Film / Befreiende Amnesie: Laura Schroeder über ihren neuen Spielfilm „Maret“
Drei Jahre nach unserem letzten Gespräch auf der Berlinale hat sich das Tageblatt in den Red-Lion-Studios mit der Regisseurin Laura Schroeder über Gedächtnisverlust und Identitätssuche, die Insel Lanzarote, die Schauspielerin Susanne Wolff sowie die spannenden Formspiele ihres neuen Films „Maret“, der auf dem LuxFilmFest im Wettbewerb Premiere feierte, unterhalten.
Februar 2020: Ein paar Wochen vor dem Ausbruch einer Pandemie, die die Welt im Allgemeinen und die Kulturszene insbesondere aus den Fugen bringen sollte, treffen wir die Regisseurin Laura Schroeder auf der Berlinale, wo sie 2017 ihren Debütfilm „Barrage“ mit Isabelle Huppert in der Forum-Auswahl vorstellte.
2020 war sie dort auf dem Koproduktionsmarkt, um einen spanischen Produzenten für ihr neues Projekt „Maret“, ein Film über eine Frau, die ihr Gedächtnis verliert, zu gewinnen. Nach unserem Interview in der Hotellobby des Golden Tulip versuchten die Regisseurin und ich, einer aufgebrachten iranischen Schauspielerin zu helfen, die sich mit einem widerspenstigen Galakleid herumplagte. Wenig später erblickten wir die Iranerin auf dem „Patt“ der Luxemburger Botschaft – denn es handelte sich um niemand anders als Behnaz Jafari, die Hauptdarstellerin von „Yalda, A Night for Forgiveness“, eine der Luxemburger Koproduktionen der Berlinale-Auflage 2020.
Drei Jahre später: Das Golden Tulip hat die Pandemie nicht überlebt, der Iran weitaus Schlimmeres als der defekte Reißverschluss eines Galakleides erfahren – und „Maret“ startet dieser Tage in den Luxemburger Kinos, nachdem der Film im Wettbewerb des LuxFilmFests Premiere feierte – und von einer wenig nuancierten hiesigen Kritik bereits unfairerweise verrissen wurde.
Dabei ist „Maret“ ein anspruchsvoller, komplexer Film über eine gescheiterte, als Werbeagentin umgeschulte Künstlerin, die ihr Gedächtnis verliert und nach Lanzarote reist, um sich dort in der Klinik der mysteriösen Ärztin Moore allerlei Tests zu unterziehen, nur um herauszufinden, dass es vielleicht besser wäre, ihr frühes Ich hinter sich zu lassen und die Freiheit der Amnesie zu genießen. Was sie eigentlich auch plant – bis ihr (Ex-)Partner auf der kanarischen Insel auftaucht, um sie mit der eigenen Vergangenheit zu konfrontieren.
„Maret“ ist dabei eine Art Gegenpol zu Christopher Nolans „Memento“ – und stellt nicht nur die Frage des Bindegliedes zwischen Gedächtnis, Selbsterzählung und Identitätsstiftung, sondern hinterfragt auch unseren Wunsch nach andauernder Selbstoptimierung und der einhergehenden Unterdrückung unserer fragwürdigeren Impulse.
Tageblatt: Wie hat sich das Projekt seit unserer letzten Begegnung auf der Berlinale entwickelt?
Laura Schroeder: An meinen Drehbüchern arbeite ich bis zum Beginn der Dreharbeiten, weil sich verschiedene Ideen erst im Laufe der Zeit konkretisieren, andere Aspekte in der Reibung mit der Außenwelt ändern – insbesondere die Wahl der Schauspieler und der Drehorte kann einen maßgeblichen Einfluss auf das Projekt haben. So gab es bei „Maret“ dieses Casting, im Laufe dessen wir die Szenen zwischen Maret und einem Schauspieler, der Elias [ihrem ehemaligen Liebhaber, Anm. der Red.] verkörpern sollte, gespielt haben. Während des Castings habe ich gemerkt, dass diese Szenen in ihrer damaligen Form zu sehr wiederholten, was bereits davor im Film erzählt wurde. Ich verfügte dann glücklicherweise noch über ein paar Monate, um noch mal alles umzukrempeln – aber festzustellen, dass eine Szene in ihrer Umsetzung nicht klappt, kann einen schon aus dem Konzept bringen. Mit der Realität – den Schauspieler*innen, dem Dekor – zu schreiben ist definitiv spannend, kann aber auch eine große Auswirkung auf ein Projekt haben.
Wie herausfordernd war es, aktuelle Forschungen im Gebiet der Neurowissenschaften in eine Fiktion einzubetten, ohne den Film dabei zu didaktisch oder dokumentarisch zu gestalten? Wie erreicht man das Gleichgewicht zwischen Wissenschaft, Ethik und der filmischen Erzählung, bei der das Menschliche im Zentrum steht?
Es war definitiv eine Herausforderung, die Komplexität des Themas auf ein Niveau zu bringen, wo es für das Publikum verständlich bleibt, ohne es zu sehr zu vereinfachen. Ich denke, im Drehbuch, das ich zusammen mit Judith Angerbauer geschrieben habe, bleibt die Sache stets so komplex, dass sich das Publikum auch darauf einlassen muss. Es war uns wichtig, ausreichend Informationen zu geben, ohne dabei den Eindruck zu vermitteln, eine Art Fernsehdokumentation zum Thema zu drehen – in dem Sinne ist die von Iben Hjejle hervorragend gespielte Ärztin Moore wesentlich, weil sie rätselhaft, für manche sogar angsteinflößend wirkt, sich auf jeden Fall nicht auf eine rein didaktisch-pädagogische Figur reduzieren lässt. Auch beim Schnitt kam die Frage immer wieder auf: Wie viel behalten wir, wie viel kann weg? Für mich ist es wichtig, dass der Zuschauer Maret durch ihren Prozess begleiten kann, dass man versteht, was in ihrem Kopf passiert – nur so kann man, glaube ich, den zweiten Teil des Films begreifen. Die Ärztin findet manchmal Bilder, beschreibt den Prozess des Gedächtnisschwundes, dieses Fugue States, als eine Art Erdrutsch: Damit soll Maret, aber natürlich auch der Zuschauer, verbildlicht bekommen, was vorgeht.
Wie hast du Recherchen konkret geführt?
Sich von der Definition, die man von sich selbst hat oder die andere von einem haben, zu lösen, ist doch irgendwo unglaublich befreiendRegisseurin
Während des Schreibprozesses war ich in Kontakt mit zwei Ärzten. Einer davon, ein deutscher Arzt, der mich auch mit zu einer OP nahm, wollte eigentlich Ingenieur werden und hatte eine ganz pragmatische, trockene Art, sich auszudrücken, sodass ich manchmal dachte, er würde gerade Spaß machen, obwohl er das nicht tat. Mich hat dieses Pragmatische interessiert: Wenn ich im Kopf dies oder das ändere, hat das diesen oder jenen Effekt. Denn irgendwie geht es in „Maret“ ja auch um diesen sehr zeitgenössischen Wunsch, uns ständig zu optimieren, uns upzudaten und zu perfektionieren, um zu besseren Menschen zu werden, was auch immer das bedeuten mag. Während des Schreibprozesses habe ich „Brave New World“ noch mal gelesen – und so kam die Frage auf: Wenn es die Wissenschaft erlaubt, unsere Schattenseiten, all das, was wehtut, auszumerzen – sollten wir das dann auch tun?
In den meisten Filmen über Amnesie versuchen die Figuren, ihr Gedächtnis wiederzufinden. Das möchte Maret anfangs auch – aber immer mehr erhält man den Eindruck, dass sie sich dagegen wehrt, zu entdecken, wer sie eigentlich war. War es eine bewusste Wahl, gegen den klassischen Erzählbogen dieser Gedächtnisschwundfilme zu gehen – oder hat sich diese Entscheidung aus der Entwicklung der Figur herauskristallisiert?
Es ist wohl ein bisschen etwas von beidem. Sei es jetzt Christopher Nolans „Memento“ oder Aki Kaurismäkis „Der Mann ohne Vergangenheit“: In beiden Filmen versuchen die Figuren, herauszufinden, wer sie sind oder waren. Es wurde mir relativ früh klar, dass mir das nicht ausreicht, einerseits, weil es das bereits gibt, andererseits aber auch, weil ich das Gefühl der Befreiung darstellen wollte, das mit dem Selbstverlust einhergeht. Sich von der Definition, die man von sich selbst hat oder die andere von einem haben, zu lösen, ist doch irgendwo unglaublich befreiend. Anfangs möchte Maret ja schon ihr Leben zurück: Deswegen geht sie ja zu Dr. Moore. Als sie jedoch nach den Testergebnissen merkt, dass es laut Moore in ihrem Leben etwas gibt, das zu kennen sie noch mehr destabilisieren würde, entscheidet sie sich bewusst, dies abzublocken. Deswegen gibt es auch diese zentrale Szene des Rituals – weil es auch da um die freiheitsstiftende Tugend des Kontrollverlusts geht. Und deswegen sind die paar Szenen, bevor Thomas auf Lanzarote auftaucht, auch die wenigen Momente, in denen Maret wirklich glücklich ist. Denn Thomas kreuzt dort auf, um ihr mitzuteilen, dass er ihr diese von der Last der Erinnerung an vergangene Traumata befreite Version ihrer selbst nicht durchgehen lässt, dass das zu leicht ist.
Deine Hauptfigur – sowie auch die meisten Nebenfiguren – sind keine einfachen Sympathieträger …
Ich möchte keine Figuren zeichnen, die schwarzweiß sind. Das war bereits bei „Barrage“ so, ich habe aber den Eindruck, dass „Maret“ den Zuschauer noch stärker dazu herausfordert, sich zu fragen, ob er die Figur jetzt sympathisch findet oder nicht. Ich suche quasi diese Spannung, diese Reibung, wehre mich dagegen, Filme zu machen, in denen Figuren gute oder schlechte Menschen sind, was ich stets ein bisschen manipulativ finde.
Wie wichtig war das Setting, also die Wahl der kanarischen Insel Lanzarote? Man spürt ja quasi, wie die Leere dieser Vulkaninsel das Innenleben der Hauptfigur widerspiegelt …
Neben der Kargheit dieser Wüstenlandschaft hat mich die Offenheit des Raumes interessiert: Auf Lanzarote kannst du dich nicht verstecken. Da ich ein Fan von Wim Wenders „Paris, Texas“ bin und auch Antonionis Art, sich in einem Film wie „La notte“ mit Landschaften auseinanderzusetzen, mag, reizt es mich, meine Figuren in ein für sie wenig familiäres Umfeld zu setzen. Lanzarote hat mich aber nicht nur filmisch interessiert: Ich selbst gehe regelmäßig dorthin und habe den Eindruck, dort ablegen zu können, was man anderswo denkt, sein zu müssen. Für mich sind sowohl die Dörfer als auch die Landschaften aus der Zeit gefallen. Im Nationalpark Timanfaya gibt es Plätze, wo noch kein Mensch je Fuß gefasst hat – in einer vom Menschen fast vollständig besiedelten Welt ist das eine Seltenheit.
Ich wehre mich dagegen, Filme zu machen, in denen Figuren gute oder schlechte Menschen sind, was ich stets ein bisschen manipulativ findeRegisseurin
Inwiefern hat die Zusammenarbeit mit Susanne Wolff den Film beeinflusst?
Ich habe bereits sehr früh an Susanne Wolff für die Figur von Maret gedacht, weil ich ihr Schauspiel kannte, vor allem aus Stücken des Deutschen Theaters, die auch hier in Luxemburg aufgeführt wurden. Was mir besonders gefiel war ihr sehr physisches Spiel, ihre Art, ihren Körper in ihre Rollen einzusetzen. Sie hat ziemlich früh eine Version des Drehbuchs lesen können, sagte sofort zu und wir haben uns viel über die Rolle ausgetauscht, sodass auch viel ihres Wesens in die Figur eingeflossen ist. Man könnte fast sagen, Maret besteht aus drei Teilen: Ein Teil ist fiktional, ein Teil Susanne Wolff, ein Teil bin ich. Während des Drehs habe ich mich dann auch ganz auf ihre Art, eine Rolle zu spielen, eingelassen.
Hat sich der Rest vom Casting um Marets Figur herum aufgebaut? Und wie hat sich das Gleichgewicht zwischen Luxemburger und ausländischen Nebenrollen ergeben?
Dieses Gleichgewicht zwischen Luxemburger und ausländischen Schauspielern ist natürlich, wie auch die Wahl des Settings, ein Spiel mit den Produktionsregeln. Für die Szenen, die nicht auf Lanzarote spielen, hatte ich je einen Ort in Hamburg und einen in Luxemburg, das Gleiche galt für viele Nebenfiguren, für die ich Rollen in Luxemburg und in Hamburg gecastet hatte. Die Entscheidungen, die man dann treffen muss, sind nicht immer einfach, weil es um Kostenpunkte und Drehtage geht. Man entscheidet sich dann, diese eine Szene in Hamburg zu drehen und deswegen diesen anderen Luxemburger Schauspieler zu casten. Für die meisten Rollen war Susanne beim Casting dabei – was wichtig war, weil sich so herauskristallisiert hat, wer passt und wer nicht. So hatten wir beispielsweise August Diehl für die Rolle von Thomas im Casting. Diehl war toll – aber er brachte etwas sehr Verletzliches mit, und mir wurde klar, dass, wenn wir ihn casten, dies die Figur von Thomas grundsätzlich ändern würde, dass Thomas dann selbst mit einer Vergangenheit und einer psychischen Wunde mitkommen würde, die Figur dann zu viel Platz einnehmen würde. Für Maret war er eine Art Anker, sie ging nicht zu ihm, um seine Zerbrechlichkeit aufzufangen. Sie musste ihm die Wunde zufügen, er durfte diese also nicht bereits davor haben. Dies im Casting festzustellen hat einerseits meine Intuition, was die Figur von Thomas anbelangt, bestätigt – aber mich auch andererseits gezwungen, August Diehl abzusagen.
Wie hast du entschieden, an welcher Stelle die verschiedenen diegetischen Brüche des Films auftauchen? Wie wichtig sind diese Formspiele?
Einige Ideen kamen bereits während des Schreibprozesses, andere erst während des Schnitts. Ich denke da unter anderem an eine Szene, in der Maret und Thomas streiten. Es gab zwei Aufnahmen, auf denen man Maret sieht, wie sie gegen eine Wand steht. Beide waren interessant – und haben etwas ganz anderes erzählt. Während im Film Ton und Zeit weiterlaufen, wird der Bildablauf unterbrochen und etwas anderes erzählt, wird eine andere mögliche Version von Maret dargestellt: Diese Art Bruch, Verfremdung oder Verschiebung suggeriert, dass es eine ähnliche oder dieselbe Streitsituation vielleicht schon gegeben hat. Dieses Formspiel, das eine Wiederholung der Vergangenheit andeutet, ist umso wichtiger, da ich von Anfang entschieden hatte, dass der Film ohne Flashbacks auskommt, sodass diese Szene es erlaubt, trotzdem etwas über die Vergangenheit der Figur auszusagen. Nachdem uns diese Idee gekommen war, fiel uns auf, dass man diesen Prozess auch anderswo einsetzen kann, ohne ihn wie ein Muster zu wiederholen oder systematisch applizieren zu wollen.
Es gibt zudem diese Stellen, an denen die extradiegetische Musik abrupt aufhört …
Während des Schnitts wollte ich irgendwann gar keine Musik mehr, weil ich den Eindruck erhielt, das wäre die Schicht zu viel, dass die Musik etwas über die Figur aussagen würde, was eigentlich bereits erzählt wurde. Ich habe die Musik dann auf das Klavier reduziert. Ich hatte stets den Eindruck, dass der Film in fünf Kapitel oder Schlüsselmomente unterteilt ist und die Musik den Übergang von einem Moment zum nächsten untermalen sollte – und dass die fünf Stücke von Schumann, die ich letztlich gewählt habe, etwas erzählten, was noch nicht im Film war. Die Musik dann so abrupt zu unterbrechen: Ich glaube, das ist Teil dieser Idee, die ich hier noch mehr als in „Barrage“ ins Zentrum stellen wollte, dass meine Figuren nicht so leicht greifbar sind, dass Menschen anders sind, als man denkt. Deswegen will „Maret“ dem Zuschauer kurz etwas hinhalten, um ihm dann zu zeigen, dass man nicht genau bekommt, was man erwartet, dass manche Sachen unergründlich bleiben. Und die Idee, die Musik dann abrupt zu stoppen, soll genau das auf klanglicher Ebene vermitteln.
Gibt es bereits Zukunftsprojekte?
Ja, es gibt sogar zwei davon. Beide könnten nicht unterschiedlicher sein – und begeistern mich beide. In einem davon beschäftige ich mich mit einem Fait divers, der Luxemburg in den 2000ern aufgewühlt hat, und dem Prozess, der danach stattfand. Das wird mein erster Film mit einem soziopolitischen Einschlag. Und beim zweiten Projekt soll die Story, in der es um drei Menschengruppen geht, mehr in den Hintergrund rücken – der Schwerpunkt soll hier auf dem Poetisch-Atmosphärischen liegen und ich möchte gleichzeitig Erzählung, Fiktion und Produktionsaufwand reduzieren.
Info
Die Premiere am 6. Juni um 19.30 Uhr im Utopia wird von einem „Ciné-Débat“ mit der Regisseurin, Dr. Frank Hertel (Chef der Neurochirurgie im CHL) und Dr. Dirk W. Droste (Neurolog im CHL) gefolgt. Moderiert wird das Gespräch von Duncan Roberts.
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