Reportage / Belarussische Dissident Gnjot: „Wenn Serbien mich ausliefert, drohen Folter und Tod“
Eine Geschäftsreise hatte den belarussischen Dissidenten Andrej Gnjot vor über acht Monaten aus dem thailändischen Exil nach Serbien geführt. Seitdem schmort der TV-Produzent beim EU-Anwärter in Auslieferungshaft. Minsk wirft ihm angebliche Steuervergehen vor. Gnjot fürchtet Folter – und den Tod.
In der Küche dampft der Teekessel. Eine leichte Sommerbrise streicht durch das geöffnete Fenster. Doch digitale Zwangsmittel schränken die Bewegungsfreiheit des freundlichen Gastgebers nachhaltig ein. „Wenn ich von meinem Freigang nach einer Stunde nicht pünktlich zurückkomme, wandere ich sofort wieder ins Gefängnis“, sagt der weißrussische Dissident Andrej Gnjot in einer für den Hausarrest notgedrungen angemieteten Wohnung in Serbiens Hauptstadt Belgrad – und weist achselzuckend auf einen blinkenden Überwachungssender und seine schwarze Fußfessel.
Noch mehr als sein derzeitiger Zwangsaufenthalt in den fremden vier Wänden macht dem TV-Produzenten jedoch die ihm drohende Perspektive einer Abschiebung nach Minsk zu schaffen: „Wenn Serbien mich nach Weißrussland ausliefert, drohen mir Folter – und Tod.“ Irgendeine Straftat hat sich der Mann mit dem sorgfältig gepflegten Bart in seinem Gastland keineswegs zu schulden kommen lassen. Aber dennoch schmort der 42-Jährige bereits seit über acht Monaten in Haft. Der Grund: Ein von Interpol inzwischen annullierter internationaler Haftbefehl der weißrussischen Justiz wegen angeblicher Steuerhinterziehung.
Liefert ausgerechnet ein EU-Beitrittskandidat einen Dissidenten an das von der EU wegen grober Menschenrechtsverletzungen sanktionierte Regime des Autokraten Alexander Lukaschenko aus? In erster Instanz hat Serbiens Justiz dem weißrussischen Auslieferungsbegehren bereits zugestimmt. Unabhängig vom Ausgang des Berufungsverfahrens wird in letzter Instanz Serbiens Justizministerin Maja Popovic über das Schicksal von Gnjot entscheiden: Sie kann den Richterspruch bestätigen – oder verwerfen. Letztendlich sei es eine „politische Entscheidung“, seufzt der um sein Leben bangende Journalist: „Nicht Lukaschenko hält mich hier schon seit über acht Monaten fest, sondern Serbien.“
Die Rache des Regimes
Der sportbegeisterte Diktator kochte vor Wut. Nach der Niederschlagung der Massenproteste gegen die verschobene Präsidentschaftswahl im August 2020 hatte die unabhängige Sportlerorganisation SOS.BY beim Internationalen Olympischen Komitee (IOC) nicht nur Lukaschenkos Rücktritt als Chef des Nationalen Olympia-Komitees (NOK) erwirkt, sondern auch die Einstellung der jährlichen IOC-Zahlungen von 1,5 Millionen Euro an das weißrussische NOK erzwungen.
Statt in Minsk flitzte im Juni 2021 der WM-Puck im lettischen Riga über das Eis, als Gnjot die Rache des Regimes in Form einer Vorladung zum KGB-Verhör ereilte. „Mein Anwalt sagte mir am Telefon, Du hast nur ein paar Stunden Zeit, das Land zu verlassen, sonst wirst Du verhaftet“, erinnert sich der Weißrusse an den 13. Juni 2021 – den Tag, an dem seine Exil-Odyssee begann.
Noch mehr sollte den starken Mann in Minsk die von SOS.BY geforderte Absage der Eishockey-WM 2021 in Weißrussland treffen. „Lukaschenko wollte die WM zu einer Propagandaveranstaltung für sein Regime machen“, berichtet SOS.BY-Mitbegründer Gnjot: Der Journalist half den Sportlern mit seinen Kontakten und einem Instagram-Profil, sich weltweit Gehör zu verschaffen.
Gnjot hastete umgehend zum Flughafen und kaufte sich ein Ticket für den erstbesten Flug nach Moskau. Wie in der Heimat verdiente er sich zunächst auch in Russland mit der Produktion von Werbespots ein Auskommen. Doch der russische Einmarsch in der Ukraine und der Kriegsschulterschluss zwischen Moskau und Minsk nötigten ihn erneut zur Flucht. Die Übersiedlung nach Bangkok Mitte 2022 habe ihn 95 Prozent seiner Kundschaft gekostet, so Gnjot. Doch für seine westlichen Auftraggeber konnte er auch von Bangkok aus arbeiten: „Dafür musste ich allerdings in andere Staaten fliegen.“ Im August 2023 kam Gnjot erstmals nach Serbien, um für einen französischen Konzern einen Werbefilm zu drehen: „Alles verlief damals prima, es gab keinerlei Probleme.“ Ende Oktober machte er sich für einen schwedischen Auftraggeber erneut in den Balkanstaat auf: „Das war ein fataler Fehler.“
Am Belgrader Flughafen nahm ihm die Grenzpolizei sofort den Pass ab – und pferchte ihn acht Stunden lang mit dutzenden Flüchtlingen aus Nahost ein: „Als ich um Wasser bat, sagte mir ein Polizist, dass ich doch das Wasser aus der Toilettenschüssel trinken könne. Und am Abend fingen sie an, vor meinen Augen drei weinende Flüchtlinge zu verprügeln. Es war einfach schrecklich.“ Der ahnungslose Geschäftsreisende wusste nicht, dass die weißrussische Justiz ihn wegen angeblicher Steuerhinterziehung im September 2023 per Interpol-Haftbefehl zur Fahndung hatte ausschreiben lassen. Der Vorwurf von Steuervergehen werde von Minsk sehr oft zur Verfolgung von Regimekritikern genutzt, so Gnjot: So seien auch der Präsidentschaftskandidat Viktor Babariko oder der Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki aufgrund des berüchtigten Artikels 234 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden.
Zwischen Mördern und Drogendealern
Auch der Autor des Minsker Fahndungsgesuchs hätte Interpol eigentlich stutzig machen müssen: Der Staatsanwalt, der den Haftbefehl gegen Gnjot abzeichnete, steht wegen politischer Schauprozesse bereits seit 2011 unter EU-Sanktionen. Erst bei seiner Vorführung beim Hohen Gerichtshof in Belgrad wurde Gnjot eröffnet, dass Minsk nach ihm fahnden lasse. Die „völlig gleichgültige“ Richterin habe bei seinen Ausführungen über die Lage der 1.600 politischen Gefangenen in Weißrussland „nur gelächelt“: „Sie sagte, dass sie meinen Geschichten nicht glaube und dass ich nicht über genügend Beweise verfüge. Obwohl ich bestätigte, dass ich Mittel für einen Verbleib im Hotel habe, ordnete sie wegen Fluchtgefahr meine Überführung ins Belgrader Zentralgefängnis an.“
Über sieben Monate harrte Gnjot hernach zwischen Mördern und Drogendealern bei nur zwei Stunden Hofgang am Tag in einer beengten Gemeinschaftszelle aus. Das Schlimmste sei seine „Isolation“ und die „katastrophale“ medizinische Versorgung gewesen: „Ich spreche kein Serbisch. Und fast niemand im Gefängnis sprach Englisch.“ Nur Telefonate mit den engsten Verwandten seien in der Haft erlaubt, aber nach Minsk nicht möglich gewesen. Auch das Recht, Besuche und Pakete von Verwandten zu empfangen, blieb ihm verwehrt, weil er in Serbien keine Angehörigen hat: „Ich hatte keine Besucher, keine Telefonate, keine Pakete, keine normalen Konversationen.“
Doch nicht nur die ihm verweigerten Medikamente für seine Migräneanfälle und die wiederholte Ablehnung seiner Anträge auf Hausarrest machten ihm in der Haft zu schaffen. Mitte Dezember erhielt er die Nachricht, dass der Hohe Gerichtshof seine Auslieferung beschlossen habe, ohne ihn vorab anzuhören. Gnjot legte Berufung ein: Wegen Verfahrensfehler wurde das Urteil in zweiter Instanz für nichtig erklärt – und der Fall an die erste Instanz zurückverwiesen. In dem neu aufgerollten Verfahren legte Gnjot zwar unzählige Dokumente vor, die seine Gefährdung bei einer Auslieferung klar dokumentierten. Doch Ende Mai entschied der Hohe Gerichtshof erneut, dass eine Auslieferung möglich sei.
Faustpfand zwischen Ost und West?
Nach seiner eingelegten Berufung harrt der erst im Juni in den Hausarrest verlegte Gnjot nun auf die erneute Anhörung vor Gericht. Über sein Los bei einer Auslieferung macht er sich „keine Illusionen“. Da sowohl SOS.BY als auch die Medien, für die er arbeitete, zu „extremistischen Organisationen“ erklärt worden seien, könne er allein für seine Mitarbeit zu 28 Jahren Straflager verurteilt werden. Ende Juni hat Interpol den offensichtlich politisch motivierten Haftbefehl gegen Gnjot zwar endlich annulliert. Belgrad verfolgt sein Auslieferungsverfahren mit Verweis auf ein bilaterales Justizabkommen mit Minsk dennoch weiter.
Er wisse „wirklich nicht mehr“, was er von seinem Gastland denken soll, sagt Gnjot: „Einerseits wirken die Leute hier wie normale Europäer in einem normalen europäischen Land: Selbst meine Wachleute im Gefängnis waren freundlich und höflich. Andererseits haben mich bisher zwar jede Menge westlicher Diplomaten, aber noch kein Offizieller der Regierung kontaktiert.“ Schon seit der Ära des Autokraten Slobodan Milosevic unterhält Belgrad enge Bande zum Diktator in Minsk. Will Serbiens allgewaltiger Staatschef Aleksander Vucic den zufällig in die Justizmühlen des Balkanstaats geratenen Gnjot als weiteres Faustpfand bei seinem Schaukelkurs zwischen Ost und West nutzen? „Ich weiß nicht, was hier gespielt wird und was der Sinn davon ist“, sagt Gnjot. Offen bleibe für ihn auch die Frage, warum Interpol den Haftbefehl nicht erst sorgfältig überprüft habe, statt ihn nach acht Monaten nachträglich und spät zu annullieren: „Aber ich klage nicht. Ich kämpfe um mein Leben.“
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