Gesundheit / Causa Pandemievertrag: Kritik und Fragen nach gescheitertem Entwurf bleiben
Was haben wir aus der Pandemie gelernt? Einigkeit herrscht darüber, dass viele Staaten schlecht bis gar nicht auf die Situation vorbereitet waren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wollte deswegen einen „Pandemievertrag“. Ein Entwurf dazu scheiterte Anfang Juni 2024 in Genf. Die Causa Pandemievertrag ist aber damit nicht vom Tisch und wirft noch ganz andere Fragen auf.
Neben Bedenken und Verbesserungsvorschlägen der 194 Mitglieder gibt es Kritik aus der Zivilgesellschaft. Mehrere Briefe schreibt der Präsident und Mitbegründer der „Patiente-Vertriedung“ mit über 1.000 Mitgliedern und 20 Organisationen, darunter die beiden größten Gewerkschaften, René Pizzaferri (76). Die Interessenvertretung interessiert qua Statut alles, was mit Gesundheit zu tun hat.
Alle Briefe gingen im Vorfeld der Ratifizierung des Pandemievertrages an das Gesundheitsministerium. Die ersten stammen aus dem Jahr 2022. Da waren Lockdowns, Maskenpflicht, leere Büros und im Minutentakt einprasselnde Informationen noch frisch im Gedächtnis. Die Briefe blieben unbeantwortet. Den letzten schickt Pizzaferri am 8. Mai 2024, kurz vor der nächsten WHO-Vollversammlung der 194 Mitgliedstaaten, an die neue Gesundheitsministerin Martine Deprez (CSV).
Kritik geht nicht gegen allgemeine Richtlinien
Die Interessenvertretung äußert darin erneut die Bedenken gegen den Vertrag und vor allem den Initiator des Ganzen, die WHO. Sie fordert in ihrem letzten Brief, die luxemburgischen Vertreter in der Vollversammlung der WHO anzuweisen, diesem Pandemievertrag nicht zuzustimmen. Einer der Gründe: Die Souveränität von Nationalstaaten werde bei einer unilateralen Entscheidungsgewalt durch die WHO ausgehebelt.
„Wir sind überhaupt nicht gegen Richtlinien, die ausgearbeitet werden und den Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt werden“, sagt Pizzaferri gegenüber dem Tageblatt. Er sagt das mit Blick auf bekannte Tatsachen. „Experten prognostizieren bei den globalen Verflechtungen ungefähr alle zehn Jahre eine Pandemie“, sagt Georges Clees (45), Kommunikationsbeauftragter bei der Interessenvertretung. Hinzu kommt, dass zu dem Zeitpunkt nach Angaben der Patientenvertretung nichts zur Haltung Luxemburgs bezüglich des geplanten Pandemievertrags bekannt ist.
Einwände? Verbesserungsvorschläge? „Die Unterlagen dazu liegen im Ministerium“, sagt „Patiente- Vertriedung“-Präsident Pizzaferri mit Schulterzucken. Das Gesundheitsministerium antwortet per Brief am 14. Mai 2024 und verweist darauf, dass die WHO im „Falle eines Gesundheitsnotstands Empfehlungen aussprechen kann, diese jedoch keineswegs rechtlich verbindlich für die Mitgliedstaaten sind“. Immerhin eine Antwort.
Mangel an Transparenz
In der Tat enthält der WHO-Vertragsentwurf vom 13. März 2024 eine entsprechende Klausel unter Artikel III. Darin wird explizit das souveräne Recht von Staaten, im Rahmen ihrer Hoheitsgewalt Rechtsvorschriften zu erlassen, zu verabschieden und durchzuführen (…), erwähnt. Der zweite Grund für die „Patiente-Vertriedung“, sich gegen den Pandemievertrag zu wehren, aber reicht weiter. Es ist eine generelle Kritik an Transparenz und Funktionsweise der Weltgesundheitsorganisation, deren Aufgabe qua Satzung eine „Leit- und Koordinierungsstelle für internationale Arbeiten im Gesundheitswesen“ ist. (Kap. II, Art. 2)
Eine gewaltige Aufgabe bei 194 Mitgliedstaaten, die gut dargestellt werden will. Das macht die WHO auf ihrer Webseite nahezu perfekt. Die WHO-Programme, ihre Umsetzung und Erfolge glänzen. Eine Suche nach Finanzen, Jahresberichten, Budgets oder Vertragsentwürfen ist dagegen virtuelle Detektivarbeit. Das haben auch andere schon bemerkt und moniert, wie zuletzt die Piraten. Vom Gesundheitsministerium auf die WHO-Seite verwiesen, finden sie veraltete Entwürfe.
„Jedes Mal, wenn wir Fragen zu unserer Verhandlungsposition im Parlament stellen wollten, war die veröffentlichte Version des Vertragsentwurfs veraltet“, sagt Sven Clement, Abgeordneter der Piraten. „Das ist eine Katastrophe des Parlamentarismus.“ Das Gesundheitsministerium bestreitet dies auf Anfrage des Tageblatt. Man habe „auf die letzten öffentlich zugänglichen Dokumente“ verwiesen, heißt es in der Antwort. Zudem sei das Ministerium daran gebunden, „die Texte, die nicht von der WHO publiziert wurden, vertraulich zu behandeln“.
Ministerium widerspricht
Darüber hinaus seien die Vertreter des Parlaments „regelmäßig“ über die diskutierten Anpassungen informiert worden, heißt es in der Antwort weiter. Im Gremium, das den Vertragsentwurf für den Pandemievertrag ausgearbeitet habe, dem Intergovernmental Negotiating Body (INB), sei das Land nicht vertreten gewesen. Es sei aber durch ein Team, bestehend aus Vertretern des Gesundheitsministeriums, der Gesundheitsdirektion und Mitgliedern der ständigen Vertretung Luxemburgs bei der UNO in Genf, in den Verhandlungen zum Vertrag vertreten gewesen.
Die inhaltlichen Positionen dieses Teams seien mit Außenministerium und Wirtschaftsministerium abgestimmt, heißt es in der Antwort weiter. In Sachen Transparenz geht es mit der Tatsache weiter, dass die Pressemitteilungen der WHO offensichtlich viel Interpretationsspielraum lassen. Der Piratenabgeordnete Sven Clement liest aus derjenigen nach der 77. WHO-Vollversammlung das Ende eines Pandemievertrags heraus.
Martine Duprez’ Ministerium widerspricht. „Der Pandemievertrag ist nicht vom Tisch, die Verhandlungen werden weitergeführt und der Text soll spätestens bei der 78. Weltgesundheitsversammlung angenommen werden“, heißt es in der schriftlichen Antwort an das Tageblatt weiter. Die nächste Vollversammlung der WHO-Mitgliedstaaten ist im Jahr 2025. Es wird also weiterverhandelt. „Die nächste Verhandlungsrunde ist für Herbst geplant“, heißt es dazu aus dem Gesundheitsministerium.
Angenommen und verabschiedet wurden hingegen laut WHO-Presseerklärung Änderungen an den seit 2005 bestehenden „International Health Regulations“ (IHR). „Jedes Mitglied entscheidet im Anschluss souverän darüber, ob und wie diese Änderungen in nationales Recht umgesetzt werden“, heißt es dazu aus dem Gesundheitsministerium. Und wie steht es mit Lehren aus der Pandemie? Es ist einer Motion von „déi gréng“ zu verdanken, dass Luxemburg daran gehen will, die Pandemie aufzuarbeiten. Sie wurde am 2. Mai von allen Parteien einstimmig angenommen.
Dossier: Impfgeschädigte
Zur Aufarbeitung der Pandemie gehört auch das Thema „Impfschäden“. Nicht nur bei der „Patiente- Vertriedung“ liegen Dossiers von Geimpften, die von daraus resultierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen betroffen sind. Das Gesundheitsministerium bestätigt auf Anfrage des Tageblatt 41 Entschädigungsanträge im Zusammenhang mit der Impfung gegen Covid-19, die „derzeit bearbeitet werden“. Das Ministerium habe ein Verfahren eingeführt, um die Beantragung einer staatlichen Entschädigung für schwere Impfschäden zu erleichtern.
Der geplante Pandemievertrag
Laut Vertragsentwurf sollen die einzelnen Staaten durch eigenständige Verbesserung der nationalen Kapazitäten wie Labore, Krankenhäuser oder Lager für medizinisches Material wie Masken, Impfampullen oder Sauerstoff selbstständiger werden. Ein weiterer Punkt ist der Technologietransfer zur Herstellung von Impfstoffen. Das soll laut dem Vertragsentwurf zukünftig schneller gehen. Gegebenenfalls soll auch das Patentrecht zeitweise ausgesetzt werden, um eine möglichst schnelle Produktion auch in Schwellen- und Entwicklungsländern zu ermöglichen. Darüber hinaus sollen Exportbeschränkungen von Vakzinen und medizinischen Gütern im Ernstfall verhindert werden.
Die WHO
Die Weltgesundheitsorganisation, eine Unterorganisation der UN, hat aktuell 194 Mitglieder. Immer wieder – vor allem in der Covid-19-Pandemie – gab es Kritik an der internationalen Organisation. Nicht immer lag die WHO mit ihren Entscheidungen richtig. Bei der von der WHO als „Pandemie“ eingestuften Schweinegrippe 2009/2010 mussten anschließend Tausende Impfstoffe vernichtet werden, und die 2022 aufgekommenen Affenpocken entwickelten sich längst nicht so schlimm, wie angesichts der von der WHO ausgerufenen „Notlage von internationaler Tragweite“ angenommen. Von den Pflichtbeiträgen ihrer Mitglieder kann die WHO schon lange nicht mehr leben bzw. ihrer Aufgabe gerecht werden. Freiwillige Spenden machen mittlerweile mit 85 Prozent den größten Teil des Budgets aus und lassen die Frage nach der Unabhängigkeit der WHO regelmäßig aufkommen. Das moniert auch die „Patiente-Vertriedung“. Spender sind in allererster Linie vor allem Mitgliedsländer. Allein Luxemburg hat für die Periode 2021 zusätzlich einen freiwilligen Beitrag von 0,32% zum Gesamtbudget der WHO geleistet, das sich in dem Jahr laut WHO auf 7,8 Milliarden US-Dollar belief. Deutschland beteiligte sich im gleichen Zeitraum freiwillig mit 17,1% am WHO-Budget, die USA mit 7,1% und die heutige Gates-Stiftung mit 9,4%. Teile der Spenden sind zweckgebunden. Die letzten verfügbaren Finanzberichte auf der WHO-Seite stammen aus den Jahren 2020/21.
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