Luxemburgensia / Aufzeichnungen aus dem Kellerloch: „Wie die Fliegen“ von Samuel Hamen
Ein „sehr trauriger“ Teenager geht in den Wald „wie andere ins Wasser“, ein von der Akademie gesandter Agent soll den Jungen wiederfinden und zeitgleich Ausschau nach eventuellen Unruhestiftern halten. Was wie ein klassischer Neo-Noir beginnt, entwickelt sich rasch zu einem postmodernen Vexierspiel, das die digitalen Ontologien erforscht, in denen wir zu leben gezwungen werden.
Eine Akademie, die Agent*innen in Distrikte entsandt, um rebellische Zellen auszuhebeln. Ein undurchsichtiges Institut. Die „Dezimierung“, hinter der sich ein mysteriöses Tiersterben versteckt, ein wissenschaftlicher Gründungsmythos, der die Entdeckung einer rätselhaften Materie heroisiert, und eine „stupide“ Stadt, deren Einwohner sich hinter Euphemismen, leeren Worthülsen und Übertreibungen verstecken: In seinem Debütroman „Wie die Fliegen“ bettet Samuel Hamen den postmodernen Detektivroman in eine dystopische Welt ein – und konfrontiert verschiedene Lebensweisen auf der digitalen Müllhalde, zu der die Welt zu werden droht.
Das Rätsel des verschwundenen Teenagers Saul, für dessen Auflösung die geschlechtslose Figur Farr von der Akademie in eine ferngelegene Stadt entsandt wurde, weicht schnell einer Ermittlung, die den ontologischen Zwiespalt dieser Stadt der „Schläfer und Langweiler“ erforschen will.
Weil die Erzählfigur sich nicht mit den herkömmlichen Theorien über die Dezimierung und die Entdeckung der mysteriösen Materie abspeisen lässt – Farr bezeichnet diese als „nachträgliche Verzweiflungstaten von Erklärungssüchtigen“ – und weil sie irgendwie spürt, dass dieser Kleinstadtalltag von Stuhlkreisrevoluzzern, drogenkonsumierenden Teenies und „Kreuzunglückliche[n], die nicht einmal einen Aufstand planen können und Verzweiflung mit Mut verwechseln“, eine Illusion sein könnte, gerät das Leben des hörigen Akademie-Agenten langsam aus den Fugen.
Zwischen aufgespießten Fliegenleichen, zu viel Pastis und einer undurchsichtigen Beziehung zu einer namen- und geschlechtslosen Du-Figur wird Farr plötzlich immer mehr von Erinnerungen heimgesucht, mit denen er/sie eigentlich abgeschlossen haben wollte: Da wäre die Sprengung eines Gebäudes, die der emotionskarge Vater („die Strenge meines Vaters als einziges Angebot von Zuneigung“) seinem Kind zeigen wollte und deren Reminiszenz eine in einem Istgleichzeichen eingravierte Abbildung hervorgerufen haben könnte, aber auch eine Episode der „Quartierzeit“, während der Farr und die befreundeten Bauch und Bergh „die letzten Romantiker verscheuchen, die noch meinten, es sei eine gute Idee, sich am Strand zu sonnen“ und „ständig Proben von allem Möglichen nehmen“ mussten – und die mit einem tragischen Sturz endete.
Ein Detektiv ohne Grammatik
„Womöglich lag die Wahrheit ja in den unterschiedlich schiefen Buchstaben der immergleichen Worte, die ich Tag für Tag notierte“: Mit „detektivischem Spleen“ und einer an Paranoia grenzenden Methodik investigiert Farr nicht nur seinen/ihren Fall, sondern liest die Stadt und seine Einwohner wie ein Student der Semiotik – nicht umsonst hieß Hamens letzter Kurzgeschichtenband „Zeeechen“ – „Zeichen“, auf Luxemburgisch, mit einem „e“ zu viel – und verwies somit sowohl auf die wesentliche Rolle von Muster und Makel in seinem Werk.
Ganz gleich, ob er die immergleiche Flugbahn der Fliegen, Graffitis oder das merkwürdige Verhalten der Einwohner studiert: In seinen Aufzeichnungen aus dem Untergrund hält die Erzählfigur umso akribischer jedes Muster fest, da sie recht schnell herausfindet, dass der Fall Saul das Verschwinden eines anderen Kindes vor neun Jahren verdächtig minutiös wiederholt.
Ein wenig wie Oedipa Maas in Thomas Pynchons Kultroman „The Crying of Lot 49“ fragt man sich irgendwann, ob, wie Farr es zu erkennen glaubt, „alles zusammengehört, irgendwie“, ob diese Paranoia ein Gehirngespinst ist, das sich zufälligerweise mit den realen Machenschaften des Instituts überschneiden könnte (wir wissen: „Just because you’re paranoid doesn’t mean they’re not after you.“) – oder ob diese Differenzierung zwischen Außen- und Innenwelt im digitalen Alltag nicht vielleicht ein verstaubter Gedankenreflex ist.
„Glänzender Spleen am Rande des Abgrunds“
So kommt Farr zur Konklusion, dass der Zoo und das Institut die „Illusion eines Geheges“ vermitteln, „damit wir meinen, unbeteiligt zu sein, außen vor, frei“ – und erinnert mit seiner Aussage an Baudrillards prägende Analyse über die Rolle von Disneyland in den Vereinigten Staaten: Laut Baudrillard soll der Vergnügungspark die Illusion eines geschlossenen Parks geben, damit die US-Amerikaner nicht merken, dass ihr ganzes Land eine Art Disneyland ist.
Die Einwohner der namenlosen Stadt „gehen dieselben Wege, benutzen dieselben Worte, hegen wieder und wieder dieselben Erinnerungen. Sie haben verlernt, auszubrechen oder irgendwie anders zu leben. Oder es wird ihnen verunmöglicht.“ Die Digitalisierung erlaubt es Farr nicht nur, dem Gefühl der ständigen Überwachung ein Vokabular, eine Grammatik zu verleihen, diese Grammatik verweist im Roman auf einen andauernden ontologischen Kampf zwischen verschiedenen Wirklichkeiten. Farr ist es gewohnt, durch seine Fälle eine Realität zu schaffen – die Erzählfigur spricht von der „Realität der Täterschaft“ –, „die ich dann anderen auferlegte“: „Daran lag die Wirkkraft der gesamten Akademie.“
Indem sie den Kriminalfall löst, vereinfacht die klassische Detektivfigur die Multiplizität möglicher Welten zu einer einzigen wahren Realität, mit der Akademiefigur im Rücken ist die ontologische Autorität von Hamens Detektivfigur noch stärker. Gerade diese Autorität des Ermittlers wird in der fremden Stadt aber langsam dekonstruiert: Rasch beschleicht einen den Eindruck, in einer Art „Truman Show“, einem „Groundhog Day“, in dem das Murmeltier durch Pinguine ersetzt wurde, gelandet zu sein: „Hier aber schuf das I.L.E. die alleinige Erfahrung, neben der nichts gelten durfte“, kreierte eine „aggressiv agile, zugleich unbeugbar stählerne Realität“, mit „designten Reminiszenzen, Erfahrungen und Emotionen“. „An die Makel musste ich mich halten, an die Störungen, die ich als Werkzeug und Verfahren, nicht als Unfall oder Fehlprogrammierung zu begreifen hatte.“
Hamens Sprache ist dabei präzise, seine zahlreichen Vergleiche sind, stärker noch als bei „Zeeechen“, sprachliche Ausbruchmöglichkeiten aus dem drögen Alltag der digitalen Dystopie, sie sind wie die Makel oder die Störungen in der Matrix dieser Stadt, die das Potenzial haben, den Bericht (und seinen Berichtenden) aus den Fugen geraten zu lassen, weil sie Abgabelungen zu anderen Wirklichkeiten sein könnten. Denn Farrs initialer Wunsch, „weniger zu sehen und weniger zu hören“, wird ihm, soviel darf vorneweg verraten werden, nicht erfüllt.
„Wie die Fliegen“ ist eine anspruchsvolle wie spannende Dekonstruktion des Detektivromans, dessen dystopische Welt dem Leser den verzerrten Spiegel einer unter der Digitalisierung bröckelig gewordenen Realität hinhält und ihn vor die Wahl stellt, wie ein Zombie in Endlosschleife einer entleerten Welt der Zeichen zu leben – oder den Spiegel einzuschlagen.
Info
„Wie die Fliegen“ von Samuel Hamen, 2023 Diaphanes, 200 Seiten, 18 Euro
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