Editorial / Betrunken preiskrönen
Der Kulturbetrieb erholt sich so langsam von der Pandemie. Betrachtet man die rezenten Geschehnisse rund um literarische Shortlists und Preisverleihungen im Theater, stellt man fest, dass er dennoch ein wenig eingerostet ist. Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises tummeln sich vor allem relativ gefällige, sich am Zeitgeist und aktuellen gesellschaftlichen Thematiken abarbeitende Werke, während gewagte Avantgarde-Literatur wie das herausfordernde, komplexe, wichtige „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ von Dietmar Dath gänzlich fehlt.
Die Tendenz, quasi einen Quotenexoten auf die Shortlist zu packen, wie das dieses Jahr mit „Zandschower Klinken“ von Thomas Kunst der Fall ist, täuscht nicht über den Umstand hinweg, dass es mittlerweile Tradition hat, gefällige, brave, oftmals blutleere neonaturalistische Literatur auf solche Listen zu setzen. Damit sich niemand aufregt, sorgt man dafür, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller gleichmäßig vertreten sind (was an und für sich gut und wichtig ist) – und hofft wohl, dass so niemand einen genaueren Blick auf die Qualität der ausgewählten Bücher wirft.
Auch die Shortlist des Booker Prize ist auf den ersten Blick relativ ernüchternd: Klar, ein Literaturnobelpreisträger wie Kazuo Ishiguro braucht keinen Booker Prize, dass sein Roman „Klara and the Sun“ es nicht auf eine Shortlist geschafft hat, auf der vergleichsweise (zumindest formal) banale Werke wie „The Fortune Men“ von Nadifa Mohamed fungieren, ist trotzdem absurd.
Dieser Umstand ist nicht nur nach ästhetisch-formalen Kriterien bedauerlich: Dath und Ishiguro schreiben Romane über unsere Zukunft, darüber, wie sie vielleicht einmal ausschauen wird, wenn wir uns nicht mehr Gedanken darüber machen – wie beide Autoren es tun –, wie wir mit der Technik umgehen. Ishiguro schreibt aus der Perspektive einer K.I., die am eigenen digitalen Leib miterlebt, wie empathielos die meisten Menschen sind, Dath fragt sich, wieso der dank Mathematikern gewährleistete technische Fortschritt nicht dafür eingesetzt wird, eine bessere, gleichere Welt zu schaffen.
Und was machen die Jurys? Sie schauen weg, drehen den Blick Richtung Vergangenheit oder Gegenwart, vergessen die Zukunft, finden diese ganze Technik und die Bücher darüber wohl zu kompliziert, zu anstrengend – und verpassen dabei die Gelegenheit, mehr Lesern die Chance zu geben, sich mit genau diesen Themen – und das auch noch mittels spannender, gut geschriebener und gut erzählter Literatur – auseinanderzusetzen. Denn ganz gleich, ob man diese Auszeichnungen jetzt für wichtig oder völlig schwachsinnig hält: Es ist eine Tatsache, dass man preisgekrönten Büchern in der riesigen Menge an Veröffentlichungen eine viel größere Sichtbarkeit gibt.
Im Idealfall entdeckt der Leser somit, wie das mit dem Buchpreis für Anne Weber oder dem Booker Prize für Anna Burns oder George Saunders der Fall war, andersartige Literatur, die er ohne diese Auszeichnung vielleicht gar nicht wahrgenommen hätte. Im tristen Fall liest er, was er so oder so gelesen hätte und die Wirklichkeit banal widerspiegelt. Dafür gibt es aber bereits Tageszeitungen, dafür braucht man eben keine Belletristik.
Da sind die Luxemburger Jurys im Vergleich erfrischend radikal. Ganz gleich, ob die Texte jetzt mutig und avantgardistisch oder naturalistisch und linear waren: Für den ersten Luxemburger Theaterpreis war kein einziger Text, war kein einziger Autor nominiert. Da es kulturgeschichtlich im Luxemburger Theater Tradition ist, Autoren stiefmütterlich zu behandeln, setzt dieser Preis also auf eine gewisse Kontinuität, vergisst aber dabei, dass es ohne Molière, Beckett, Jelinek oder Shakespeare nie Theater gegeben hätte – und auch heute kein Theater mehr geben würde.
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