in die Facebook-Kloake hinabzusteigen, sitze ich irgendwie im Auge des Orkans, und um mich herum fliegen die Fetzen. Als „Rassist“ bin ich also schon ein Ausgeschlossener, bevor mich Freunde auf den Shitstorm aufmerksam machen. Ich werde bei öffentlichen Instanzen und Institutionen angeschwärzt, darf mich aber nicht verteidigen. Dieses infame Vorgehen belegt, dass es dem User und seinen Mitstreitern gar nicht um Kommunikation und Aufklärung geht. Es soll von hoher, besserwisserischer Warte herab ein Exempel statuiert werden. Nach dem Motto: Wenn ich sage, du bist ein Rassist, dann bist du ein Rassist und darfst nur noch den Mund halten! Unterdessen eskaliert der Furor in den asozialen Hetzwerken. „Déi Texter am Buch Ballo Farfallo sinn zu déifst rassistesch!“ echauffiert sich eine Person namens „ruderalja“ (vermutlich ein Tarnname, wie üblich in dieser obskuren elektronischen Feigheitszone). „Déi Texter“ – es geht nicht mehr um ein einzelnes Lied, sondern um das gesamte Buch. Voraussichtlich wird es nicht lange dauern, bis alles, was ich je geschrieben habe, mit dem Etikett „Rassismus“ gebrandmarkt wird.
Wie soll man mit so viel Perfidie umgehen? Ich könnte zum Beispiel sagen: Auf diese Hetzwerk-Sauerei lasse ich mich nicht ein. Das wäre vielleicht die klügste Reaktion. Doch sie würde an der Realität vorbeizielen. Denn das wütende Tamtam in den asozialen Hetzwerken erzeugt einen fatalen Streueffekt. Menschen, die sich nur über diese Netzquelle informieren, sind in der Regel felsenfest davon überzeugt, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein. Sie applaudieren sich gegenseitig und lassen keine anderen Ansichten zu. Blindwütige Eiferer sind immun gegen differenzierte Erläuterungen. Daher mein Vorschlag: Wenn sich der Ankläger seiner Sache so sicher ist und es mit seiner pathetischen „Reklamatioun“ ernst meint, soll er gefälligst seine Bürgerpflicht wahrnehmen und mich verklagen. In Luxemburg sind rassistische Äußerungen und Schriften strafbar. Gesetzesverstöße dieser Art gehören vor Gericht. Auf die höchstrichterliche Textauslegung in Sachen „Kleng Ried fir déi friem Päiperleken“ wäre ich jedenfalls sehr gespannt.
Kleng Ried fir déi friem Päiperleken
Aus dem Kannerbuch „Ballo Farfallo“ (2003)
1.
Respekt, Respekt, du Päiperlek!
Sou just entwutscht! Du has vill Gléck.
Du bass geflücht, mat knapper Nout.
Deng ganz Famill ass vläit schonn dout.
Bei dir war Krich. Dat deet eis déck.
Du koums bei eis. Nu géi schéin zréck.
Mir si vun hei, du bass vun do.
Da plënner lo. Dat läit dach no.
Du kriss eng Prime, da gees de fort.
Hei si keng Leit vun denger Zort.
Mir si sou kleng, mir si sou reng.
Du fills dech hei bestëmmt aleng.
REFRAIN
Kosovo-Albaner,
géi dach bei déi aner
Kosovo-Albaner!
Et deet eis leed, vun dengem Land
ass eis net extra vill bekannt.
Mir wëssen och net, wou et läit.
Mee ‚t ass bestëmmt net schrecklech wäit.
An ass am Bus keng Plaz méi fräi,
da flitts du eben, eent, zwee, dräi!
Kosovo-Albaner,
géi dach bei déi aner
Kosovo-Albaner!
Awer fiirs du mat der Heibleifskärchen,
kriss du ganz geschwënn e giele Stärchen!
2.
Eist Boot ass voll, dat ass eis Suerg.
Et ass sou enk zu Lëtzebuerg.
An engem Saz: Mir hu keng Plaz.
Nu jéimer net. Dat ass fir d’Kaz.
Eis Sprooch, déi geet net an deng Klatz.
Du aarme Mënsch verstees kee Fatz.
An hei weess keen, et deet eis leed,
wéi däi verflucht Albanesch geet.
Am Cactus ass der Däiwel lass.
Do gëtt gestouss, do gëtt gebass.
Gëss du net uecht, huet an der Schluecht
e Caddie dech racks! ëmgeluecht.
3.
Mir rennen all wéi wëll op d’Bank.
An all eist Geld mécht eis doutkrank.
Bei eis ass Krich. Mir sinn um Enn.
Mir hu scho laang eng mat der Dänn.
Et ass keen hei, deen dat nach wëllt.
D’Maternité ass iwwerfëllt.
En Auto gëtt – mir si verluer –
bal all Sekonn bei eis gebuer.
Mir fillen eis ganz béis verstouss.
Eis Haiser si sou schrecklech grouss.
All grouss Vakanz do musse mir
an den Exil un d’Mëttelmier.
4.
Hei ass e Land, wéi s du gesäis,
dat ass sou kal a voller Äis.
Mee du bass jo keen Eskimo.
Hei liewe wär fir dech ze schro.
Am beschten ass fir dech däi Land.
Däin Haus ass futsch a ganz verbrannt,
just e Koup Steng, du bass ganz aarm.
Mee tëscht de Steng ass et schéi waarm.
Da fléi lo heem, du Päiperlek!
An träntel net an engem Stéck!
Mir wënschen dir dat Allerbescht.
Komm ni méi rëm! Et war fir d’lescht.
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