Kritik / Corona-Literatur: Platzpatronen oder Perlen?
Was taugen die Corona-Neuerscheinungen, die nun die Regale der Buchhandlungen füllen? Kann man zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon aussagekräftige Werke über die Pandemie schreiben? Drei exemplarische Werke auf dem Prüfstand.
Corona-Literatur. Geschrieben in der Pandemie, über die Pandemie. Was wollen diese Werke? Was können sie leisten? Von Menschen, die sich in der Literaturszene bewegen, gleichsam misstrauisch beäugt, poppen nun immer mehr Titel, die von dem Covid-19-Virus handeln, in den Verlagsprogrammen auf. Hinter dem Stirnrunzeln der Branchenleute steht oft die Annahme, dass es Zeit braucht, um einen historischen Moment auf angemessene Weise künstlerisch aufzuarbeiten, dass zuerst Distanz gewonnen werden muss, um ein Ereignis mit epochaler Bedeutung gedanklich zu filtrieren und das Ergebnis schließlich in die richtige literarische Form zu gießen. „Um gute Literatur zu schaffen, braucht man Geduld“, sagte einmal ein Luxemburger Autor bei einem Treffen in der Hauptstadt. Der Satz, der nebenbei gefallen war, birgt den Hauptkritikpunkt, den man gegen die schon erschienenen Corona-Texte ins Feld führen kann: Ihnen fehlt die Vogelperspektive auf das Geschehen, die nur durch einen zeitlichen Abstand gewonnen werden kann, und damit auch den nötigen Tiefgang – oder nicht?
Mangelt es Corona-Literatur automatisch an Hintersinn, weil sie noch zu nah dran ist an dem, was sie transzendieren möchte? Was sie kritisch zu bespiegeln vorgibt? Kann sie Ordnung schaffen in einer unübersichtlichen Gegenwart, zu der sie selbst gehört? Und kann sie originell sein? Immerhin drängt sich der Stoff, den sie zu verarbeiten sucht, jedem mit Brachialgewalt auf – immer und überall. Corona ist (was bisher nur für Gott galt) omnipräsent. Und erscheint eine Literatur, die auf diesen Zug aufspringt, nicht notgedrungen fade? Ist Corona-Literatur nichts anderes als Trittbrettfahrer-Literatur? Nach dem Ersten Weltkrieg hat es zehn Jahre gedauert, bis Pro- und Antikriegsromane den deutschen Büchermarkt überfluteten. Den Grund für diese Leerstelle von einem Jahrzehnt wird bis heute in der Forschung diskutiert. Das Schweigen während der ersten Nachkriegsjahre wird als Zeichen für die tiefe Verwundung, die der Gesellschaft zugefügt wurde, gedeutet. Traumaverarbeitung braucht ebenfalls seine Zeit. Und ein globales Trauma gibt es auch jetzt. Ist es zu früh, um es in Worte zu fassen?
Unausgegorenes auf Papier?
Anhand von drei exemplarisch ausgewählten Werken kann man versuchen, dieser Frage beizukommen. Bei den hier aufgeführten Büchern handelt es sich um völlig verschiedene Texte: Caroline Emckes „Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie“ ist keine fiktionale Erzählung, sondern ein Tagebuch mit persönlichen Betrachtungen über die gesellschaftlichen Implikationen der Pandemie. Bei Marlene Streeruwitz’ „So ist die Welt die Welt geworden“ handelt es sich nach eigenen Angaben nicht um einen, sondern um den Covid-19-Roman. Es ist der Autorin zufolge „ein politisches Forschungsprojekt mit literarischen Mitteln“. In dem Sinne beansprucht der Roman nicht nur eine vorausweisende Mustergültigkeit für sich, sondern definiert sich auch als ein politisch-engagiertes Unterfangen. Letzterem ist die Literatur als Instrument unterstellt. Safiye Cans „Poesie und Pandemie“ ist schließlich ein Gedichtband, der sich sowohl mit der Corona-Seuche als auch mit anderen Aktualitätsthemen beschäftigt. Auch dieses Werk reflektiert über die Grundvoraussetzungen von Demokratie und sozialer Gleichheit.
Emckes „Journal“ wird vom S. Fischer Verlag als Bestseller ausgewiesen, es wurde seit seiner Veröffentlichung im Frühjahr dieses Jahres vielfach in der Presse besprochen. Ganz nach dem Muster des Tagebuchs beschreibt die Autorin in datierten Einträgen ihren persönlichen Umgang mit der Pandemie – aber vor allem deren gesellschaftliche Tragweite. Mit analytischem Fingerspitzengefühl und der Gesetztheit eines Flaneurs tastet sich Emcke in ihrer essayistischen Prosa voran. Auf ihrem Weg greift die Autorin Ideen auf, klopft sie nach ihren Bedeutungsfacetten ab, lässt sie fallen und spinnt sie später weiter: „Wenn wir in der Covid-19-Krise erleben, dass wir alle Opfer werden können, dass es alle treffen kann, wenn auch nicht alle gleich, dann sollten wir auch mehr unsere soziale, lokale, internationale Verbundenheit betrachten, nicht die zufällige Abstufungen des Glücks oder Unglücks, sondern als Ungerechtigkeiten, in die wir verwickelt, verwoben, verschuldet sind.“
Aufrüttelnde Prosa
Emcke gilt als Vertreterin eines humanistischen, feinfühligen Journalismus, der diese Sensibilität nur erreichen kann, indem er das schreibende Ich als locus der Erfahrung nicht ausklammert, sondern es nutzt, um eindringlich zu schreiben – um den Leser mit einer Direktheit zu erreichen, die ihm den Atem verschlägt. Das, was ihre Reden und Reportagen so fasslich, so nahbar macht, entfaltet sich im „Journal“ mit voller Kraft. Emcke reflektiert über die Misere der Kulturschaffenden und Einzelhändler im Lockdown – jedes geschlossene Geschäft ist „wie ein vorauseilender Abschied“ –, das bittere Los der Obdachlosen, für die das Corona-Mantra „Bleibt zu Hause!“ nichts mehr als eine zynische Erinnerung an ihre Randständigkeit ist, das nationalistische Platzhirschgehabe von Politikern, der Rechtsruck, der durch den globalen Norden geht, und die Destabilisierung der EU.
Emckes Text verwebt intelligente Sozialkritik, die unübersehbar den Stempel der Frankfurter Schule trägt, mit verträumtem Idealismus: „Es braucht ein Wir, und sei es als utopischen Vorgriff, als schreibende Behauptung dessen, was herzustellen die Aufgabe ist, mit jedem verfluchten Text, aber vor allem durch politisches Handeln.“ Manchmal mag dieser Enthusiasmus am Kitsch entlangschrammen – dennoch ist „Journal“ ein Werk, das betroffen macht. Es regt den Leser nicht nur zum kontemplativen Innehalten an, sondern ermutigt auch zum Hinsehen, Mitdenken und – sofern möglich – zum Handeln.
Ins Bizarre abgedriftet
Anders operiert nun Marlene Streeruwitz’ Roman „So ist die Welt geworden“. Hauptfigur und Alter Ego der Autorin ist Betty Andover. Für Betty führt die Pandemie zu einer handfesten Lebenskrise, in der Zeit- und Realitätswahrnehmung verfransen. So tauchen plötzlich Fiorentina und Irma auf, zwei Figuren, die Bettys Fantasie entspringen, und mit ihr fortan eine „Bande“ bilden. Manchmal stattet auch Edwin, Bettys Ex-Mann, ihr als Hirngespinst einen Besuch in der Wohnung ab. Betty kämpft mit Angstzuständen und Symptomen einer depressiven Verstimmung, wollte man ihr Leiden mit anderen Worten beschreiben, müsste man wohl auf Rilkes „Panther“ verweisen. Auch bei Betty steht nämlich in der Mitte ein großer Wille; eine Wut und eine Verbissenheit, die die Romanheldin als einzige Triebfeder aus ihrer Lockdown-Lethargie reißen und zur Tätigkeit anregen – selbst wenn diese ziellos und chaotisch erscheint. So bricht Betty zum Beispiel aus dem Alltagstrott aus, indem sie in ihr Auto steigt und aufs Geratewohl für ein paar Stunden wegfährt; oder aber im Schillerpark vor der Statue des NS-Lyrikers Josef Weinheber mit Abschleppseil in der Hand protestiert.
An der österreichischen Regierung unter Sebastian Kurz übt Betty/Streeruwitz harsche Kritik – verliert sich dabei aber leider in grotesken Anschuldigen. Sie spricht von „Hygienehaft“, in der sie alle „von dieser Politik zum Kind“ gemacht worden seien: „Wir sind unseren Regierungen hilflos ausgeliefert! Wir sind Geiseln in diesem Kampf!“ Solche Aussagen dürften Wasser auf den Mühlen von den sogenannten „Corona-Kritikern“ sein, sie bedienen Feindbilder von „denen da oben“ und blenden die Gefahr, die vom Virus ausgeht, aus. Absurd und völlig inakzeptabel sind die Vergleiche, die Betty/Streeruwitz zwischen den Corona-Maßnahmen und dem Dritten Reich (ja, Sie haben richtig gelesen), zieht: Der Kanzler „hatte den Nazikampf gegen Wien wieder aufgenommen“. Durch solche Aussagen büßt der Roman leider einen Großteil seiner Glaubwürdigkeit ein. Dabei zeigt die Autorin durch die Art, wie sie den Leser durch den Text führt, ihr handwerkliches Können. Liest man den Roman als Aufschrei einer Figur, die im Lockdown überrannt wird von Einsamkeit und existenziellen Sorgen, kann man ihm trotz Streeruwitz’ Fantastereien etwas abgewinnen, ja, sogar mehr: Das Fabulieren der Autorin kann bei einer Lektüre gegen den Strich als eindeutigster Ausdruck für die Notlage der Protagonistin gedeutet werden.
Querschnitt durch die Pandemie
Einen noch anderen Zugang wählt Safiye Can mit ihrem Gedichtband „Poesie und Pandemie“. In ihrem 16-teiligen Gedicht, das den gleichen Namen wie die Anthologie trägt, entwirft Can einen lyrischen Abriss der Corona-Krise. Der Inhalt ihrer Verse streut weit aus und macht durch ihre kaleidoskopische Vielfalt deutlich, wie all-umfassend – und überaus schmerzhaft – die Pandemie als Kollektiverfahrung ist: „In diesem Jahr zerschellte unser Herz/in viele Stücke./Die Hoffnung fegte sie zusammen und legte sie/jeden Morgen erneut an unsere Haustüre./Ganz Mekka war leer/der Louvre war leer/Disney World war leer.“ Can wendet sich der sanitären Notlage, aber auch anderen Übeln wie dem Ausschluss von Geflüchteten und der Diskriminierung von Frauen zu. Ihre Lyrik ist eingängig und raffiniert zugleich, nur bedient sich die Autorin etwas zu oft Gemeinplätzen. Würde sie auf ausgedörrte Devisen wie „der Weg ist das Ziel“ oder „Mensch ist Mensch/Wir sind eins/wir gehören zusammen“ verzichten, würde ihre Lyrik noch an Überzeugungskraft gewinnen. Dennoch bieten Cans Verse Denkfutter – man findet sich in ihnen wieder, eben weil sie unsere Lebenserfahrung der vergangenen zwei Jahre kurz und knapp summieren.
Was zeigt uns nun das Durchblättern ausgewählter Neuerscheinungen? Vornehmlich, dass es möglich ist, ausdrucksvolle Corona-Literatur zu schreiben – auch jetzt schon, wo die Augen der Menschen, denen man begegnet, noch über der Atemschutzmaske hervorlinsen und man sich mit einem Ellenbogen-Stupser anstatt eines Handschlags begrüßt. Denn jedes der Werke hebt den Inhalt, an dem es sich abarbeitet, über seine eigenen Grenzen hinweg, indem es über globale Zusammenhänge und Konsequenzen reflektiert und so das Ereignis „Corona“ im Weitwinkel betrachtet. Die Texte tun das beileibe nicht auf die gleiche Weise und vielleicht auch nicht gleich gut – aber darin unterscheiden sich pandemische Prosa und Lockdown-Lyrik wohl nicht von herkömmlicher Literatur.
*Die Reihenfolge, in der die Bücher vorgestellt werden, erfolgte zufällig und stellt kein qualitatives Ranking dar (Anm. d. Red).
- „und zerbröselt in vierzig stückchen illusion“: Tom Webers Lyrikband „fluides herz“ erzählt von Zerfall und Neubeginn - 19. Dezember 2022.
- Wir müssen die Lyrik befreien: Warum die Dichtung trotz ihrer Präsenz in den Medien ein Image-Problem hat – und wie sich das ändern kann - 27. November 2022.
- Mehr Akzeptanz fürs Kinderwunschlosglück: „Nichtmuttersein“ von Nadine Pungs - 4. September 2022.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos