Editorial / Bösewichte wie im Comicheft – Russlands Führung im Jahr 2023
Die Protagonisten der russischen Seite im Ukraine-Krieg kennzeichnet etwas, was man in der Literaturwissenschaft als „überzeichnete Figuren“ beschreibt. Sie haben mitunter etwas Comichaftes, Stereotypes an sich. Eine Absurdität, die eine Lücke füllt, die man bei Persönlichkeiten mit großer Machtfülle eigentlich lieber mit Rationalität gefüllt sehen möchte.
Da ist der perfide planende Oberbösewicht Putin, der, mit allerlei Neurosen und Marotten gesegnet, aus der Isolation einer dunklen Burg Pläne für die Weltherrschaft schmiedet. Ein grimmig dreinblickender Ex-KGB-Agent, Strippenzieher, Bärenbezwinger, Alles-unter-Kontrolle-Haber, der langsam, aber sicher immer weiter dem Wahnsinn anheimfällt. Ein Mann, der ständig den Eindruck erwecken will, er könne sein Gegenüber mit einem Fingerzeig töten lassen – oder es auch einfach selber tun. Jemand, dem vom Westen jahrzehntelang, ja, gut, ein kleines bisschen Autoritarismus, aber (zumindest bis zum Februar 2022) doch immerhin auch eiskaltes Kalkulieren zugeschrieben wurde.
Da ist der obskure Apparatschik Sergei Schoigu, der von der Perestroika über Jelzin bis hin zur Ära Putin in hohen und höheren Ämtern in und um Moskau unterwegs war. Schoigus eigene „Einheitspartei“ ließ er 2001 in die Putin-Partei „Einiges Russland“ aufgehen. 2012 wurde er von Putin zum Verteidigungsminister gemacht. Obwohl er nie in der Armee gedient hat: Schoigu ist eigentlich Bauingenieur. Das Lametta, das bei Militärparaden von seiner Brust baumelt, beinhaltet so wichtige Kriegsorden wie die Teilnahme an der 300-Jahr-Feier von Sankt Petersburg.
Da ist der wild- und wahnsinnig gewordene Söldnerkommandant Jewgeni Prigoschin. Der bierbäuchige Glatzkopf aus Sankt Petersburg hat – genau wie Schoigu – reichlich wenig mit dem Militär zu tun. Ursprünglich wollte er Ski-Langlauf-Profi werden. Weil das aber nicht klappte, wandte er sich einem anderen Gewerbe zu: Einbrüchen. Dafür landete er neun Jahre lang im Knast. Danach entdeckte er die Gastronomie für sich, arbeitete sich vom Hotdog-Verkäufer zum Miteigentümer von Luxus-Restaurants hoch – in denen er auch Putin bediente. Dadurch heimste er für sein Catering-Unternehmen große Regierungsaufträge ein. Dass „Putins Chefkoch“ der eigentliche Führer der Wagner-Söldner ist, ist erst seit kurzem bekannt. 2013 soll er von Moskau ausgewählt worden sein, eine Freelance-Truppe mit dem Ziel zu schaffen, „spezielle Aufgaben“ für den Kreml erledigen zu können.
Dieses kuriose Triumvirat steht stellvertretend für die ganze Absurdität der russischen Führung im Jahr 2023. Spätestens mit Beginn des Krieges kristallisierte sich der reale Zustand der russischen Armee heraus: Eine Truppe, die wegen jahrzehntelanger Korruption und Missmanagement noch vor dem Angriff auf die Ukraine am Boden lag.
Prigoschins ständige Tiraden gegen Schoigu und seine Forderung, dass er ihm ausgeliefert werde, stehen, ganz in der Tradition der neunten Kunst, symbolisch für die wachsende Unzufriedenheit mit der inkompetenten Clique an der Spitze. Die Rechnung hat aber ausgerechnet der Chefkoch ohne den Wirt gemacht. Denn anstatt, dass sich zig schlechtgelaunte Generäle der regulären Armee dem Aufstand anschlossen, stand Prigoschin bald ganz allein auf weiter Flur zwischen Rostow und Moskau – und musste den Schwanz einziehen.
Die Ereignisse vom Samstag zeigen zwar weitere Risse in den Bildern der Hauptakteure, aber letztendlich ist Prigoschins Aufstand nur eine weitere Wahnsinnstat eines weiteren Comic-Bösewichts, der jeden Realitätsbezug verloren hat. Putin und seine Riege sitzen offenbar fester im Sattel als gedacht.
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Und viele laufen solchen Comicfiguren hinterher.
War der neue Homo S… schon immer so?
@ Grober J-P. / Ja, siehe Inquisition …