Deutschland / Interview mit Boris Pistorius: Russlands Bedrohung, US-Raketen, Haushaltsverhandlungen und SPD-Kanzlerkandidatur
Gespräch mit dem deutschen Verteidigungsminister Boris Pistorius über die Bedrohung aus Russland, die geplante Stationierung von US-Langstreckenraketen in Deutschland, das Milliarden-Geschacher beim Haushalt und die Kanzlerkandidatur der SPD.
Tageblatt: Herr Minister, Deutschland wappnet sich, man könnte auch sagen: Deutschland rüstet auf. Verstehen Sie die Befürchtung in Teilen der Bevölkerung, dass die geplante Stationierung amerikanischer Langstreckenwaffen eine militärische Eskalation mit Russland befeuern könnte?
Boris Pistorius: Die Welt ist unsicherer geworden als noch vor fünf oder zehn Jahren. Wir müssen uns schützen, so gut es geht. Ich verstehe die Sorge der Menschen vor einer Eskalation. Aber wir müssen realisieren, dass sich die Rahmenbedingungen völlig verändert haben. An der Ostflanke der NATO steht wieder ein Aggressor. Wir haben es wieder mit einer Bedrohung in Europa zu tun, und mit der müssen wir umgehen. Wir müssen uns als Nation, aber auch im Bündnis darauf vorbereiten.
An welchen Standorten in Deutschland sollen die Marschflugkörper und Überschallraketen stationiert werden?
Darüber ist noch nicht entschieden. Die USA, die diese Waffen in Deutschland stationieren werden, sind selbst noch in der Vorbereitung. Ich möchte aber klarstellen: Es handelt sich um konventionelle Waffensysteme. Wir tun alles dafür, dass eben keine Eskalation eintritt. Wenn allen klar ist, dass Deutschland und die NATO in der Lage sind, sich erfolgreich zu verteidigen, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass wir angegriffen werden.
Früher wäre der Bonner Hofgarten voll gewesen bei Demonstrationen gegen die Raketenstationierung!
Die Zeit ist nicht vergleichbar. In der Hochzeit der Friedensbewegung damals in Bonn ging es um atomar bestückte Pershings, nicht um konventionelle Raketen. Wir mussten uns 35 Jahre nicht mehr mit Bewaffnung beschäftigen. Eine ganze Generation kennt eine solche Bedrohung gar nicht. Was die USA ab 2026 in Deutschland tun werden, ist nichts anderes, als der russischen Bedrohung durch die Stationierung der Iskander in Kaliningrad etwas entgegenzusetzen. Dann funktioniert Abschreckung wieder.
Wenn allen klar ist, dass Deutschland und die NATO in der Lage sind, sich erfolgreich zu verteidigen, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass wir angegriffen werden
Trauen Sie Putin einen Angriff auf das Baltikum zu, das wäre ein Angriff auf NATO-Gebiet?
Er bedroht das Baltikum schon heute. Er versucht über Nacht, Grenzen in der Ostsee oder an den Grenzflüssen zu verschieben, und wenn es nur ein paar Meter sind. Das sind Provokationen. Putin hat auf Kriegswirtschaft umgestellt, und er erhöht die Produktion von Waffen, teilweise auf Vorrat, was zeigt, dass er offenbar noch mehr vorhat. Wir verfahren nach dem Prinzip: Auf das Beste hoffen, auf das Schlimmste vorbereitet sein. Wir werden nicht eskalieren, gleichzeitig müssen wir abschrecken.
Sie brauchen für Abschreckung viel Geld. Reicht dafür das Zwei-Prozent-Ziel der NATO oder müssen es drei Prozent oder noch mehr sein?
Je größer die nationale Wirtschaftsleistung, desto höher die Summe, die sich aus dem Zwei-Prozent-Ziel der NATO errechnet. Vielleicht erkennen wir eines Tages, dass die zwei Prozent nicht reichen. Fast noch wichtiger aber ist, dass die Finanzplanung verlässlich ist, dass wir eben wissen, was wir wann bestellen können.
Sie wollten im nächsten Haushalt 6,5 Milliarden Euro mehr für den Verteidigungsetat, haben aber nur 1,3 Milliarden Euro oben drauf bekommen. Ist diese Lücke nicht mehr als „ärgerlich“, wie Sie es formuliert haben?
Das Wort „ärgerlich“ hat schon seine Wirkung entfaltet. Als Teil dieser Bundesregierung geht es mir nicht darum, zu provozieren, sondern deutlich zu machen, was ich für die Truppe und die Sicherheit des Landes erreichen kann.
Putin hat auf Kriegswirtschaft umgestellt, und er erhöht die Produktion von Waffen, teilweise auf Vorrat, was zeigt, dass er offenbar noch mehr vorhat
Haben Sie denn zugestimmt, dass der Verteidigungsetat dann doch nicht so stark steigt wie von Ihnen gewünscht?
Es gab mehrere Runden, an denen auch ich beteiligt war. Insofern stimmt es, dass ich ein Stück weit eingebunden war. Aber das waren Runden, in denen ich immer meine Bedenken und die Anforderungen, die ich sehe, formuliert habe. Leider wurde mir in diesen Punkten nicht gefolgt. Für die Bundeswehr bedeutet das in den kommenden Jahren Fähigkeitslücken, die wir erst später schließen können. Dass ich damit nicht zufrieden bin, kann man sich ausrechnen.
Es gibt die Zusage, dass der Haushalt ab 2028 auf 80 Milliarden Euro anwachsen wird, wenn das Sondervermögen weg ist. Reicht das?
Damit bin ich zufrieden, auch wenn selbst 80 Milliarden Euro noch knapp bemessen sein werden. Meine Forderung nach rund 6,5 Milliarden Euro mehr im kommenden Jahr war nicht aus der Luft gegriffen. Ich habe das Ziel nicht aufgegeben, dass wir im nun anstehenden parlamentarischen Verfahren noch mehr Mittel dazu bekommen. Bei meinen Zahlen bleibe ich, damit die Soldatinnen und Soldaten den Anforderungen der kommenden Jahre im Interesse unser aller Sicherheit gerecht werden können.
Ihnen wird vorgeworfen, mit Ihrer Mahnung bald „kriegstüchtig“ sein zu müssen, Ängste vor einem Krieg erst heraufzubeschwören. Haben Sie den Bogen nicht überspannt?
Ich mag das Wort „kriegstüchtig“ selbst nicht. Aber es ist nun mal die Wahrheit, dass wir uns am besten schützen, wenn wir in der Lage sind, einen möglichen Angriffskrieg abwehren zu können. Derjenige, der das Problem beim Namen nennt, ist nicht der Verursacher des Problems. Was wäre die Alternative? Dinge verharmlosen, Menschen in falscher Sicherheit wiegen und dann unvorbereitet in Gefahr zu bringen? Das kommt für mich nicht infrage.
Kann Ihre Politik dazu beitragen, die Umfragen noch zu drehen und die SPD im Bundestagswahlkampf vor die Union zu bringen?
Ja, daran glaube ich fest. Umfragen sind extrem volatil geworden. Der SPD ist 2021 trotz schlechter Umfragen bis kurz vor der Wahl doch noch der Sieg gelungen. Das kann wieder passieren, und dafür kämpfe ich.
Mit Olaf Scholz als Kanzlerkandidat?
Ja, daran habe ich nie einen Zweifel gelassen.
Aber aus Sicht einiger Ihrer Parteifreunde zu lange mit der Unterstützung für Scholz gezögert, weil es Ihnen vielleicht geschmeichelt hat?
Ich habe mich sehr schnell für Olaf Scholz ausgesprochen und dabei bleibt es auch.
Warum spricht man Ihnen die Fähigkeiten zu, ein guter Kanzler zu sein?
Keine Ahnung.
Wenn man der Argumentation der Außenministerin folgt, die mit Verweis auf ihr Amt keine Zeit für eine Kanzlerkandidatur haben will, könnte der Kanzler das auch nicht, oder?
Ich war überrascht von der Verzichtserklärung. Ich habe die Vorgänge bei den Grünen aber nicht zu bewerten.
Wollen Sie für den Bundestag kandidieren?
Das habe ich noch nicht entschieden.
Falls ja, stünde der Wahlkreis denn fest?
Nein.
Wann wollen Sie die Entscheidung treffen?
Nach der Sommerpause werde ich die Entscheidung treffen und bekanntgeben.
- Sandy Artuso macht mit „Queer Little Lies“ Esch zum queeren Kultur-Hotspot - 26. November 2024.
- Gewerkschaften und Grüne kritisieren „Angriffe der Regierung“ auf Luxemburgs Sozialmodell - 26. November 2024.
- Sozialwohnungen statt Leerstand: Was die „Gestion locative sociale“ Eigentümern bieten kann - 26. November 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos