Editorial / „Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr“: Der Fall Till Lindemann
„You’ve got a pussy, I have a dick, ah/So what’s the problem? Let’s do it quick/So take me now before it’s too late/Life’s too short so I can’t wait/Take me now oh, don’t you see?/I can’t get laid in Germany.“ Im Rammstein-Song „Pussy“ persifliert Sänger Till Lindemann deutschen Sextourismus, im Auge des Literaturwissenschaftlers zitiert er mit dem Vers „Life’s too short so I can’t wait“ gar fast Ronsards „Mignonne allons voir si la rose“ – aus heutiger Sicht wird aber klar, dass er hier wohl auch beschreibt, was sich regelmäßig im Backstagebereich nach Rammstein-Konzerten zugetragen haben soll.
Denn die Liste der Übergriffigkeiten in der Rockszene schwillt an, um es mit Lindemanns lüsterner Prosa auszudrücken, wie das „Teil“ des Rammstein-Sängers: Nach Jesse Lacey (Brand New), Brian Warner (Marilyn Manson) oder Win Butler (Arcade Fire) soll nun auch Till Lindemann sich an weiblichen Fans sexuell vergriffen haben. Zudem sollen Drogen und eine „Casting“-Direktorin, die Fans fürs Backstage rekrutiert habe, im Spiel gewesen sein, sodass der Verdacht besteht, es habe ein regelrechtes System gegeben, um die sexuellen Ansprüche des Sängers zu befriedigen, dessen Biografie sich offenbar mehr mit den monströsen Figuren seiner Texte deckt, als man anzunehmen wagte.
Grund genug, den Song „Pussy“, dessen Verse große lyrische Momente wie „Steck Bratwurst in dein Sauerkraut“ oder „Blitzkrieg mit dem Fleischgewehr“ beinhalten, von der Setlist zu streichen, als sich die Band trotz der rezenten Vorfälle entschied, ihren Auftritt in München nicht etwa zu canceln, sondern unter leicht geänderten Auflagen stattfinden zu lassen. So kommt die Peniskanone, mit der Lindemann die Fans während des Songs besamte, nicht mehr zum Einsatz.
Durch das Ausradieren der Elemente fiktionaler Provokation – also genau dessen, was die Ästhetik der Band ausmachte – soll jeder Verweis auf Übergriffe im realen Leben unterbunden werden. Dabei sind nicht Bühne und Text problematisch, sondern die nackte Erkenntnis, dass der Sänger streckenweise vielleicht weniger erfand als berichtete – so stellt Lindemann quasi eine Umkehrung des Relotius-Falls dar, wenn man so mag. Konsequenter ist da wohl, dass die „Row Zero“ – der Bereich vor der Absperrung an der Bühne – gestrichen wurde, weil Lindemann Gerüchten zufolge während des Songs „Deutschland“ im Hohlraum unter der Bühne einen weiblichen Fan empfangen haben soll.
Wundern tut dabei nur, wie verwunderlich wir es alle finden, dass Lindemann in der Praxis das tat, was er seit Jahren in seinen Songtexten besingt. In der Konfrontation dieser auf der literaturwissenschaftlichen Trennung zwischen dem lyrischen Ich und dem biografischen Verfasser fußenden Naivität mit der hässlichen Realität zerbricht das kulturtheoretische Axiom der Trennung zwischen Künstler und Mensch immer mehr. Prousts Argument geht dabei so: Nur weil ein Mensch im realen Leben ein Langweiler ist, bedeutet dies nicht, dass er nicht zu künstlerischen Großtaten fähig ist. Wie sehr jedoch zweifelhafte persönliche Überzeugungen ein Werk färben können, haben bereits Céline oder Heidegger deutlich gemacht.
In München besuchten 60.000 Fans das Rammstein-Konzert. Vor dem Gelände haben 60 (!) Personen demonstriert, ein Polizeieinsatz beschützte diese Menschengruppe vor aggressiven Rammstein-Fans. Hier verdeutlicht sich die Kluft zwischen (manchmal voreiliger) medialer Lynchjustiz und der Ignoranz von Fans, die in erfolgreichen Acts oft Identifikationsfiguren oder einen Lebensstil sehen, der konsequenterweise zusammenbrechen wird.
Es bleibt die beängstigende Frage, wie viele einst geschätzte Bands wir in zehn Jahren überhaupt noch hören möchten oder gar dürfen – und wie sehr die noch vor Jahren als nüchterner Tatbestand abgenickte Erkenntnis, dass die besten Künstler eben oft problematische Menschen sind, den heutigen Kontext überdauern wird, sprich: Wie viel von der heutigen Kulturwelt morgen noch übrigbleibt, wenn erst einmal alle Missetäter herausgefiltert sein werden. Und wie viel musikalische Qualität dabei auf der Strecke bleibt.
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Wir sprechen täglich von „Verrohung“ der Gesellschaft und ein als Zombie verstellter Gutturalsänger kann,unter dem Mäntelchen der „Kunst“ seine Phantasien unter die Leute gröhlen. Ob Rammstein oder andere so genannte Bands,die in letzter Extase ihre Instrumente auf der Bühne zerschlagen und die Menge damit zum Kochen bringen,sind ein Messpegel für den geistigen Zustand der Gesellschaft. Lebensstil? Na ja.
Also erstens. Wo sind die Beweise? Zweitens: Jemanden einladen in den Backstage Bereich ist keine Straftat. Wenn Lindemann noch ordentlich nachgefragt hat, ob sie bumsen wollen, wo ist das Problem bitte? Vielleicht hat 1 Groupie von 20 zugesagt, die anderen konnten dann halt weiterhin im Backstage Bereich feiern. Der Beweis der KO Tropfen mit anschliessendem Sex wäre natürlich die wirklich ausschlaggebende Straftat (Vergewaltigung). Für mich klingt das alles vorerst mal wie die übliche Hexenjagd, …bis ein Gericht Beweise vorlegt. Die Lyrics als Beweis zu nehmen, ist absolute Vorverurteilung und ein Angriff auf die Kunstfreiheit. Dann schreibt auch Artikel über Schauspieler, vielleicht ist Christophe Waltz auch im echten Leben ein Nazi.
Welch ein Bohei um einen alternden Mann mit Bauchansatz in einer vulgären Show! Unverdient…