Europawahlen / Ausgerechnet das nationalpopulistische Bugbild Viktor Orban könnte bei Europas Rechtsruck Federn lassen
Europaweit wird bei den Europawahlen am 9. Juni ein Rechtsruck erwartet. Doch mit Ungarns russophilem Premier Viktor Orban droht ausgerechnet Europas nationalpopulistischer Vorreiter Federn zu lassen: Der steile Aufstieg des Oppositionsmessias Peter Magyar dürfte den Platzhirsch Stimmen kosten.
Der Lockruf des 28. Szegediner Weinfests bleibt unerhört. Achtlos lassen die Menschen, die in langen Kolonnen zielstrebig durch die Innenstadt der südungarischen Grenzstadt ziehen, die Holzbänke und Schanktische der Weinzelte links liegen. Es ist ein verbeulter, in den Landesfarben besprühter Ford Transit, der als Behelfstribüne die Massen in der südungarischen Grenzstadt wie ein Magnet auf den Domplatz zieht: Ob „der Wanderer der Freiheit“ von Ferenc Demjen oder „Das Lied der Unschuld“ von „Fonograf“: Tausende singen, summen oder wippen bei den aus den Lautsprechern perlenden Gassenhauern der ungarischen Nachwendejahre begeistert mit.
Hoch über dem Domplatz tauchen die letzten Sonnenstrahlen die Backsteintürme der Kathedrale von Szeged in ein warmes Licht. Zu ihren Füßen wogt in der Dämmerung über den Köpfen der Wartenden ein grün-weiß-rotes Nationalflaggenmeer. Endlich kündigen die jaulenden Keyboardriffs von „The final countdown“ den Kandidaten an. In die Höhe gereckte Mobiltelefone flackern auf, als sich Peter Magyar umjubelt wie ein Rockstar in der einbrechenden Dunkelheit händeschüttelnd seinen Weg durch die Menge bahnt.
„Das Volk von Szeged, der Stolz meiner Nation, die Säule meines armen, verratenen Landes!“, begrüßt der sehnige Europawahlkämpfer sein begeistert applaudierendes Publikum mit einem Zitat von Ungarns legendärem Freiheitskämpfer Lajos Kossuth: „Ich verneige mich vor Ihnen.“
Selten hat ein Europawahlkampf in Ungarn für so viel Wirbel wie in diesem Frühjahr gesorgt. Verantwortlich dafür ist ein Politnovize, der keineswegs nach Brüssel strebt, sondern sein feudal regiertes Land erneuern will. 20 Jahre nach dem EU-Beitritt sei Ungarn eines der ärmsten und „das korrupteste Land der EU“, so seine Botschaft. Er wolle die blockierten EU-Mittel „zurück nach Ungarn bringen“, sagt der frühere Parteigänger der regierenden Fidesz-Partei: Im Gegensatz zu Fidesz- und Regierungschef Viktor Orban sei er für eine „kritische, aber faire Beziehung“ zur EU, „nicht für einen Kampf nur um des Kampfes willen“.
Als neuen „Messias“ der Opposition feiern ihn seine Anhänger. Als „narzisstischen Psychopathen“, „Verräter“, „EU-Büttel“ und Anführer eines „auf Sand gebauten Schlosses“ geißeln die Regierungsmedien den 42-jährigen Juristen: An dem kometenhaften Aufstieg und der Blitz-Metarmophose vom einstigen Fidesz-Mitläufer zum wichtigsten Herausforderer des allgewaltigen Premiers scheiden sich im Donaustaat die Geister.
Magyar profitiert von Unzufriedenheit
Es war der Skandal um die vergeblich vertuschte Begnadigung eines Waisenhausmitarbeiters in einem Pädophilie-Fall, der den bis dahin eher unaufälligen Parteisoldaten zu seinem späten Coming-out als Systemkritiker veranlassen sollte: Als seine frühere Frau und Ex-Justizministerin Judit Varga Mitte Februar wegen der Abzeichnung der Begnadigung als Bauernopfer zum Rücktritt als Fidesz-Spitzenkandidatin bei den Europawahlen gezwungen wurde, begann Magyar zunächst über die sozialen Medien zum Aufstand gegen Machtwillkür und Parteienwirtschaft zu blasen.
Der Ex-Diplomat, der aus dem Nähkästchen eines hochkorrupten Machtapparats plaudert, wird von seinen Landsleuten nicht nur auf millionenfach angeklickten Youtube-Interviews gehört. Egal, ob der neue Hoffnungsträger in Provinzdörfern oder in Städten auftritt: In ungewohnt großer Zahl setzt der vor vier Monaten noch völlig unbekannte Magyar die Massen in Bewegung.
Die Mehrheit der Ungarn habe „die Korruption, Lügen und Propaganda“ der regierenden Fidesz-Partei „einfach satt“, erklärt der schlanke Mann mit dem Bürstenhaarschnitt den wachsenden Andrang bei seinen Kundgebungen: „Ich kenne sie, ich kenne ihr System, ihre Taktik, ihre Propaganda.“
Mit dem Erscheinen von Magyar fühlen sich die Leute nach Jahren der Frustration plötzlich als Teil einer neuen und dynamischen BewegungAnalyst des Political-Capital-Instituts in Budapest
Einerseits komme Magyar aus dem „inneren Kreis der Macht“, andererseits profitiere er auch von der Unzufriedenheit und dem verlorenen Vertrauen regierungskritischer Wähler in Ungarns etablierte Oppositionsparteien, erklärt Robert Laszlo, Analyst des Political-Capital-Instituts in Budapest, dessen kometenhaften Aufstieg zum neuen Hoffnungsträger. Die bisherige „Apathie“ vieler regierungskritischer oder unentschlossener Wähler spiele auch eine Rolle: „Mit dem Erscheinen von Magyar fühlen sich die Leute nach Jahren der Frustration plötzlich als Teil einer neuen und dynamischen Bewegung.“
Ein Herausforderer aus dem System
Europaweit wird bei den Europawahlen am 9. Juni ein Rechtsruck erwartet. Doch ausgerechnet Europas nationalpopulistischer Vorreiter Viktor Orban könnte im eigenen Land Federn lassen. Auf 17 bis 25 Prozent wird von den Umfrageinstituten mittlerweile der Stimmenanteil der Tisza-Partei des Politnovizen geschätzt – Tendenz steigend: Sollten sich die Prognosen bei der Europawahl bewahrheiten, könnte sich Magyars Einmannpartei zwei Jahre vor der nächsten Parlamentswahl 2026 aus dem Stand zur stärksten Oppositionskraft mausern.
Nur ein Herausforderer, der aus dem System komme, könne Fidesz in die Knie zwingen, erklären oppositionsnahe Medien hoffnungsfroh. „Wir haben den Film mit einer kriselnden, aber letztlich triumphierenden Fidesz-Partei schon öfter gesehen“, schwächt Analyst Laszlo allerdings die Erwartungen auf ein politisches Erdbeben mit Verweis auf die hohe Disziplin der Fidesz-Wähler und das enorme Mobilisierungsvermögen des Regierungsapparats merklich ab: Die Folgen der unerwarteten Politturbulenzen, die Magyar auslöse, sollten jedoch „weder unterschätzt noch überschätzt werden“.
Zwar speist sich das wachsende Heer der Magyar-Fans vor allem aus bisherigen Nichtwählern oder Wählern anderer Oppositionsparteien. Doch deren vermehrte Aktivierung durch den neuen Oppositionsmessias könnte bei den normalerweise nur schwach frequentierten Europawahlen auch dem sieggewohnten Platzhirsch Orban Stimmanteile kosten: Sollte der Fidesz-Anteil von 52,5 Prozent bei der Europawahl 2019 deutlich oder gar unter 45 Prozent sacken, dürfte der Fidesz-Nimbus der Unbesiegbarkeit ins Bröckeln geraten.
Das weiße Hemd des Kandidaten erstrahlt auf dem Domplatz im Feuerschein: Unter den Zuhörern verteilte Fackeln ersetzen das fehlende Scheinwerferlicht. Ermüdungserscheinungen scheint der drahtige und unermüdlich auf sein Publikum einredende Volkstribun auch beim sechsten Wahlkampfauftritt des Tages keine zu kennen: Magyar ist der Moderator, Vor- und Hauptredner seiner fulminanten Einmann-Show.
Inhaltlich seiner früheren Partei verbunden
Ob bei seinem Besuch des Grenzzauns in Rözke bekräftigten Bekenntnis zum „Kampf gegen die illegale Immigration“ oder seinem nationalen Zungenschlag: Trotz der harschen Kritik an Parteiwirtschaft und Korruption im feudalen Fidesz-Staat fühlt sich der konservative Magyar inhaltlich den Positionen seiner früheren Partei durchaus noch verbunden.
Zumindest bis zur Europawahl dürfte „Komet“ Magyar kaum verglühen. Doch erst das Ergebnis des „nur schwer prognostizierbaren“ Urnengangs werde zeigen, wie groß der Zuspruch für Magyar tatsächlich sei, so Laszlo. Auch die Erfolgsaussichten für den von ihm beabsichtigten Aufbau eines landesweiten Netzwerks bis zu den Parlamentswahlen 2026 werde vor allem vom Ausgang der Europawahl abhängen: „Wenn das Wahlresultat im Vergleich zu den messianischen Erwartungen als mager empfunden wird, könnte sich das Blatt für Magyar schnell wenden. Umgekehrt dürfte ein positives Ergebnis seinen Ambitionen neuen Auftrieb geben.“
Die letzten Fackeln sind auf dem Domplatz von Szeged fast abgebrannt. „Die Welt ist groß, sie reicht bis zum Himmel. Lasst uns aufstehen, wenn es nötig wird – egal, was passiert!“, singen der Kandidat und sein Publikum mit erhobenen Händen. „Die Leute spüren, dass das, was er sagt, vom Herzen kommt“, erklärt ein lokaler Mitstreiter, der seinen Namen nicht nennen mag, die Popularität seines Idols: „Sie merken, dass da jemand wirklich unser zerstrittenes Land endlich einen – und aussöhnen will.“
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