/ Das bessere Belval: Bürger sollen sich an der Entwicklung des neuen Viertels in Esch beteiligen
145 Jahren nach der Eröffnung der Metze-Schmelz legte ArcelorMittal im Februar 2016 das Stahlwerk Esch-Schifflingen still. Schnell war klar, dass die privatrechtliche Entwicklungsgesellschaft Agora, die zu gleichen Teilen dem Luxemburger Staat und dem multinationalen Stahlkonzern gehört, den Industriestandort in ein neues Stadtviertel verwandeln soll. Nach der Durchführung einer Machbarkeitsstudie beginnt am 29. März nun die Planungsphase. Die Bürger sollen sich aktiv an der Konzeption beteiligen.
„Wir dürfen nicht die gleichen Fehler wie auf Belval machen.“ Dieser Satz fällt immer wieder, wenn es um die Entwicklung der Industriebrache Esch-Schifflingen geht. In Belval stand ein von Stadtplanern auf dem Reißbrett entworfener Masterplan am Anfang der Prozedur. „Zu rigide“ sei dieser Masterplan von 2002 gewesen, erklärt Yves Biwer, Verwaltungsdirektor der Entwicklungsgesellschaft Agora s.à r.l. & Cie, die sowohl Belval als auch das mit 62 Hektar nur etwa halb so große Gelände zwischen Esch und Schifflingen erschließt. Anpassungen an die veränderten Lebens- und Verkehrsbedingungen, die sich in den letzten 20 Jahren ergeben haben, seien nur noch schwer möglich gewesen.
Agora habe aus ihren Fehlern gelernt. Auf dem Gebiet der früheren Metze-Schmelz soll diese Starrheit vermieden werden. „Wir wissen heute nicht, welche Bedürfnisse die Menschen in 15 oder 20 Jahren haben werden. Wie sie leben, wie sie arbeiten, wie sie sich fortbewegen“, erklärt Biwer. Nach der Machbarkeitsstudie, die Agora in den vergangenen drei Jahren durchgeführt hat, wird nun ein stadtplanerisches Konzept erstellt. Vom 29. März bis 5. April werden vier konkurrierende Teams mit Urbanisten und Verkehrsplanern aus Dänemark, Italien, Belgien, Frankreich, Deutschland, England, der Schweiz, den Niederlanden und Luxemburg eine Entwurfswerkstatt mit Workshop, Foren und Standortbesichtigungen abhalten, an der die Bürger sich aktiv beteiligen sollen.
Dieser partizipative Ansatz habe den Vorteil, dass die Stadtplaner auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen können. Zugleich stärke die Beteiligung das Zusammengehörigkeitsgefühl in dem zukünftigen Viertel, meint Yves Biwer. Für die Entwurfswerkstatt hat Agora das Viertel auf den Namen „Quartier Alzette“ getauft. „Nur ein Arbeitstitel“, beschwichtigt Biwer, andere Vorschläge seien willkommen.
Hohe Einwohnerdichte
Zusammen mit dem Staat und dem Grundstückseigner ArcelorMittal hat Agora im Rahmen einer Absichtserklärung eine Reihe von Vorgaben erstellt, die von den Stadtplanern erfüllt werden müssen. So sollen 50 bis 60 Prozent des 62 Hektar großen Areals, das zum größten Teil auf Escher Gebiet liegt, für Wohnraum genutzt werden. Rund 10.000 neue Einwohner soll der frühere Industriestandort künftig beherbergen. Die Einwohnerdichte im neuen Viertel wäre damit sechs- bis siebenmal höher als die aktuelle durchschnittliche Bevölkerungsdichte der Stadt Esch und elf- bis zwölfmal höher als die in Schifflingen.
Damit die hohe und dichte Bebauung die Lebensqualität nicht zu sehr beeinträchtigt, sollen möglichst viele Parks und öffentliche Plätze angelegt werden, erläutert Yves Biwer. Auch die Alzette soll renaturiert werden. Im Bereich der Infrastruktur sind Schulen und Sportplätze geplant. Sogar eine neue Sekundarschule werde in Aussicht gestellt. Die Verkehrsanbindung soll vorwiegend über den zwischen Foetz und der Stadt Luxemburg geplanten Express-Tram sowie über eine zusätzliche Bahnhaltestelle zwischen Esch und Schifflingen erfolgen. Für Letztere blieben aber noch Details mit der CFL zu klären, damit der Rhythmus der aktuellen Bahnlinie durch den zusätzlichen Halt nicht beeinträchtigt werde, betont Biwer.
Dienstleistungs- und Handwerksbetriebe sollen neue Arbeitsplätze schaffen, die in Esch, wo Armut und Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch sind, dringend benötigt werden. Ein weiteres Einkaufszentrum sei nicht erwünscht. Stattdessen will Agora auf kleine Geschäfte setzen. Zu den Vorgaben gehört auch, dass Industriebauwerke auf dem ehemaligen Hüttenstandort entweder ganz oder teilweise erhalten bleiben.
Rentabilität garantieren
Auf Grundlage dieser Vorgaben werden die vier urbanistischen Teams ihre stadtplanerischen Konzepte ausarbeiten und im Dialog untereinander und mit den Bürgern anpassen. Am Ende dieses Prozesses wird eine Jury bis September dieses Jahres den Gewinner bestimmen. Diese Jury besteht aus jeweils sieben Vertretern des Staates und von ArcelorMittal, sieben unabhängigen Experten sowie zwei Vertretern der Stadt Esch, einem der Gemeinde Schifflingen und einem Agora-Repräsentanten. Die Kritik der Escher LSAP, die Gemeinden seien in den Entscheidungsgremien von Agora unterrepräsentiert, teilt Yves Biwer nicht. Die meisten Entscheidungen würden im Konsens getroffen: „Ob jetzt einer eine Stimme mehr oder weniger hat, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist der Dialog, der dort stattfindet“, bekräftigt der Agora-Verwaltungsdirektor.
Vor der Umsetzung der Projekte will Agora eine wirtschaftliche Prüfung durchführen. Deren Ziel sei es nicht, eine möglichst hohe Rendite zu erreichen, sondern die Rentabilität zu gewährleisten, sagt Biwer. Agora sei eine privatrechtliche Gesellschaft, an der der Staat zwar zur Hälfte beteiligt sei, die jedoch nicht mit öffentlichen Geldern finanziert werde. Agora finanziere sich durch die Entwicklung der Industriestandorte und den Bau der Infrastrukturen. Wie in Belval würden auch im „Quartier Alzette“ die Investitionen der Gesellschaft durch den Verkauf von Grundstücken an Investoren und Bauherren bezahlt. In die Kategorie der Investitionen fallen laut Biwer, neben Verwaltungskosten, die Ausgaben für den Abriss von Gebäuden, die Dekontaminierung verseuchter Böden, den Bau der Straßen, Leitungsnetze und öffentlichen Plätze sowie die Schaffung der Planungsrechte wie Änderung und Erstellung von Bebauungsplänen.
Die Phase der öffentlichen Prozeduren und Genehmigungen sowie die Abrissarbeiten und die Bodensanierung sollen bis 2022 abgeschlossen sein. 2023 oder 2024 könnte dann mit dem Bau der Infrastruktur und dem Verkauf von Wohnungen und Geschäftsflächen begonnen werden.
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