/ Balance, Beeren und der Mogli-Gang: Weinlese bei Abi Duhr
Bis der Wein ins Glas kommt, ist es ein Jahr Arbeit. Mindestens. An der Mosel ist die Weinlese in vollem Gang. Auch bei Abi Duhr (66) sind rund zwölf Erntehelfer zwischen den Rebstöcken unterwegs, um die Trauben zu ernten. Logbuch einer Weinlese.
7.00 Uhr: Der Morgen beginnt mit der Frage: Wird es was? Es regnet. Eine erste SMS geht schon morgens um 7 Uhr zwischen Saar und Mosel hin und her. Rund acht Hektar gehören Abi Duhr zwischen Schengen und Grevenmacher.
7.20 Uhr: Es klappt. An diesem Morgen werden Auxerrois-Trauben in Steillage hoch über Mertert geerntet.
8.10 Uhr: Hinter dem Kreisel am Ortseingang geht es Richtung Manternach in aller Frühe links einen Wirtschaftsweg steil berghoch. Auf dem Weg zwischen den Weinhängen stehen Pkws, blaue Kisten werden entladen. Ernte-Duos finden sich. Auf jeder Seite des gleichen Rebstocks erntet ein Helfer. Thomas Stork (52) ist meine bessere „Erntehälfte“. Der gelernte Metallbauer aus Trier hat vor 16 Jahren beruflich umgesattelt. Seit zehn Jahren ist er bei Abi Duhr und hilft ganzjährig im Weinberg.
8.30 Uhr: Die Weinlese beginnt für mich mit einer Fehlentscheidung. Mangels Regenstiefel habe ich die Snowboots ausgepackt. Sie sind wasserdicht und haben Profil. „Das wird schwierig“, sagt Thomas mit Blick auf meine Füße. „Hier sind Fußballschuhe mit Stollen am besten.“ Habe ich als Gast im Stadion aber nicht.
Botrytis-Befall
8.45 Uhr: Die missratene Schuhentscheidung wird mich noch einholen. Immerhin scheint die Sonne mittlerweile. Zwischen den 40 Rebreihen von 50 Metern Länge geht es sehr steil nach unten. Der Boden ist vom Regen der vergangenen Tage glitschig, wie sich herausstellt. Ich bekomme Handschuhe, eine Schere und ein kurzes Einführungsseminar. Thomas zeigt mir bereits geschnittene grüne Beeren. Dazwischen sind einige bräunlich eingefärbt und haben einen schimmelartigen Belag.
8.50 Uhr: Der „Edelfäulepilz“ oder auch Botrytis hat die Trauben an einigen Stellen befallen. Das muss der Erntehelfer abschneiden, denn diese Stücke landen in einer speziell dafür vorgesehenen Kiste. Wir nennen sie die „schlechte“ Kiste. Botrytis oder die „kosmopolitische Gattung der Schlauchpilze“, wie es bei Wikipedia heißt, hat erstaunliche Fähigkeiten. Sie erzeugt Löcher in der Beerenhaut. Das Wasser verdunstet und die Zuckerkonzentration steigt. Der Pilz ist wenig wählerisch, gilt als Generalist und befällt mehr als 235 Wirtspflanzen, erfahre ich noch.
9.00 Uhr: „Das schmeckt sehr süß“, sagt Thomas über die befallenen Trauben. Ich soll probieren. Sieht nicht sehr appetitlich aus. Schmeckt aber nach dem ersten Zögern in der Tat wie vorhergesagt. Duhr gewinnt daraus den nach dem Pilz benannten Dessertwein. Ganz aussortiert werden die Stellen an den Beeren, die schon nach Essig riechen. Gesunde, grüne Beeren kommen in die Kiste für „gut“.
9.10 Uhr: Es geht los. Etwa eine Stunde brauche ich für meine Seite von oben bis nach unten. Blätter zur Seite räumen, schneiden, prüfen, sortieren, auf die richtige Kiste verteilen, Kisten hinter sich herziehen. Die Ernte ist gut. Die meisten Beeren sind grün, saftig und haben wenig Botrytis.
Ein Hochleistungssport
10.15 Uhr: Unten angekommen bin ich froh, dass sich meine „Schieflage“ ausgleicht. Die Kiste ist voll und meine Jeans sind voller Lehm. Mein „Talfuß“, der Körpergewicht und Balance halten soll, hat schlappgemacht. Ich bin einen halben Meter den Hang hinuntergerutscht. Zum Glück ohne Kiste. „Das gehört dazu“, ist die einhellige Meinung der Profis.
10.30 Uhr: Der anschließende Aufstieg ist schweißtreibend und geht nicht ohne Pause. Anfänger wie ich hangeln sich von Rebstock zu Rebstock, um die Erdanziehung zu überlisten.
12.15 Uhr: Gegen Mittag ist ungefähr die Hälfte der Ernte eingebracht. Die Weinlese in diesen Lagen ist Hochleistungssport. Meine Waden knurren, den Oberschenkeln geht es nicht besser und der Rücken signalisiert, dass es ihn auch noch gibt. „Wie macht man das vier Wochen lang jeden Tag?, grübele ich. Außerdem macht Weinlese hungrig.
12.20 Uhr: „Cooking-Service“, ruft plötzlich jemand wie gerufen. Duhr kommt mit dem Mittagessen. Livanca und Andres aus Talinn haben Hähnchenschenkel, Kartoffeln und Salat für alle zubereitet. Sie betreiben zu Hause in Estland einen Fährbetrieb zwischen Helsinki und Tallinn. „Wir lieben Abis Wein, aber bei uns wächst keiner, es ist zu kalt“, sagt Andres. 20.000 bis 30.000 Flaschen verlassen den Betrieb in Grevenmacher jährlich. In Estland steht er ebenfalls in den Geschäften. „Bei uns gilt der Wein als Spitzenprodukt“, sagt Andres. Seit drei Jahren kommen die beiden nach Grevenmacher zur Weinlese. Vor zwei Jahren haben sie die Verpflegung der Erntehelfer übernommen.
12.30 Uhr: Mit Blick auf das geschäftige Mertert-Wasserbillig tief unten im Moseltal schmeckt das Essen umso köstlicher.
13.30 Uhr: Danach liegt ein weiteres Mal der Steilhang vor mir, aber nach zwei Aufstiegen habe ich dazugelernt. Ich nehme ihn auf allen Vieren in Angriff. „Sieht aus wie bei Mogli“, witzelt Thomas. Es funktioniert in diesen Lagen sogar im Turbotempo. Das wird ein schöner Muskelkater …
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