Atomenergie / Cattenom: Vier Türme und ein Dorf
Wenn sich im Frühjahr die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima jähren, ist das Thema Atomkraft in aller Munde. Die beiden Unglücksanlagen sind weit weg. Cattenom ist ganz nahe. Vom ersten Tag an ist die Nuklearzentrale im französischen Grenzgebiet umstritten. In der Gemeinde selbst ist davon wenig zu spüren und Bürgermeister Bernard Zenner (65) hat eine ganz eigene Sicht der Dinge.
Cattenom hat sich frühlingshaft herausgeputzt. Blühende Blumen auf den gepflegten öffentlichen Anlagen und weidende Kühe vor genauso gepflegten Bauernhäusern prägen das Bild. Das Dorf setzt dem mit dem Namen verbundenen toxischen Image einiges entgegen. Im historischen Ambiente des Presbyteriums ist das Rathaus und dessen Mitarbeiter untergebracht.
Die lang gezogene, historische Fassade wirkt frisch renoviert und degradiert den obligatorischen Schriftzug „Liberté, Egalité, Fraternité“ fast zum Nebendarsteller. Im Inneren sind die Konferenzsäle und Büros auf die Bedürfnisse der Kommunalpolitik zugeschnitten. Im Hochzeitssaal thront die „Marianne“ über dem Glück der Willigen.
Ironie der Geschichte: Vorlage der Büste ist Topmodell und Schauspielerin Laetitia Casta, deren Vater aus Korsika stammt. Jahrelang haben die Inselbewohner Bomben hochgehen lassen, um damit für die Unabhängigkeit von Paris zu kämpfen. Ein paar Türen weiter residiert Bernard Zenner (65), parteilos und seit Mai 2020 im Amt des Bürgermeisters von Cattenom. 2.700 Einwohner hat die Gemeinde.
Bei 3.000 Einwohnern ist eine geordnete Evakuierung gewährleistet
Im Gegensatz zu seinen luxemburgischen Kollegen hat er ein klares Limit hinsichtlich des Wachstums. „300 Einwohner mehr dürfen es noch werden“, sagt er. „Das ist wegen einer geordneten Evakuierung im Falle eines Unfalls die Obergrenze.“ Knapp sechs Monate nach dem Unglück in Tschernobyl geht Block eins des Atomkraftwerks am 13. November 1986 in Betrieb.
Drei Jahre vorher kommt Zenner nach Cattenom. Der auf Nuklearenergie spezialisierte Ingenieur geht 2010 als Sicherheitsingenieur und Ausbilder von neuem Personal des Atomkraftwerkes in Rente. Mit ihm über Kernkraft zu diskutieren, ist hartes Brot. Tschernobyl? „So etwas kann in Cattenom nicht passieren“, sagt er. „Die Anlage ist ganz anders gebaut als die in der Ukraine.“
So wie der stellvertretende Chefingenieur Anatoli Stepanowitsch Djatlow (1931-1995) in Tschernobyl leitet Zenner Testreihen in Cattenom. Während Djatlow damit 1986 das Unglück auslöst, arbeitet Zenner unter der Kompetenz und Strenge der französischen Atomaufsicht, der „Autorité de sûreté nucléaire“ (ASN).
Atomzentralen müssen regelmäßig in die „Contrôle technique“
„Mit denen zu tun zu haben, ist nicht zum Lachen“, sagt er. „Die ASN ist sehr streng.“ Und sie hat die Macht, die Anlage stillzulegen. Dass ein Atomkraftwerk von Zeit zu Zeit auf den Prüfstand und sozusagen in die „Contrôle technique“ muss, ist für ihn das Normalste der Welt. Schließlich ist es beim Auto dasselbe.
Und die Berichte über Störfälle und Abschaltungen? Darauf reagiert Zenner mit einem Bild. „Wenn Autofirmen Pkws zurückrufen, weil ein Teil fehlerhaft ist, findet das niemand merkwürdig“, sagt er. „Wenn wir das über die Zentrale veröffentlichen, geraten alle in Panik.“ Verstehen tut er das nicht, schließlich ist Information in seinen Augen nur transparent.
Deshalb ist die Altersfrage von Cattenom für ihn auch keine. „Wann ist ein Atomkraftwerk alt?“, fragt er zurück und macht die Rechnung auf. Seit Februar 2021 investiert der Betreiber der Anlage „Electricité de France“ (EDF) rund 200 Millionen Euro in die technische Modernisierung des Blocks drei. „Das machen sie nicht, wenn es sich nicht mehr lohnt“, sagt Zenner.
Gemeinde lebt gut von der Atomzentrale
Der Block wird für die nächsten zehn Jahre fit gemacht. Ein Drittel des Auftragsvolumens geht an Firmen in der Region, wie der Républicain Lorrain in seiner Ausgabe vom 13. Februar dieses Jahres schreibt. Dem Cattenomer Bürgermeister kann das nur recht sein. Die Gemeinde und die „Communauté des communes“ mit weiteren 19 Gemeinden rund um die Zentrale leben gut von den Blöcken.
Durchschnittlich sieben Millionen Euro spült das Werk jedes Jahr in die Gemeindekasse. 1,5 Millionen Euro kann sie jahrzehntelang jährlich investieren. Damit lassen sich öffentliche Einrichtungen wie die Mediathek, das „Centre loisirs et culture“ oder die weitläufige Tennisanlage gut finanzieren. Der Klub ist gemessen an den Mitgliederzahlen der fünftgrößte in Lothringen.
„Zu uns kommen sogar Luxemburger zum Spielen“, sagt der „Maire“ nicht ohne Stolz. Ob die Einnahmen allerdings dauerhaft so weiter sprudeln, ist nach der Corona-Krise und einer Reform der Gemeindefinanzen ungewiss. Die Atomzentrale ist nach der Automobilindustrie nach Zenners Angaben der zweitgrößte Arbeitgeber in der Region.
Stilllegung ist kein Thema
Nicht nur dort. Rund 200.000 Menschen arbeiten insgesamt in der französischen Atomenergie. In Lothringen kommt Cattenom nach dem Niedergang der Stahlindustrie wie gerufen und federt den Verlust ab. Schon lange sind die vier Türme, die man von den meisten Plätzen der Gemeinde sieht, ein gewohnter Anblick.
Sagen die Einwohner ohne Scheu, wo sie wohnen? „Dass sie aus Cattenom kommen, sagen sie eher mit einem gewissen Stolz“, zerstreut Zenner Gedanken anderer Art. „Sorgen machen sie sich keine.“ Er selbst lebt zwei Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt, seine Kinder leben in der Region. Eine Stilllegung, wie ihn eine jüngst veröffentlichte Studie nahelegt, ist für ihn kein Thema.
Luxemburg hatte das Papier zusammen mit den Bundesländern Rheinland-Pfalz und Saarland veranlasst. Das Atomkraftwerk führt seit seiner Inbetriebnahme zu Demonstrationen und zwischenstaatlichen Kontroversen. Anlässlich des 35-jährigen Jahrestages hatten die Auftraggeber erneut eine Stilllegung gefordert. Sie sei zeitnah möglich, heißt es in der Studie.
Versorgungssicherheit gewährleistet
„Insgesamt zeigt sich, dass Versorgungssicherheitsbelange einer Stilllegung des Kernkraftwerks Cattenom nicht im Wege stehen, da geeignete Abhilfemaßnahmen technisch bekannt sind und in vergleichsweise kurzer Zeit verfügbar gemacht werden können“, schreiben die Autoren.
Frankreich plant, den Anteil der Kernenergie bis 2035 von 75 auf 50 Prozent zu senken und zwölf Kernreaktoren abzuschalten. Für einen Insider wie Zenner zählt das nicht. „Die Abschaltung von Fessenheim zeigt, dass der Ausfall mit Kohle- und Gaskraftwerken auf französischer und deutscher Seite kompensiert werden muss“, sagt er.
Seine Meinung ist: „Die CO2-Belastung steigt und es ist in Bezug auf Wirtschaft und Umwelt völliger Blödsinn.“ Bevor Zenner in Cattenom arbeitet, ist er im Kohlekraftwerk „La Maxe“ nahe Metz angestellt. Die Kapazität der zwei Einheiten der Anlage beträgt jeweils maximal 250 Megawatt Strom. „Um diese Leistung zu erbringen, sind 100 Tonnen Kohle in der Stunde notwendig“, sagt er.
Erneuerbare Energien? „Und was machen Sie, wenn es keinen Wind gibt und die Sonne nicht scheint?“, antwortet er. „Das Problem mit dem Strom ist, dass er nicht speicherbar ist.“ Bleibt noch die Frage nach den Abfällen. „Das wird gut überwacht“, sagt er. „Sie sind sicher und ohne Gefahr für Mensch und Umwelt gelagert.“
Wenn es für ihn einen GAU gibt, dann eher einen auf politischem Gebiet: „Die Energiewende in Deutschland ist eine Katastrophe“, sagt er. „Das ist ohne präzise Studien und Analysen beschlossen worden – genau wie bei uns.“
Film: „An Zero“ oder „Super-GAU – die letzten Tage Luxemburgs“
Nicht nur in Politik, bei Nichtregierungsorganisationen und der Öffentlichkeit ist Atomkraft ein polarisierendes Thema. In dem Film „Super-GAU – die letzten Tage Luxemburgs“ setzt sich Regisseur Julien Becker mit dem fiktiven Szenario eines GAUs im Kernkraftwerk Cattenom auseinander. Es gibt einen Zwischenfall. Zwei Werksmitarbeiter drehen und verteilen ein Aufklärungsvideo. Alle anderen Verantwortlichen schweigen, während schwarzer Rauch über Cattenom aufsteigt. Der Film arbeitet mit fiktiven und dokumentarischen Teilen und zeigt, was passiert, wenn ein Land durch atomare Verseuchung von der Landkarte verschwindet. In den fiktiven Teilen stehen Luxemburger wie die Journalistin Emma und ihr Kollege und Fotograf Nico den dokumentarischen Teilen gegenüber. Dort kommen Atomphysiker, Strahlenschutzexperten oder Grünenpolitiker wie Carole Dieschbourg und Claude Turmes zu Wort. Wer den etwas spröden Einstieg mit viel Redebeiträgen durchhält, bekommt tiefe Einblicke von Experten in die Auswirkungen eines GAUs. Der Film hat auf der diesjährigen Ausgabe des Luxfilmfestivals Premiere gefeiert. Er ist seit dem 14. April online und bis 19. Juli beim deutsch-französischen Sender ARTE abrufbar. Der Film Fund Luxembourg hat die filmische Simulation gefördert, Koproduzent ist der Norddeutsche Rundfunk (NDR), produziert hat ihn die in Esch ansässige Firma Skill Lab. 2021, 80 Minuten.
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