Vor Labour-Parteitag / Britischer Premier Keir Starmer in der Kritik
Nach 15 Jahren die erste Zusammenkunft als Regierungsverantwortliche – da wäre es eigentlich zu erwarten, dass sich die Delegierten der britischen Labour-Party an diesem Wochenende mit Freude und Zuversicht im nordenglischen Liverpool versammeln.
Stattdessen bietet die Partei unter Premier Keir Starmer ein trauriges Bild: In der Downing Street tobt ein Machtkampf, die Finanzministerin redet die Wirtschaft schlecht, der Regierungschef selbst muss sich als „Schnorrerkönig“ verspotten lassen. Schon gehen bei Nachwahlen erste Kommunalmandate verloren, die Umfragen verheißen für die Zukunft wenig Gutes. Kein Problem: Er habe „alles völlig unter Kontrolle“, beteuert Starmer.
Ob das auch für sein unmittelbares Umfeld gilt? Seit Monaten konzentrieren sich die professionellen Labour-Beobachter in den Medien und in der parteipolitisch neutralen Beamtenschaft auf die Person von Sue Gray. Die überaus erfahrene langjährige Spitzenbeamtin, 66, war im vergangenen Herbst Starmers Büroleiterin geworden. Ihre Macht gilt als weitgehend uneingeschränkt, sie scheint das volle Vertrauen des Premiers zu genießen.
Ein erstaunliches Beispiel berichteten politische Staatssekretäre, die bereits unter den früheren Labour-Premiers Tony Blair und Gordon Brown dienten. Üblicherweise werden alle wichtigen Regierungsmitglieder vom Regierungschef persönlich angerufen und mit ihrer Aufgabe betraut. Diesmal aber sprach Starmer persönlich nur mit den Kabinettsministern; unterhalb dieser Ebene kam der Anruf von Sue Gray.
Wie viel Misstrauen und Neid die Büroleiterin auf sich zieht, wurde in den vergangenen Tagen offensichtlich. Aus mehreren Quellen erfuhr die BBC, die politische Beraterin beziehe ein jährliches Gehalt von 170.000 Pfund (202.530 Euro) – und damit 3.200 Pfund mehr als der offizielle Chef der Regierung Seiner Majestät sowie 25.000 Pfund mehr als der Büroleiter des früheren Tory-Premiers Rishi Sunak. Die Diskrepanz zum Einkommen des Chefs ist ungewöhnlich genug. Politisches Dynamit aber enthielt die Enthüllung, weil die politischen Berater von Kabinettsministern gegenüber ihrer Zeit in der Opposition starke Gehaltseinbußen hinnehmen müssen.
Teure Anzüge und Kleider erhalten
Dass Starmer selbst mit Geldfragen allzu sorglos umgeht, sorgt ebenfalls für verheerende Schlagzeilen. Schon im Wahlkampf war zutage getreten, dass der damalige Oppositionsführer sich von einem Labour-Lord teure Anzüge und Brillen im Gesamtwert von 18.685 Pfund (22.250 Euro) hatte bezahlen lassen. Dann folgte die Enthüllung, auch seiner Frau Victoria habe Lord Waheed Alli mit 5.000 Pfund für ihre Garderobe unter die Arme gegriffen. Beide Spenden wurden entweder zunächst falsch oder gar nicht verbucht.
Kürzlich erhielt der Premierminister zudem je 4.000 Pfund teure Tickets für eines der ausverkauften Konzerte der Pop-Diva Taylor Swift geschenkt, und zwar ausgerechnet von der Fußball-Liga Premier League. Die milliardenschwere Lobbygruppe läuft derzeit Sturm gegen den Regierungsplan einer Fußball-Aufsichtsbehörde. Diese soll den Breitensport unterstützen und die korrupten Praktiken der großen Vereine ausmerzen. Prompt verhöhnte das Boulevardblatt Daily Star den Regierungschef als „Schnorrerkönig“, andere Schlagzeilen waren kaum weniger brutal. Starmer erhalte „haarsträubend schlechte Beratung“, urteilt die Labour-nahe PR-Expertin Scarlett McGwire.
Gewiss operieren Starmer und seine Leute in einem Umfeld von immer kürzerer Aufmerksamkeitsspanne und stetig steigenden Ansprüchen an die Politik. Kaum zweieinhalb Monate nach der Wahl gibt sich dem Meinungsforscher Ipsos gegenüber die Hälfte der Briten „enttäuscht“ über das bisherige Regierungshandeln, von dem in Wirklichkeit außer Rhetorik wenig zu sehen ist. Aber vielleicht stören sich die Menschen gerade an der durchgehend düsteren Rhetorik?
Haushaltsloch von 22 Milliarden Pfund
Dem Land stünden harte Zeiten bevor, hat Starmer vor Monatsfrist gesagt und das mit 14 konservativen Regierungsjahren begründet: Viele staatliche Institutionen würden an einer „tief eingedrungenen Fäulnis“ leiden. Als Beispiele führt Labour immer wieder die viele Millionen Menschen umfassenden Wartelisten des Gesundheitssystems NHS an sowie die schlimme Überfüllung der Gefängnisse. Dass deshalb kürzlich Strafgefangene vorzeitig entlassen werden mussten, mag tatsächlich aufs Konto der Torys gehen; zu Starmers Popularität tragen vorzeitig frei herumlaufende Kriminelle gewiss nicht bei.
„Die Lage wird schlechter werden, ehe sie sich verbessert“, sagt der Premierminister. Das habe vor allem mit einem schwarzen Haushaltsloch von 22 Milliarden Pfund zu tun, das Finanzministerin Rachel Reeves entdeckt haben will. Das für Ende Oktober geplante Budget werde deshalb hart ausfallen. Schon ist die Zuversicht der sonst stets kaufwütigen Konsumenten stark gefallen. Sollten Premier und Ministerin weiterhin „pessimistische Töne verbreiten, besteht die Gefahr einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung“, warnt Neville Hill von der Beraterfirma Hybrid Economics.
Plötzlich haben die Medien auch bemerkt, dass die Staatsschuld schon seit Monaten höchstens knapp unterhalb, immer wieder aber auch jenseits der magischen Marke von 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes BIP liegt. Am Ende des vierten Quartals 2023 notierte die Statistikbehörde 101,6 Prozent, am Freitag lautete die offizielle Schätzung 100,0. Woran andere G7-Volkswirtschaften mit größerer Realwirtschaft wie Italien oder Japan längst gewöhnt sind, sorgt im gewaltigen Finanzsektor der auf Dienstleistungen spezialisierten und auf internationale Investoren angewiesenen Insel für Unruhe. Vorsichtshalber entschied sich die Bank of England am Donnerstag für Stabilität und beließ den Leitzinssatz unverändert bei 5 Prozent, obwohl für die dringend nötige Wirtschaftsankurbelung eigentlich eine Senkung angezeigt wäre.
Nigel Farage nimmt Labour ins Visier
Unterdessen erwächst Labour im rechten politischen Lager ein gefährlicher Gegner. Allem Spott über seine Firma „Reform“ (Mehrheitseigner: Nigel Farage) zum Trotz gewann das neueste Vehikel des Nationalpopulisten (Ex-UKIP, Ex-Brexit-Party) bei der Wahl im Juli 14 Prozent der abgegebenen Stimmen sowie fünf Mandate im Unterhaus. Am Freitag machte sich „Reform“ auf den Weg zu einer „normalen politischen Partei“, wie Vizechef Richard Tice betont.
Zwar gibt es erhebliche Zweifel, ob die unumstrittene Führungsfigur Farage, 60, nicht auch in Zukunft wichtige Vetorechte behält – eine Abwahl jedenfalls ist im Statut nicht vorgesehen. Völlig eindeutig lässt sich die Absicht des Rechtsaußens benennen: Nachdem er die Konservativen zu einem traurigen, mit sich selbst beschäftigten Häuflein degradiert hat, nehmen Farage und seine ausschließlich männliche Fraktion jetzt Labour ins Visier. In 98 der 650 Wahlkreise landete Reform im Juli auf dem zweiten Platz, häufig ein wichtiger Ausgangspunkt für den Erfolg bei der kommenden Wahl. In 89 dieser Bezirke müssen sich die Labour-Mandatsträger der Reform-Herausforderung erwehren.
Wie eine seriöse Volkspartei mit dem Nationalpopulismus umgehen soll? Dazu gibt es bisher von Labour wenig zu hören. Noch überwiegt die Einstellung „gar nicht erst ignorieren“, die Starmer auch Farages Provokationen im Unterhaus angedeihen lässt. Schwer zu glauben, dass sich darauf eine glaubwürdige politische Strategie bauen lässt.
An Baustellen für seine eigene Glaubwürdigkeit sowie die politische und ökonomische Strategie seiner Regierung wird es Starmer in Liverpool jedenfalls nicht mangeln.
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