Soziales Engagement / Croix-Rouge: „Uns wird oft vorgeworfen, dass wir zu viel machen“
Die gerahmte Urkunde mit goldener Schrift fällt auf im Büro von Michel Simonis (56). Die „Médaille en argent“ des monegassischen Roten Kreuzes honoriert den langjährigen Einsatz der Erste-Hilfe-Sanitäter der Croix-Rouge luxembourgeoise (CRL) beim „Grand Prix de Monaco“ der Formel 1. Eine nicht ganz so schnelle Runde mit dem Generaldirektor durch Selbstverständnis, Aufgaben und Spezialisierung der Hilfs- und Sozialorganisation.
Tageblatt: Sie haben Betriebswirtschaftslehre studiert, eine kaufmännische Ausbildung gemacht und schon vor der Croix-Rouge im sozialen Bereich gearbeitet. Warum hat es Sie dahingezogen? Sie hätten auch in die Finanzindustrie gehen können …
Michel Simonis: Ich hatte nach dem Studium keine konkreten beruflichen Pläne. Dann kam die Chance, beim Dachverband der Kindertagesstätten im Land als Geschäftsführer zu beginnen. Damals waren Finanzexperten im Sozialwesen Exoten. Das war ein spannender Einstieg, weil ich die unterschiedlichen politischen und ideologischen Beweggründe der Menschen, die sich im sozialen Bereich engagieren, kennengelernt habe. 1992 hat die Einführung der Pflegeversicherung viele Akteure im Land vor große Aufgaben gestellt. Der Patient war plötzlich Kunde und hat sich auf einem freien Markt mit vielen Anbietern wiedergefunden. Das war ein Kulturschock. 2002 habe ich die Neuerungen als Direktor des Pflegedienstes Help umgesetzt. Er gehört zur Croix-Rouge und seit 2013 bin ich Generaldirektor.
Das Rote Kreuz kennen die meisten als Hilfsorganisation. Die Autos mit dem roten Emblem sind bei Krisen und Katastrophen oft die Ersten vor Ort. Welche Rolle spielen die humanitären Einsätze im Rahmen aller Aktivitäten der CRL heute?
Es ist ein vergleichsweise kleiner Bereich, aber ein wachsender. Beim Tsunami 2004 bekamen wir so eine große Spendensumme, dass wir eigene Teams und Einsätze aufbauen konnten. Vorher haben wir die Spenden gesammelt und nach Genf geschickt, wo das internationale Komitee sitzt. Nach dem Tsunami haben wir uns auf die französischsprachigen Gebiete in Afrika konzentriert. Mittlerweile haben wir uns auf die Hilfe für Menschen spezialisiert, die durch Krisen kein Dach mehr über dem Kopf haben. Da agieren wir und sind Partner des Roten Kreuzes vor Ort. Wir waren aber auch lange als Hilfsorganisation in der Ukraine aktiv und sind es heute wieder.
Mit was?
Wir haben 30 Jahre lang herzkranke Kinder aus der Ukraine nach Straßburg (F) geflogen. Sie wurden dort behandelt und zur Genesung haben wir sie nach Luxemburg gebracht. Heute machen wir Ersteinsatz mit unseren Mitteln und versuchen insbesondere zerstörte Kliniken oder Altenheime wieder ans Laufen zu bringen. Wir reparieren, damit sie funktionieren können. Im Moment sind wir in Kiew und in Lwiw. Das haben wir bis 2021 auch im Donbass gemacht. Momentan ist die Sicherheitslage zu heikel.
Die meisten Aktivitäten finden laut letztem Geschäftsbericht im Bereich „Santé“ statt. Krankentransporte, Blutkonserven, Rehabilitation, Pflegedienst … Ist die Croix-Rouge heute mehr ein Sozialdienst als eine Hilfsorganisation
Der Auftrag der Rote-Kreuz-Gesellschaften ist es nach der Genfer Konvention, einen Dienst vorzuhalten, der im Kriegs- und Krisenfall hilft. In unserer Satzung steht, dass wir uns in Friedenszeiten im sozialen und Gesundheitsbereich engagieren. Wir schauen, wo sind die Leute in Not, wo fehlen staatliche Angebote. Wir sind ganz klar sowohl Hilfsdienst als auch Sozialdienst. Uns wird oft vorgeworfen, dass wir zu viel machen. In der Coronakrise haben wir gespürt, dass genau das unsere Stärke ist, so vielfältig und vernetzt zu sein.
Die Croix-Rouge betreibt landesweit rund 35 soziale Dienste. Da kann man schon auf die Idee kommen, sie nimmt dem Staat Aufgaben ab …
Das ist kein Manko, sondern das Prinzip der Subsidiarität. Wir sind ein Player, der versucht, die staatlichen Angebote auszufüllen, ohne Konkurrent sein zu wollen. Unser Augenmerk liegt dabei auf den Schwächsten der Gesellschaft, die entweder durch die Maschen des sozialen Netzes fallen oder einen erschwerten Zugang zum sozialen System haben.
Erschwerter Zugang?
Menschen, denen die nötigen Informationen fehlen oder die sich auf diesem Markt nicht zurechtfinden oder ihre Rechte nicht kennen. Auch sie sollen eine Leistung erwarten dürfen. Der Großteil von dem, was wir machen, sind Leistungen, die über Konventionen oder Kassenleistungen laufen, für die also ein gesetzlicher Rahmen des Staates da ist. Aber faktisch zahlen wir in all diesen Bereichen drauf. Wir erbringen oft mehr, als abgerechnet werden kann. Das machen wir mit gutem Gewissen. Diese Lücke an zusätzlichen Leistungen für die Schwächsten der Gesellschaft wollen wir füllen.
42 Prozent der Spenden, die 2021 nicht verbraucht wurden, sollen in den Jugendbereich fließen. Das ist Wunsch der Spender. Werden Sie in Zukunft verstärkt Projekte in dem Bereich angehen?
Der Jugendbereich ist immer schon wichtig gewesen, aber da muss noch mehr gemacht werden. Wir sehen, dass die Zahl der Jugendlichen wächst, die während der Schulzeit eine falsche Abbiegung nehmen und auf Hilfe angewiesen sind. Das ist auf jeden Fall eine Zukunftsaufgabe.
Im Jahr 2021 hat die Croix-Rouge hier im Land elf testamentarische Erbschaften als Spende erhalten. Im Jahr 2020 waren es nur fünf. Das sind ungewöhnlich viele. Werten Sie das als gestiegenen Zuspruch für die Croix-Rouge?
Ja, obwohl die testamentarischen Nachlässe sehr schwankend sind von Jahr zu Jahr. Aber gerade in der Coronakrise waren wir sehr sichtbar. Die Menschen sehen, dass, wenn eine „Urgence“ ist, wir aktiv sind. Wenn wir Mittel haben, dann nehmen wir diese, um morgen eine Lösung zu finden. Das machen wir gerade in der Flüchtlingskrise.
Inwiefern?
Wir haben in Flüchtlingsheimen viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gesehen, die ohne Eltern, ohne Verwandte hier sind. Sie sitzen da zwischen anderen Erwachsenen und Familien. Wir sind gerade dabei, ein Gebäude herzurichten in Bartringen, wo wir demnächst neun Kinder aufnehmen und betreuen können. Das machen wir aus eigenen Mitteln. Wir agieren kurzfristig in Notfällen – ohne lange Prozeduren. Das erkennen die Menschen an. Wir bauen jetzt mit einem anderen Erbe, in dem ein Grundstück enthalten ist, im Norden des Landes ein Kinderheim. Der Zweck war klar definiert: „Notdürftige Kinder“. Manchmal stehen in den Testamenten aber auch Sachen, die wir nicht machen können.
Ist das schon mal vorgekommen?
Ja. Das Château de Birtringen (Gemeinde Schieren, Anm.) ist ein Beispiel. Wir haben das Schloss aus einem Erbe bekommen. Testamentarisch war festgelegt, wenn wir es nicht für unsere Zwecke qua Satzung nutzen und es verkaufen, dann erhalten die Erben ein Drittel des Verkaufspreises. Wir haben uns dagegen entschieden, es zu behalten. Unser „objet social“ ist es nicht, ein denkmalgeschütztes Schloss zu renovieren – zumal das Gebäude nicht ökonomisch sinnvoll einem sozialen Zweck hätte zugewiesen werden können.
84 Prozent der Investitionszuschüsse kommen laut Geschäftsbericht 2021 vom Staat. Von dort kommen auch die meisten Einnahmen. Abgesehen von der Bedeutung des Engagements der CRL lautet einer der internen Grundsätze Unabhängigkeit. Kann man das dann noch sein?
Ja, kann man. Der erste Gedanke ist ja, wenn man staatliches Geld nimmt, müsse man sich irgendwelchen Direktiven von dieser Seite unterwerfen. Wenn das so wäre, dann würden wir nicht weitermachen. Bei uns gibt es zwar einen staatlichen Beobachter in der „Assemblée“, aber der hat kein Stimmrecht. Wir sind uns aber andererseits bewusst, dass in einer finanziellen Krise das Rote Kreuz eventuell in Gefahr gerät, seine Leistungen nicht mehr in dem Ausmaß erbringen zu können.
Sie haben im Jahr 2021 rund 2.700 Menschen beschäftigt, heute sind es mehr. Das entspricht 2.200 Vollzeitstellen. Das sind mehr als bei der Spuerkeess oder der BIL. Ist die Croix-Rouge ein „Hidden Player“ am Arbeitsmarkt? Man hat sie nicht auf dem Schirm!
Ja. Das gilt für uns und andere im Sozial- und Gesundheitswesen in Luxemburg. Wir tauchen im Ranking zwischen den großen Unternehmen nicht auf, weil das statistische Gründe hat. Die Gruppe Croix-Rouge ist in Luxemburg in verschiedene Einzelorganisationen aufgeteilt. Aber wir sind uns der Verantwortung als großer Arbeitgeber durchaus bewusst. Viele Mitarbeiter kommen zu uns, weil sie sich ins Wertgebilde unserer Organisation einbringen wollen.
Etwas weniger als die Hälfte der Croix-Rouge-Arbeitnehmer wohnt nicht in Luxemburg. Wie haben Sie die Lockdowns bewältigt – mit geschlossenen Grenzen?
Da war uns schon angst und bange. Aber es ist nicht dazu gekommen, dass die Regierungen der Nachbarländer gesagt haben, wir brauchen die Leute bei uns. Im Gegenteil: Sie haben eine Ausnahmeregelung für diese Personengruppe gefunden. Das hat aber auch gezeigt, dass wir zwar unser Sozial- und Gesundheitswesen stetig ausbauen, aber ohne gleichzeitig genügend Fachpersonal hier im Land auszubilden. Wir müssen jenseits der Grenzen rekrutieren. Da müssen wir uns in Zukunft Gedanken machen
Die CRL baut ein neues Gebäude in Howald. Warum?
Wir sind auf zu viele Standorte aufgeteilt. Wenn ich Leute von der Jugendorganisation treffen will, muss ich nach Bartringen fahren. Das Sozialwesen sitzt in Merl, und so weiter. Für die Idee, vernetzt und mit Vertretern aus ganz vielen verschiedenen Abteilungen zu überlegen, wie können wir die Herausforderungen unserer Gesellschaft angehen, muss man sich treffen. Die wachsende „Croix-Rouge luxembourgeoise“ soll zusammenwachsen, nicht auseinander wachsen.
Croix-Rouge luxembourgeoise
1914 wird auf Initiative der damaligen Großherzogin Marie-Adélaïde eine Hilfsorganisation für die Verletzten des Ersten Weltkrieges geründet. 1923 erweitert ein Gesetz die Aufgaben des Roten Kreuzes in Luxemburg in Friedenszeiten. Die Organisation „Croix-Rouge luxembourgeoise“ (CRL) darf sich eine eigene Satzung geben. Im Selbstverständnis der CRL erklärt das die Aktivitäten in allen Gemeinden des Landes und die vielfältigen Aufgaben, die die CRL mittlerweile erfüllt. Die Organisation, das Asbl-Gesetz kommt erst 1928, hat eine „Assemblée“ ohne den Zusatz „générale“, wie bei Vereinen üblich. Drei Viertel der Arbeitnehmer bei der CRL sind Frauen.
Finanzen und Neubau
Die CRL verfügt über ein Eigenkapital von 86 Millionen Euro (Stand 2021) an Geldsumme. Hinzu kommen Immobilien. Als Gesamtbudget weist der 2021er Geschäftsbericht 316 Millionen Euro aus. Rund 170 Millionen Euro an Einnahmen kommen jährlich von der CNS, dem Staat und Kommunen. Rund 10 Millionen Euro erzielt das CRL mit den Blutkonserven des Spenderblutes. 2021 betrug das Spendenaufkommen 11,1 Millionen Euro (Geldspenden und Nachlässe). Den Neubau finanziert die CRL über einen Geländetausch. Der Organisation gehört ein Baugrundstück in Merl, das sie gegen ein kleineres Gelände in Howald plus Bau des Gebäudes tauscht.
- Näherinnen hauchen Werbeplanen von Amnesty International Luxembourg neues Leben ein - 10. November 2024.
- Verlust oder Chance? Wenn jeder Tag ein Sonntag ist, helfen Pensionscoaches - 2. November 2024.
- „Habe eine Welt kennengelernt, die ich so nicht kannte“ – Porträt einer Betroffenen - 29. Oktober 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos