/ Claude Wiseler: Über einen, der zum Siegen verdammt war
Er galt für viele sicher als neuer Premier Luxemburgs. Doch es kam anders. Wie hat der Mann, der nun eigentlich Staatsminister sein sollte, seine Niederlage erlebt? Eine Begegnung mit Claude Wiseler.
Ein grauer Wintertag. Die Sonne schafft es nicht, die Straßen der Altstadt mit Licht zu füllen. Die Menschen blicken zu Boden, damit ihre Wangen dem Nieselregen in der Luft ausweichen. Wer in diesen Tagen mit Claude Wiseler reden will, muss sein Büro erst einmal finden. Es ist nicht mehr in der CSV-Fraktion, im schönen Turm der rue de l’Eau. Und es ist auch nicht im Hôtel de Bourgogne, dort, wo Xavier Bettel vor etwas mehr als fünf Jahren neue Bilder an die Wand hängte. Nein, Wiselers Büro befindet sich in einer Straße, die man nicht wahrnimmt, wenn man sie nicht wahrnehmen möchte – die man nicht betritt, wenn man sie nicht betreten möchte. Und die eigentlich mehr Gosse denn Straße ist. Für ein Auto ist sie zu eng, für ein Fahrrad zu steil. Sie trägt den konspirativen Namen rue de la Loge.
Dort, in alten Mauern, hat es sich der frühere CSV-Fraktionspräsident gemütlich gemacht. Die Decke ist niedrig, durch das Fenster dringt gerade mal genug Licht, um die Namen einzelner Werke der Wandbibliothek zu lesen: Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart oder Gilbert Trausch, CSV Spiegelbild eines Landes und seiner Politik? Claude Wiseler zündet eine Kerze an und bietet einen Kaffee an, den er selbst zubereitet. Dann setzt er sich an den Tisch, blickt freundlich seinem Gegenüber in die Augen, sodass seine Falten an den Schläfen sichtbar werden, und fragt: „Was wollen Sie denn wissen?“
Der Aufstieg
Die Geschichte von Claude Wiselers Scheitern als CSV-Spitzenkandidat beginnt vor genau fünf Jahren. Damals, als die CSV mit dem Wählerwillen rang und die Dreierkoalition euphorisiert vom eigenen Gelingen geradeaus in die ersten Kommunikationspannen lief, war für viele bereits klar, dass Claude Wiseler das neue prägende Gesicht, die neue starke Figur in der CSV sein wird. Jean-Claude Juncker war über Staatsaffären und sich selbst gestolpert, Luc Frieden ebenso, und allen anderen Spitzenpolitikern der CSV wurde schlichtweg nicht zugetraut, die Rolle des charismatischen Leaders der größten Volkspartei Luxemburgs zu übernehmen. Als „Last Man Standing“ bezeichnete Jürgen Stoldt ihn damals in einem Artikel der Zeitschrift Forum, da er die Affären-Geschichten von 2012 und 2013 unbeschadet überstand. Die Bezeichnung lässt Wiseler noch heute schmunzeln.
„Ich habe mich jedoch nie aufgedrängt“, sagt Wiseler. Auch nicht, als er sich im Oktober 2016 mit 98 Prozent der Delegiertestimmen zum Spitzenkandidaten hat wählen lassen. Die Parteispitze sei vielmehr zum Entschluss gekommen, dass er der geeinigte Kandidat sei. Die Entscheidung strapazierte zwar etwas die Freundschaft mit Luc Frieden, der sich lange als Nachfolger von Jean-Claude Juncker wähnte, aber nachhaltige Wunden riss sie nicht auf. Es ist dabei erstaunlich, dass beide Politiker bis heute eine innige Freundschaft verbindet, waren sie doch im Schatten von Jean-Claude Juncker stets politische Kontrahenten. Schon in einem Artikel im Quotidien von 2001 schrieb der heutige Editpress-Direktor Jean-Lou Siweck von diesem Duell: „Et si le dauphin s’appelait Claude et pas Luc?“ Aber Freundschaften seien auch in der Politik unter Kontrahenten möglich, versichert Wiseler.
Journalisten und politische Beobachter lobten damals die CSV dafür, so schnell klar Schiff zu machen. Zwei Jahre vor den Wahlen sprach Wiseler als Spitzenkandidat erstmals von seinem „Plan für Luxemburg.“ Die CSV war bereit für den Wahlkampf, bereit für die Wiederwahl. Ein Frühstart? Im Nachhinein ein Fehler? Wiseler denkt für einen kurzen Augenblick nach. Dann schüttelt er den Kopf. „Nein, ich glaube nicht.“ Auf der Partei habe damals ein großer Druck gelastet, und man wollte unbedingt zermürbende Diskussionen um die Spitzenkandidatur vermeiden. „Aber …“ – er hält für einen kurzen Moment inne – „vielleicht waren wir uns alle doch etwas zu sicher.“
Tatsächlich sagten die Umfragen einen haushohen Sieg der CSV voraus. Die Frage war nicht mehr, ob die Christlich-Sozialen die Wahlen gewinnen, sondern wie hoch. Und manche schlossen gar das Szenario einer absoluten Mehrheit im Parlament nicht aus. „Das war Gift“, so Wiseler. Denn diese Debatten führten zu der falschen Sicherheit, dass die Parlamentswahlen zu einem Selbstläufer werden könnten. Einem Spaziergang zurück an die Macht. Die Partei habe diese Falle irgendwann erkannt, so Wiseler. Er habe mit Parteipräsident Marc Spautz ab einem gewissen Zeitpunkt versucht, gegenzusteuern. „Umfrageergebnisse sind keine Wahlergebnisse.“ Man übte sich in Understatement. Aber die Menschen wollten diese mahnende Botschaft nicht hören.
Ihren Höhepunkt erreichte die CSV unter Claude Wiseler im September 2017 bei den Lokalwahlen. Der CSV gelang es, die LSAP als wichtigste Partei auf kommunaler Ebene abzulösen und selbst sozialistische Hochburgen wie Esch einzunehmen. „Das war ein schöner Erfolg“, so Wiseler, „aber im Hinblick auf die Parlamentswahlen auch nur eine Momentaufnahme.“
Die Niederlage
Nach den Kommunalwahlen schalteten eigentlich alle Parteien fließend in den Wahlkampf-Modus für die Parlamentswahlen. Und je länger dieser lief, desto schlechter schien auf einmal die CSV dazustehen. Einen ersten kleinen Knick für Claude Wiseler brachte der Konflikt mit Viviane Reding im Frühling 2018. „Das war eher eine mediale Geschichte und kein wirklicher Disput“, sagt Wiseler. Dennoch tat sich die Partei schwer, die Unstimmigkeiten wegzumoderieren. Zu diesem Zeitpunkt waren die Umfragen allerdings noch bestens: Die CSV hatte noch alle Optionen offen, welchen Koalitionspartner sie sich am Ende würde aussuchen können.
Bei einer richtungsweisenden Diskussion setzte sich Wiseler dabei früh durch: Keine Koalition mit der ADR, kein Ruck nach rechts. Im sehenswerten RTL-Dokumentarfilm von Pascal Becker gibt es eine Szene, in der Wiseler seinem Parteikollegen Michel Wolter unmissverständlich klarmacht, dass es für ihn nur den Weg der Mitte geben kann. „Das kam und kommt für mich nicht in Frage“, so Wiseler. „Ich wollte es auf meine Art machen.“ Und dazu gehörte weder ein Rechtsruck noch ein Revanchismus-Gedanke.
Warum ist er in der Öffentlichkeit nie so klar und entschlossen aufgetreten wie in dieser Szene gegenüber Wolter? Das könne er nicht sagen, so Wiseler. Seiner Auffassung nach sei er stets so aufgetreten. Aber es sei vielleicht nicht so rübergekommen. „Viele haben mir unterstellt, ich sei nicht aggressiv genug gewesen, aber das ist eben nicht mein Stil.“ Er stehe für sachliche Debatten.
Das Problem: Die sachlichen Debatten wollten zu keinem Moment des Wahlkampfs so recht zünden. Das sieht auch Wiseler so. Und darin sieht er einen Grund für die verlorene Wahl. „Wir haben es nicht hinbekommen, unsere Ideen zu vermitteln.“ Er stehe weiter hinter seinem „Plan“, das sei die richtige Politik. Aber in der Kommunikation seien Fehler unterlaufen. Zugespitzt ausgedrückt: Es gab zwar einen Plan, aber niemand hat ihn verstanden.
Doch Wiseler wäre nicht Wiseler, wenn er jemand anderen als sich selbst dafür verantwortlich machen würde. Nicht das Wahlkampfteam, nicht seinen Kommunikationsstrategen Marc Glesener, ja nicht einmal die Medien. Es sei ihm nicht gelungen, die Ideen verständlich zu erklären. „Die Kunst besteht heute darin, die eigene Politik in 140 Zeichen zu erklären. Ich habe das nicht hinbekommen“, so Wiseler. „Vielleicht hätten wir stärker auf zwei, drei Maßnahmen setzen sollen als auf einen gesamten Plan.“ Stärker auf Botschaften als auf einen Slogan. Und vielleicht auch weniger auf sein Konterfei als auf unterschiedliche Politiker. Aber: „Nachher ist man immer schlauer.“
Wer Wiseler im Wahlkampf beobachtet hat, konnte feststellen, dass diese kräftezehrende Form des Werbens um die eigene Person und Politik ihm weniger liegt als etwa Xavier Bettel. Während Bettel sich als wahre Wahlkampfmaschine entpuppt, jemand, der vor Massen geradezu aufblüht und jede Person mit einem „Bisou“ oder „Moien, ech sinn de Xavier Bettel“ höchst persönlich mit Charme und Leichtigkeit begrüßt, wirkt Wiseler im direkten Straßenwahlkampf stets etwas hölzern im Vergleich. Fast so, als wäre es ihm ein Krampf, als müsse er sich zwingen. Drauf angesprochen, sagt Wiseler: „Auch ich unterhalte mich gern mit Menschen und interessiere mich für ihre Anliegen. Aber ich zögere gelegentlich, weil ich mich frage, ob ich die Menschen nicht störe, ob es vielleicht unhöflich ist, sie einfach anzusprechen.“
Die Befreiung
Claude Wiseler will niemandem zu nahe treten, niemanden beleidigen oder schlecht über ihn reden. Und auch keinem in den Rücken fallen. Er will freundlich und manierlich bleiben. Das ist seine Art, mit diesem Stil wollte er Premier werden. „Es musste so sein und nicht anders“, sagt er. Am Wahlsonntag gegen 16 Uhr wusste er, dass er verlieren wird. „Alle Hochrechnungen deuteten darauf hin.“ Das Schlimmste sei dabei für ihn gewesen, den Menschen im Angesicht der Niederlage gegenüberzutreten. Den enttäuschten CSV-Mitgliedern mitzuteilen, dass er gescheitert ist.
Warum hat er nicht noch weitergekämpft? Warum hat er in der Elefantenrunde nicht noch versucht, die drei Parteien zu spalten, etwa indem er für eine Regierungsbeteiligung den Premierministerposten opfert? Wiseler überlegt lange, faltet seine Hände zusammen und sagt: „Man muss wissen, wenn man verloren hat.“ Und jetzt? „Ich war über zehn Jahre Minister, dann Fraktionschef und Spitzenkandidat, nun möchte ich einfach nur Parlamentarier sein.“ Sich auf Dossiers konzentrieren, den jungen Politikern beratend zur Seite stehen, sich um die Enkelkinder kümmern. Und mehr Zeit für Schreiben und Literatur aufbringen.
So redet niemand, der mit einer Niederlage ringt, der mit seinem Schicksal hadert. Fast wirkt es so, als sei von ihm eine Last abgefallen: Die Last, Staatsminister zu werden. Man muss sich keine Sorgen um Claude Wiseler machen. Ob das auch für seine Partei gilt, ist allerdings eine andere Frage.
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Grauer Wintertag, ideal um CW zu treffen. Ironie, ob gewollt oder ungewollt, trifft vorzüglich. Anders als François Leclerc du Tremblay, wirklich grau.
Wiseler ist ein Humanist. Für die Politik ist er zu zart besäitet . Er ist kein Kämpfer und Streiter, Qualitäten, die erforderlich sind um sich in der Politik durchzusetzen. Im Hintergrund, links auf dem unteren Foto, ist eine Buddhafigur zu erkennen. Wer sich mit Buddha und seiner Lehre beschäftigt, geht den Pfad des Weisen und nicht mit dem Kopf durch die Wand.