Pflege in Luxemburg / „Beruf attraktiv für Junge machen“: Die „Chief Nursing Officer“ über ihre Aufgaben und Ziele
Das Jahr 2020 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Jahr der Krankenpfleger und Hebammen erklärt. Am 12. Mai, dem Internationalen Tag der Krankenpflege, hatte das luxemburgische Gesundheitsministerium angekündigt, den Posten eines „Chief Nursing Officer“ ab dem 1. Juni zu besetzen. Michèle Wolter hat ihr neues Büro bezogen – und einen Haufen Arbeit vor sich.
Tageblatt: Der Posten des „Chief Nursing Officer“ wurde neu geschaffen, ist das richtig?
Michèle Wolter: Nicht ganz, eigentlich trage ich den Titel schon seit acht Jahren. Er stammt von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die jedes Jahr ein Treffen von internationalen „Chief Nursing, Chief Medical und Chief Dental Officers“ organisiert. Ich trug den Titel also, um Luxemburg bei diesem Meeting zu vertreten.
Was hat sich seit dem 1. Juni verändert?
Bisher habe ich in der „Direction de la santé“ gearbeitet, wo ich keine große Sichtbarkeit gegenüber jenen hatte, die den Arbeitsalltag in Pflegeberufen meistern. Deshalb entschied die Gesundheitsministerin, mich ins Ministerium zu versetzen. Das bedeutet eine enorme Wertschätzung gegenüber der Arbeit von Pflegekräften. Diejenigen, die in dem Bereich arbeiten, wissen jetzt, dass es mich gibt und wo sie mich finden. Davor war das leider nicht so einfach.
Welche Rolle haben Sie als „Chief Nursing Officer“?
Zum Jahr der Krankenpfleger und Hebammen hat die WHO den „State of the World’s Nursing Report“ veröffentlicht. Darin werden Regierungen und betroffene Akteure dazu aufgerufen, in Fortbildung, Arbeitsplätze und Leadership von Krankenpflegern zu investieren. Darauf basiert meine Mission im Gesundheitsministerium. In erster Linie bin ich die Kontaktperson für Krankenpfleger und andere Gesundheitsberufe.
Was ist Ihnen in Ihrer neuen Rolle besonders wichtig?
Die Zusammenarbeit liegt mir besonders am Herzen. Auf der einen Seite mit den anderen Ministerien, denn Altenheime, die Betreuung von Menschen mit einem Handicap und häusliche Pflege fallen zum Beispiel unter die Verantwortung des Familienministeriums. Die Ausbildung von Krankenpflegern liegt beim Bildungs- und Hochschulministerium. Auf der anderen Seite aber auch die Zusammenarbeit mit denen, die im Pflegebereich arbeiten. Es soll auf keinen Fall über ihren Kopf hinweg entschieden werden. Dazu gehören zum Beispiel die „Directions de soins“ der verschiedenen Kranken- und Pflegehäuser, aber auch die professionellen Vereinigungen, darunter die ANIL („Association nationale des infirmières et infirmiers du Luxembourg“), die ALSF („Association luxembourgeoise des sages-femmes“) oder die ALAS („Association luxembourgeoise des aides-soignant(e)s“). Sie sollen bei den anstehenden Diskussionen dabei sein und mit darüber entscheiden können, wie unser Gesundheitssystem in der Zukunft aussehen soll. Diese Zusammenarbeit hat in den vergangenen Jahren gefehlt und ich will den Wechsel ins Gesundheitsministerium nutzen, um Kontakt herzustellen.
Wieso kam diese Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren zu kurz?
In der „Direction de la santé“ war ich an eine strenge Hierarchie gebunden und es war schwerer, Entscheidungen zu treffen. Mit dem Posten im Gesundheitsministerium wurde mir eine viel größere Autonomie zugesprochen. Zudem ist der Kontakt zu den Pflegekräften viel direkter.
Demnach werden Sie jetzt auch in politische Diskussionen mit eingebunden.
Ja, ich diskutiere mit, wenn es um die Organisation der Pflegepolitik und die Pflegestrategie geht, die Luxemburg sich jetzt für die kommenden 15 Jahre geben will. Dazu gehört die Analyse von Daten: Woher kommen die Angestellten in unseren Gesundheitsberufen, wie alt sind sie, in welchen Bereichen arbeiten sie und so weiter. Basierend darauf muss ich berechnen, wann sie in Rente gehen und wann wir neue Pfleger brauchen.
Fällt auch die Aufwertung der Pflegeberufe in Ihren Kompetenzbereich?
Auf jeden Fall. Der Beruf soll wieder attraktiv für junge Menschen werden. Ich sammele Ideen dazu, wie die Funktion des Krankenpflegers in unserem Gesundheitssystem viel klarer definiert werden kann. Diese Person ist nicht nur Ausführer technischer Handlungen, sondern hat eine große Eigenrolle in der Pflege. Sie ist es, die in ständigem Kontakt mit den Patienten steht.
Das „Règlement grand-ducal“ der Krankenpfleger stammt aus dem Jahr 1978. Das, was darin steht, entspricht überhaupt nicht mehr der Realität des heutigen Arbeitsalltags.Chief Nursing Officer
Welche dringenden Baustellen wurden bisher von den Pflegekräften an Sie herangetragen?
Es gibt einige Dinge, die bereits an mich herangetragen wurden. Zum Beispiel ist die Arbeit der Krankenpfleger komplett auf medizinische Verschreibung aufgebaut. Kleine Dinge, sei es ein Rollstuhl oder einen bestimmten Verband, müssen dem Krankenpfleger vom Arzt verschrieben werden. Dadurch geht viel Zeit verloren.
Gibt es schon erste Ansätze, wie ihr Arbeitsalltag erleichtert werden kann?
Das Gesetz, in dem unsere Gesundheitsberufe verankert sind, stammt aus dem Jahr 1992. Für einzelne Gesundheitsberufe gibt es jeweils ein „Règlement grand-ducal“, in dem der Zuständigkeitsbereich festgelegt ist. Darin steht zum Beispiel, was eine Krankenschwester darf oder was eine Hebamme darf. Das „Règlement grand-ducal“ der Krankenpfleger stammt aus dem Jahr 1978. Das, was darin steht, entspricht überhaupt nicht mehr der Realität des heutigen Arbeitsalltags. Die Technologie hat sich enorm entwickelt, die Menschen werden älter und haben häufiger mehrere Krankheiten gleichzeitig. Die „Règlements grand-ducaux“ müssen unbedingt angepasst werden.
In welchem Zeitraum soll das passieren?
Wir sind gerade dabei, einen neuen Rahmen für das Gesetz von 1992 auszuarbeiten. In naher Zukunft wollen wir mit den betroffenen Akteuren zusammenarbeiten, um zu schauen, welche Bedürfnisse und Wünsche sie haben und wie die Realität im Pflegesektor aussieht. Ich bin eine Beamtin und sitze im Büro. Deshalb ist dieser Austausch mit denjenigen, die den aktuellen Berufsalltag kennen, enorm wichtig.
Was genau können sich Pfleger im Alltag von der Gesetzesänderung erwarten?
Die Rolle und die Kompetenzen der Krankenpfleger sollen stärker hervorgehoben werde. Außerdem sollen diese eine größere Autonomie bekommen. Inwiefern das möglich ist, muss natürlich mit den verschiedenen Akteuren besprochen werden. Ein Krankenpfleger ist im permanenten Kontakt mit dem Patienten und sieht zum Beispiel sofort, wenn ein älterer Mensch nicht genug trinkt. Daraufhin kann er seine Diagnose stellen und entscheiden, was zu tun ist, damit es der Person besser geht.
Welche Schlüsse wurden aufgrund der sanitären Krise gezogen?
Sie hat uns gezeigt, dass wir unser Gesundheitssystem neu denken müssen. Dabei ist es enorm wichtig, dass die Erfahrungen, die während der Krise von den Pflegeberufen gesammelt wurden, mit einfließen. Die Überlegungen gehen in die Richtung, dass primäre Pflege in sogenannten „Centres d’équipes multidisciplinaires“ angeboten wird. Multidisziplinäre Teams bestehend aus Ärzten, Pflegern, Hebammen, Physiotherapeuten und anderen Gesundheitsberufen würden bestimmte Patienten dann in Einrichtungen außerhalb des Krankenhauses versorgen.
Geht das in Richtung der befürchteten Privatisierung des Gesundheitswesens?
Das ist eine politische Entscheidung. Für mich soll das Krankenhaus seine ursprüngliche Rolle zurückerlangen und vermehrt im akuten Bereich arbeiten. Damit die Menschen nicht mehr für das kleinste Wehwehchen in die Notaufnahme fahren. Sie sollen stattdessen in diesen Einrichtungen behandelt werden, genauso wie chronische Patienten, die eine fortlaufende Behandlung brauchen. In welcher Form diese Einrichtungen entstehen sollen, so weit sind wir noch gar nicht. So oder so müssen sie eng mit den Krankenhäusern zusammenarbeiten.
Wird sich im Bereich der Ausbildung in den kommenden Jahren etwas ändern?
Das Modell, nach dem die Krankenpfleger in Luxemburg ausgebildet werden, ist einzigartig. Dass die Schüler schon vor dem Abschluss der „Première“ spezielle Kurse belegen, die zur Ausbildung des Pflegers gehören, macht das ganze kompliziert. Würde nämlich ein Schüler mit Abschluss einen Pflegeberuf in Luxemburg erlernen wollen, müsste er wieder bei „Onzième“ anfangen und vier Jahre weiter lernen, um schlussendlich einen BTS-Abschluss zu haben. Das machen die wenigsten. Stattdessen studieren viele im Ausland und kommen teilweise nicht mehr zurück. Wir bilden hier nicht viele Krankenpfleger aus. Die Krise hat gezeigt, wie unglaublich abhängig wir diesbezüglich von unseren Nachbarländern sind.
Gibt es Überlegungen, wie diese Abhängigkeit in Zukunft vermieden werden soll?
Für mich ist es wichtig, dass wir zu einem großen Teil weg von dieser Abhängigkeit kommen und selbst Gesundheitsberufe ausbilden. Die Weltgesundheitsorganisation rät jedem Land dazu, bis 2030 zwei Drittel seiner Abhängigkeit von Nachbarländern herunterzuschrauben. Das wäre für Luxemburg sehr viel. Dazu muss die Kapazität im LTPS („Lycée technique des professions de santé“) hochgeschraubt werden und wir müssen den Beruf attraktiver gestalten. Für mich heißt das, jetzt keine zehn Jahre mehr warten und diskutieren, sondern etwas umsetzen.
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