Gesellschaft / „Betteln ist keine Straftat“: Wie ein Obdachloser nach einem Unfall alles verloren hat
Alex* ist obdachlos. Ein Unfall hat ihn in eine Armutsspirale geschleudert, aus der er sich bis jetzt nicht befreien konnte. Dem Tageblatt gegenüber erzählt er, wie es dazu kam – und wie es ist, ohne festen Wohnsitz in Luxemburg zu leben.
Alex* wartet im Eingangsbereich der Tageblatt-Redaktion. In den Händen hält er seine Mütze und einen großen Briefumschlag, den er dem Journalisten nach einer höflichen Begrüßung überreicht. „Sie können den Umschlag behalten“, versichert er freundlich und richtet seine gepflegte Regenjacke kurz. Alex lebt seit 20 Jahren in Luxemburg, ist obdachlos und hat kein Einkommen – aber er ist kein Bettler. Das betont der über Sechzigjährige in dem zehnseitigen Dokument, das sich im Briefumschlag befindet. Darin beschreibt er seine Lebensgeschichte, seinen Alltag und seine Meinung zum Bettelverbot von Luxemburg-Stadt. Am Tag zuvor hat er sich bereits mit dem Journalisten unterhalten. „Aber ich wollte alles noch einmal aufschreiben“, sagt er mit zitternder Stimme. „Es ist mir wichtig.“
Alex organisierte am Dienstagabend eine Protestaktion vor dem Escher Rathaus. Die Streetworker der Gemeinde verteilen seit kurzem keine unverkauften Lebensmittel mehr. Auch Essensmarken für die „Stëmm vun der Strooss“ und Schlafsäcke gibt es nicht mehr. Der Grund, laut CSV-Bürgermeister Christian Weis: Das Angebot wurde von Menschen, die nicht in tiefster Not stecken, ausgenutzt. Dem widerspricht Alex nicht. „Aber ist es menschlich, diejenigen zu bestrafen, die kein Einkommen haben oder offensichtlich arbeitsunfähig sind, nur wegen eines unbedeutenden Betrugs am Budget der zweitgrößten Stadt Luxemburgs?“
„Unglücksfälle haben sich gehäuft“
Alex will anonym bleiben, genauere Informationen über seinen Lebenslauf würden auf seine Identität schließen lassen. Nur so viel: Er arbeitete als Selbstständiger und befand sich laut eigenen Aussagen in einer finanziell guten Situation. „Doch dann haben die Unglücksfälle sich gehäuft“, erzählt der über 60-Jährige. Nach einem Verkehrsunfall musste er mehrere Monate im Krankenhaus verbringen. Während dieser Zeit konnte er kein Geld verdienen, wodurch er die Sozialbeiträge wiederum nicht bezahlen konnte und seine Sozialversicherung verlor. Das brachte mit sich, dass er kein Arbeitslosengeld beziehen durfte. „Die Prozedur, um Revis (Anm. d. Red.: Einkommen zur sozialen Eingliederung) zu empfangen, hat sechs Monate gedauert, da ich keine Unterstützung vom Sozialamt erhalten habe“, sagt Alex.
Zum Teil konnte er auf sein Gespartes zurückgreifen, doch die Reserven hielten nicht lange. Die unbezahlten Rechnungen häuften sich – ein Gerichtsvollzieher wurde eingeschaltet. „Die Steuerbehörde hat die ausstehenden Beiträge mehrmals direkt von meinen Bankkonten abgebucht. Offiziell bezog ich zwar Revis, aber ich hatte keinen Euro zum Essen, Leben oder Wohnen in der Tasche“, so Alex. Als sein Vermieter dann entschied, die Wohnung zu verkaufen, musste Alex ausziehen. Er war obdachlos, eine neue Wohnung als Revis-Empfänger zu finden, sei unmöglich gewesen und die Warteliste von Abrisud zu lang.
Die Konsequenzen seines Unfalls verfolgen ihn noch immer. Er verspürt regelmäßig lähmende Schmerzen – vor allem, wenn es regnet. „Ich schlafe nachts schlecht, weil ich immer wieder den Unfall vor Augen habe.“ Im Winter muss er manchmal mehrere Tage im Bett liegen bleiben. „Es gibt Tage, an denen kann ich nicht mal einen Stift halten.“
Das Problem mit der „Wanteraktioun“
Alex schläft an vielen verschiedenen Orten. Mit dem Zelt im Wald, in Strohschuppen, Gartenhäusern, in Kellern von im Bau befindlichen Gebäuden oder in unbewohnten Häusern. „Aber immer allein, ohne einzubrechen oder Schäden zu verursachen – und ohne eine Spur zu hinterlassen“, so Alex. Er wechselt regelmäßig den Standort und er ist noch nie einem Jäger, Landwirt oder Wildhüter begegnet. In der „Wanteraktioun“ schläft er nicht. Er kann sich nur ausruhen, wenn er allein ist. Der Mann erzählt von starkem Körper- und Alkoholgestank in den Räumen, manchmal würde sich eine Person übergeben. „Aber am schlimmsten sind die Schlägereien, die Streitereien, die Schreie, die Aggressionen und die Diebstähle – insbesondere von Telefonen.“
Am schlimmsten sind die Schlägereien, die Streitereien, die Schreie, die Aggressionen und die DiebstähleObdachloser
Besonders wohl fühlt er sich in der Bibliothek. „Das ist mein Lieblingsort. Es ist ruhig, es gibt Tische zum Schreiben, Tageszeitungen und Computer, mit denen ich ins Internet komme, um E-Mails zu schreiben oder Recherchen zu machen“, sagt Alex. Ansonsten wärmt er sich auch gerne im öffentlichen Transport auf. Bei der „Stëmm vun der Strooss“ kann er essen und duschen. Zum Einkaufen geht er nach Deutschland, da die Preise dort wesentlich niedriger sind.
Kein Bettler
Alex sieht sich nicht als Bettler. Aber: „Es kommt vor, dass ich betteln muss, um lebensnotwendige Produkte zu kaufen, die die ‚Stëmm vun der Strooss’, ‚Médecins du monde’ oder die Streetworker nicht haben.“ Dazu zählen unter anderem Hygieneprodukte, Batterien für die Stirnlampe oder Gaskartuschen für den Kocher. Ohne diese Hilfsorganisationen sei es unmöglich, auf der Straße zu überleben. Verschiedene Menschen hätten keine andere Wahl als das Betteln, um zu überleben. Die Blicke und Kommentare der Menschen würden ihm sehr zu schaffen machen – es sei erniedrigend. „Für mich ist Betteln der schwierigste Job, den es gibt – und ich war Minenarbeiter“, sagt Alex.
Er ist schockiert, dass das Betteln nun an verschiedenen Orten und zu bestimmten Zeiten in Luxemburg-Stadt verboten ist. Vor allem, weil Bürgermeisterin Lydie Polfer (DP) keine andere Einnahmequelle vorgesehen hat. „Betteln ist keine Straftat – es ist eine offene Hand, um die Gesellschaft nach Hilfe zu fragen. Es ist die letzte Lösung, wenn der Staat und die Sozialdienste versagen und die Vereinigungen, die den Bedürftigsten helfen, an ihre Grenzen stoßen.“
Betteln ist der schwierigste Job, den es gibtObdachloser
Es ist schwierig, eine Arbeit zu finden. Ein manueller Job komme beispielsweise wegen der Unfallverletzungen nicht infrage. Vor allem sei es ohne feste Adresse unmöglich, einen Arbeitskontrakt zu bekommen. Für Alex ist klar: Das grundlegende Problem der sozialen Not in Luxemburg ist das Problem der Wohnungen. Ohne feste Adresse gibt es kein Revis bzw. Einkommen für schwerbehinderte Personen. Damit fange die Armutsspirale an. Laut Alex muss es ein Solidaritätseinkommen in Luxemburg geben, das auch ohne Wohnsitz bezogen werden kann. „Damit könnte man dann in einer Jugendherberge übernachten und sich Brot, Obst und andere Produkte kaufen, um gesund zu bleiben.“
Wie soll Alex’ Leben weitergehen? „Ich muss irgendwie Glück haben und eine Wohnung mit einer legalen Adresse finden.“
* Name auf Nachfrage geändert
- PAG abgeändert: Gemeinde erlaubt den Bau von Tiny Houses - 11. November 2024.
- Die Berichterstattung über „Dëppefester“ ist ein essenzieller Teil unserer Gesellschaft - 4. November 2024.
- Tierschutzverein stößt an seine Grenzen: „Schafft euch nur ein Tier an, wenn ihr Zeit habt“ - 31. Oktober 2024.
As d’Heeschen vu Kanner fir Liichmesdag an Halloween an der Staad dann elo och verbueden?
….Bettelverbot……huët eis nei Equip‘ wiirklich neischt meï Wichtiges um Programm?
Ass dat all Ärt Matgefill wat der dene Léit do entgéint brenge kënnt? Ass et net zum Dél déi Mentaltéit do, dei verschidde Léit un eiser Gesellschaft verzweifelen dét?