Tragödie / Aus drei mach eins: „Ödipus/Antigone“ im Grand Théâtre
Mit „Ödipus/Antigone“ wurde ein berühmter antiker Tragödienzyklus zu einem einzelnen Stück zusammengeschnürt. Die Geschichte vom verfluchten König Ödipus und seinen Nachfahren erzählt die Theaterproduktion gut nach – einen Glanzpunkt lässt sie jedoch vermissen.
Durch Sigmund Freud hat die Figur des Ödipus ein Revival erlebt. Der Ödipus-Komplex dürfte einer der psychoanalytischen Begriffe sein, die außerhalb von therapeutischen Fachkreisen die größte Bekanntheit erlangt haben – eben weil er auf so empfindliche Weise an ein Tabu rührt, das für den französischen Ethnologen Lévi-Strauss den Übergang von der Natur zur Kultur markiert: das Inzestverbot, das Unterbinden sexueller Beziehungen zwischen engen Verwandten und das Unterdrücken von entsprechenden Fantasien. Das Verbot ist so tief in unserer Gesellschaft verankert, dass Geschichten oder Namen, die es aufrufen, auf diesen so skandalösen Aspekt reduziert zu werden drohen.
So ist die Hauptfigur von Max Frischs Roman „Homo Faber“ bei Schülern allgemein bekannt als „der Typ, der mit seiner Tochter schläft“ und der Ödipus-Komplex, „hat damit zu tun, dass man mit seiner Mutter (oder seinem Vater) schlafen will“. König Ödipus demgemäß ist „der Mann, der mit seiner Mutter ins Bett steigt und vier Kinder mit ihr zeugt“. Dabei steht dieser Aspekt des Ödipus-Mythos symbolisch für die Frage nach der Unausweichlichkeit des Schicksals und dem Vorhandensein der menschlichen Willensfreiheit. Je mehr Ödipus versucht, sich aus dem Klammergriff der Vorhersehung zu befreien, desto mehr verstrickt er sich in Schuld. Dieser unerbittliche Determinismus dürfte gerade einem modernen Publikum, das mit der mittlerweile durchkapitalisierten Mit-festem-Willen-ist-alles-möglich-Mentalität aufgewachsen ist, sauer aufstoßen. Erst durch Antigone, die bewusst den Tod wählt, scheint sich das Verhältnis von Fatum und freiem Willen umzukehren, doch der Ausgang der Geschichte um das Herrschergeschlecht der Labdakiden bleibt katastrophal.
Ein nicht entrinnbares Schicksal
Unter der Regie von Frank Hoffmann wurde nun die sogenannte Thebanische Trilogie nach Sophokles im Großen Theater in einem Guss aufgeführt. Um die Zusammenführung der einzelnen Dramentexte kümmerte sich der Dramaturg Florian Hirsch. Der erste Teil, „König Ödipus“, sowie der dritte Teil, „Antigone“, dieser nachträglich als Dreiteiler verstandenen Tragödien-Serie gründet auf einem Text von Simon Werle, der Mittelteil „Ödipus auf Kolones“ geht auf einen Text von Friedrich Hölderlin zurück. In einer Vorstellung von knapp zweieinhalb Stunden durchbraust Hoffmanns Inszenierung „Ödipus/Antigone“ die gesamte Erzählung um Ödipus und seine Kinder.
Um diese knapp zusammenzufassen: Als verstoßener Sohn des Königs Laios von Theben und seiner Frau Iokaste wächst Ödipus bei Zieheltern auf. Als er ein junger Mann ist, wird ihm prophezeit, dass er seinen Vater töten und seine Mutter ehelichen würde. Um seinem Schicksal zu entrinnen, flieht er – nicht wissend, dass er mit seinen Eltern nicht biologisch verwandt ist – aus der Stadt Korinth. Er begegnet seinem wirklichen Vater und bringt diesen unwillentlich um. Danach befreit er die Stadt Theben vom Joch des Ungeheuers Sphinx, weswegen ihm vom zeitweiligen König Kreon dessen Schwester Iokaste als Ehefrau überlassen wird. Mit ihr setzt er vier Kinder in die Welt: die Zwillinge Polyneikes und Eteokles sowie Antigone und Ismene.
Als alter Mann deckt Ödipus schließlich die Umstände seiner Geburt und somit seine wahre Identität auf – Iokaste erhängt sich daraufhin und er blendet sich. Sich selbst aus der Stadt verbannend, zieht der ehemalige Herrscher auf den Berg Kolones bei Athen, wo er seinen Sohn Polyneikes, der sich mit seinem Bruder zerstritten hat, verflucht. Die beiden Brüder töten sich wenig später gegenseitig im Zweikampf. Kreon verwehrt Polyneikes ein angemessenes Begräbnis, doch Antigone setzt sich über die Entscheidung ihres Onkels hinweg und führt am Leichnam ihres Bruders ein Bestattungsritual durch. Kreon, der unter Androhung der Todesstrafe derartiges verboten hat, zürnt und lässt Antigone verhaften – sie begeht schließlich in ihrem Verlies Selbstmord.
Ödipus’ Niedergang im Zeitraffer
Die Ödipus-Inszenierung im Großen Theater umgreift all diese Geschehnisse, wobei die einzelnen Tragödien notgedrungen zusammengestrichen werden mussten. Die größte Kürzung betrifft den zweiten Teil der Trilogie, der in geraffter Form abgehandelt wird und sich so nicht mehr als eigenständiges Werk, sondern als Interludium zwischen Anfang und Ende präsentiert. Dies führt zu einer gewissen strukturellen Unausgewogenheit, besonders da die drei Teile von „Ödipus/Antigone“ als Einzelkomponenten voneinander abgegrenzt werden – immerhin wird zu Beginn jeder Tragödie ihr jeweiliger Titel auf die Bühne projiziert. Dass die Beteiligten angesichts der schieren Masse an Stoff für diese Lösung optierten, erscheint einerseits nachvollziehbar, andererseits wirkt die Handlung so aber mitunter etwas übereilt und die familiären Konflikte nicht in ihrer ganzen Tiefe erforscht.
Kompensiert werden kleinere Schwächen wie diese u.a. durch die schauspielerische Leistung Wolfram Kochs in der Rolle von König Kreon, auch Jaqueline Macaulay als Iokaste/Eurydike, Maik Solbach als Ödipus und Marie Jung als Antigone schaffen es mit ihrer Performance, den Zuschauer gekonnt durch den von Umschwüngen geprägten Mythos zu leiten und eine Kontinuität zwischen den eng miteinander verwobenen Teilen herzustellen. Macaulay und Solbach stellen Ödipus und seine Frau Iokaste als einander begehrendes und leidenschaftliches Paar dar, was die Tragweite des sie erwartenden Desasters noch verschärft. Darüber hinaus verleiht die Darstellerin Iokaste ein gewisses streng-mütterliches Wesen (am Anfang packt sie ihren Bruder Kreon und Ödipus am Ohr und schimpft die beiden wie unartige Kinder aus), was eine subtile Doppelbödigkeit in ihrem Verhältnis schafft und die noch verdeckte Monstrosität ihrer Liebesbeziehung von Anfang an schauspielerisch konkretisiert. Weniger überzeugt wiederum Marco Lorenzini in seiner Verkörperung des blinden Sehers Teiresias. Der Sage nach soll Teiresias die Sprache der Vögel verstehen – die krächzenden Schreie von Lorenzini am Anfang der Inszenierung wirken aber seltsam affektiert.
Ödipus und der „Doppelmutterschoß“
Das gelungene Bühnenbild (Ben Willikens; Bernhard M. Eusterschulte) verändert sich insgesamt dreimal, bleibt aber seinem Grundkonzept (Haus- bzw. Stadtansicht) treu. Die Farben der Kostüme (Susann Bieling) sind gedeckt und die männlichen Figuren tragen oft Tweed-Anzüge, die aus einem annähernd nach üblichem Muster geschnittenen Oberteil und einer orientalisch wirkender Pumphose bestehen. Diese Mischung hat einen gewissen Reiz, jedoch sind verschiedene Kostüme weniger aufwendig gestaltet und der Kleidung der weiblichen Figuren fehlt es z.T. an Originalität – so tragen die Frauen in mehreren Szenen einfach figurbetonte (Abend-)Kleider. Gerade da sich hier auf der Bühne starke Frauenfiguren präsentieren (Iokaste, Antigone), hätte es sich gelohnt, ihrer Aufmachung so eine symbolische Dimension zu verleihen, wie es bei Ödipus’ Äußerem der Fall ist: Tritt der Vergreiste und Exilierte in „Ödipus auf Kolonos“ nackt auf – ihm wurde alles vom Schicksal genommen –, hat er zu Beginn der Inszenierung einen Einteiler mit weiter Hose an: einen Anzug, der fern an den Strampler eines Säuglings erinnert und so in enger Verbindung mit dem mehrmals erwähnten „Doppelmutterschoß“ von Iokaste steht.
Insgesamt gelingt es „Ödipus/Antigone“, die schaurig-verzweifelte Welt des verdammten Ödipus und seiner Nachkommen atmosphärisch zu evozieren und die Grundkonflikte durch die Darbietung der Hauptdarsteller überzeugend nachzuzeichnen, jedoch setzt die Inszenierung letztlich keine eigenen Akzente, die dafür sorgen würden, dass das Stück beim Zuschauer einen bleibenden Eindruck hinterließe.
Weitere Mitwirkende
Schauspieler:
Nickel Bösenberg (Bote)
Christian Clauß (Hirte/Polyneikes/Haimon)
Sarah Grunert (Ismene)
Ulrich Kuhlmann, Annette Schlechter, Roger Seimetz (Chor)
Musik und Soundeffekte:
Daniel Sestak
Licht:
Daniel Sestak
Regieassistenz:
Maximilien Ludovicy & Agnes Otto
Produktion:
Les Théâtres de la Ville de Luxembourg
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