Das Prinzip der drei Affen / Caritas-Skandal: Immer mehr Details und offene Fragen rund um den Millionen-Betrug
Je mehr Details zur Caritas-Betrugsaffäre bekannt werden, umso mehr Fragen stellen sich in Zusammenhang mit dem Verschwinden der 61 Millionen Euro, bei dem es nicht nur ein(e) (Mit-)Verantwortliche gab. Ein ungeheurer Einzelfall – oder eine Ungeheuerlichkeit mit System?
Es war so einfach, so schien es zumindest: Die Chief Financial Officer (CFO) der Caritas, die 61 Millionen Euro – von denen 28 Millionen aus den eigenen Reserven stammen sollen, während für 33 weitere Millionen extra Kreditlinien aufgenommen wurden – veruntreut haben soll, geriet schnell ins Visier der Ermittlungen, als Mitte Juli alles aufflog. Sie kehrte aus dem Urlaub zurück und stellte sich der Justiz. Aus dem Skandal ist seither ein weit verzweigtes Labyrinth zum Vorschein gekommen, das aus mehr Fragen als Antworten besteht.
Die Justiz ging von einem „fraude/arnaque au président“ („Präsidentenbetrug“) aus, auch „Geschäftsführer-Trick“ genannt, vor dem Finanzexperten seit längerer Zeit warnen, der aber immer wieder praktiziert wird: Mit dem Überweisungsbetrug wurden bereits riesige Beträge von Unternehmen entwendet. Dabei werden die Summen zumeist von Mitarbeitern eines Unternehmens transferiert, wobei diese von Betrügern manipuliert werden, die sich als Vorgesetzte oder gar CEO eines Unternehmens ausgeben.
„Das funktioniert erstaunlich gut“, schrieb die Süddeutsche Zeitung schon vor zehn Jahren. Ein vermeintlicher Konzernchef, ein „Fake President“ meldet sich und gibt Anweisungen, es müssten mal eben schnell ein paar Millionen überwiesen werden. „Beim ‚Fake President‘ nutzen die Kriminellen die Komplexität großer Konzerne, die Autoritätsgläubigkeit und die Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Konzernteilen.“ Die Methode beruhe auf ausgedehnten Cyberangriffen, mit denen die Unternehmen sorgfältig ausgespäht würden. Nur handelt es sich in dem aktuellen Fall um die Caritas, eine Wohltätigkeitsorganisation mit internationalem Renommee.
Masche mit Vorgeschichte
Die genannte Betrugsmasche mittels Geldüberweisungen, durch die in verschiedenen Fällen Schäden von manchmal hohen zweistelligen Millionenbeträgen entstanden sind, beschäftigt unter anderem Versicherer, die den Präsidentenbetrug zu den Hauptszenarien in der Wirtschaftskriminalität zählen, aber auch die „Big Four“ der Beratungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften wie etwa PwC. Ebenso warnt die luxemburgische Polizei auf ihrer Website vor dieser Form des Betrugs und gibt Ratschläge zur Vorbeugung.
Auch bei der Caritas gab es, wie das Tageblatt bereits berichtete, in den vergangenen Monaten verschiedene Sensibilisierungskampagnen: So führte die IT-Abteilung der Caritas „Phishing“- und „E-Mail-Spoofing“-Tests durch – wer von den Mitarbeitern auf die Betrugsversuche hereinfiel, bekam eine Online-Fortbildung. Nach Tageblatt-Informationen soll die Finanzabteilung der Caritas mehrere Versuche des „Präsidentenbetrugs“ erkannt und abgefangen haben.
Die Erklärung der Staatsanwaltschaft, dass es sich um einen „Präsidentenbetrug“ gehandelt habe, wurde jedoch in einem von Radio 100,7 ausgestrahlten Beitrag angezweifelt. In der Tat ist die systematische Anwendung dieser Masche über einen Zeitraum von mehreren Monaten kaum nachvollziehbar. Die eingangs erwähnte frühere Finanzdirektorin soll bei den etwa 120 Überweisungen seit Februar 2024 eine aktive Rolle gespielt haben. Sie war angeblich mit den vermeintlichen Betrügern – einer davon soll sich als Caritas-Direktor Marc Crochet ausgegeben haben – in Kontakt.
Hierbei stellt sich die Frage, ob sie allein gehandelt hat. Laut 100,7 tat die Finanzdirektorin alles dafür, dass die Überweisungen auf 15 verschiedene Konten in mehreren Filialen der spanischen Bank BBVA landeten. In den Monaten vor dem Betrug habe sie den Zugang anderer Mitarbeiter auf die Buchführungsprogramme eingeschränkt. Einige hätten die Finanzabteilung in dieser Zeit verlassen, heißt es. Die Überweisungen sollen von der Spuerkeess und der BGL durchgeführt worden sein.
Berechtigte Kritik an Banken
Gegen die implizierten Banken hat nach dem Tageblatt-Bericht auch die „Commission de surveillance du secteur financier“ (CSSF) Ermittlungen aufgenommen. Die Kritik an den Banken ist laut 100,7 berechtigt: Schließlich ist es nicht nur für Finanzexperten nicht nachvollziehbar, wieso bei über 120 Überweisungen von jeweils weniger als 500.000 Euro übersehen worden sei, dass IBAN-Nummer und Kontoinhaber nicht übereinstimmten.
Auch die jüngsten Recherchen von Reporter.lu nähren Zweifel: Das Online-Magazin berichtet, dass alles am 7. Februar 2024 begonnen habe, als die Finanzdirektorin der Stiftung Caritas Luxemburg ominöse Anweisungen von einer bis dahin nicht bekannten „@gmail.com“-Adresse, die sich als Caritas-Generaldirektor Marc Crochet ausgab, erhielt: „Je m’occupe actuellement d’une transaction financière importante, ce dossier doit rester strictement confidentiel jusqu’à l’annonce officielle qui aura lieu mercredi 21 février. Il est important de ne faire aucune allusion sur ce dossier de vive voix, ni même par téléphone pour le moment“, zitiert Reporter.lu den vermeintlichen Caritas-Chef, der zudem angeblich nach dem Anwalt einer Pariser Kanzlei fragte, der zwar in der Pariser Anwaltskammer eingetragen sei, dessen Kontaktdaten sich aber als Fantasie erwiesen. Seitdem seien die Konten der Caritas-Stiftung innerhalb weniger Monate leergeräumt worden.
Die These vom Präsidentenbetrug hat den Hauptverdacht, der auf der früheren Caritas-Finanzdirektorin lastet, kaum entkräften können – auch wenn ihr Anwalt mitteilte, dass seine Mandantin weder Urheberin noch Nutznießerin des Betrugs sei. Laut Reporter.lu war für die Veruntreuung der Gelder das Zusammenwirken mehrerer Faktoren ausschlaggebend, so etwa eine schwache Führung der NGO, eine mangelhafte interne Kontrolle, die Rolle der Banken, die Kredite über 33 Millionen Euro gegeben haben. Verliehen BGL und Spuerkeess Geld etwa „mit verschlossenen Augen“?
Gebäude als Hypothek
Von der Caritas-Stiftung beauftragt, hat PwC laut Berichten von Reporter.lu zwei Teams eingesetzt, um den Betrug zu untersuchen: eines davon aus der Abteilung „Forensik“. Auch die Kontrolleure der CSSF sind gefragt. Zu überprüfen ist unter anderem, wie es zu der leichtfertigen Erhöhung und Überziehung von Kreditlinien kam. In einem Fall verlangte die BGL BNP Paribas etwa neue Sicherheiten – und die Caritas-Finanzchefin schlug vor, Gebäude der NGO als Hypothek zu belasten.
In einem anderen Fall wurde die Genehmigung von Geldern seitens des Außenministeriums benutzt. Reporter.lu zitiert aus einem Schreiben einer Beamtin der Abteilung für NGOs des Ministeriums an die Caritas vom 10. Juli: „l n’y a donc pas de garantie que cet argent sera viré sur votre compte. Je vois donc difficilement comment vous pouvez utiliser le Ministère comme un débiteur pour pouvoir demander une ligne de crédit.“ Die Caritas-Finanzchefin antwortete am selben Tag, dass dies ein von der Bank vorgeschriebenes Verfahren sei und: „Il n’y a pas lieu d’en débattre à l’extrême car aucune action ne vous est demandée.“
Ob sich die Erklärung, dass es sich um einen „Präsidentenbetrug“ handelte, noch lange halten lässt, sei dahin gestellt. Fest steht, dass es eine(n) oder mehrere Verantwortliche für die Caritas-Affäre gibt. Für die ehemalige Finanzdirektorin der Caritas gilt momentan die Unschuldsvermutung. Für die anderen Beteiligten hingegen hat lange Zeit das berühmte Motiv der drei Affen gegolten: „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.“
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