Corona-Krise / Das Contact-Tracing-Team im Fokus: Direktorin Dr. Anne Vergison
Im Kampf gegen das Coronavirus zählt Luxemburg besonders auf sein Contact-Tracing-Team. Dr. Anne Vergison hat als Direktorin des Teams die Fäden in der Hand – und rechnet mit weiteren langen Monaten.
Seit knapp einem Monat erlebt Luxemburg eine dritte Welle des Coronavirus. Jeden Tag werden mehrere hundert Neuinfektionen festgestellt, bisher sind mehr als 260 Personen im Großherzogtum gestorben. Auch die Telefonleitungen des Contact-Tracing-Zentrums auf dem Findel laufen von 8 bis 20 Uhr abends heiß. Das Team unter der Leitung von Dr. Anne Vergison versucht, so viele Kontakte wie möglich nachzuverfolgen – und mögliche Infektionsketten zu durchbrechen.
„Es sind schwere Wochen“, gibt Vergison gegenüber dem Tageblatt am Telefon zu. Sie sei teilweise bis zu 80 Stunden pro Woche im Einsatz. Sie hat Anfang Oktober die Leitung der wichtigen Einheit in Luxemburg übernommen. Ihre Vorgängerin war Dr. Laetitia Huiart, eine Epidemiologin vom „Luxembourg Institute of Health“ (LIH), die im Oktober auf einen neuen Posten bei der „Santé publique France“ wechselte.
Wie Huiart hat sich auch Vergison bereits jahrelang dem Kampf gegen Infektionskrankheiten gewidmet. Nach einem Medizinstudium an der freien Universität von Brüssel absolviert sie ein Training zu tropischen Krankheiten an der Universität von Brasilia und setzt ihre Studien an der freien Universität im Bereich Pädiatrie und Infektionskrankheiten fort. Anschließend spezialisiert sie sich im Master auf Infektionskontrolle in Krankenhäusern und erhält den Doktortitel für ihre Forschungen zur Epidemiologie von grampositiven Infektionen bei Kindern. Nach ihren Studien arbeitet Vergison 17 Jahre am „Hôpital universitaire des enfants Reine Fabiola“ in Brüssel als stellvertretende Klinikchefin im Bereich Infektionskrankheiten bei Kindern sowie bei der Epidemiologie und Kontrolleinheit für Infektionskrankheiten. Dann ist sie knapp sechs Jahre bei der belgischen „Union nationale des mutualités socialistes“ tätig, ehe sie vom luxemburgischen Gesundheitsministerium im Dezember 2018 angeheuert wird. Dort ist sie erst Mitglied, dann Chefin der Division „Médecine curative et qualité en santé.“ Als wegen des Wegganges von Huiart eine neue Chefin der Contact-Tracing-Einheit gesucht wird, meldet sich Vergison auf die interne Stellenausschreibung. „Sie hatte das perfekte Profil für den Job“, kommentiert Personalchefin Sandra Sidon die Entscheidung, Vergison das Contact Tracing anzuvertrauen.
Sie sei dankbar für die Vorarbeit von Huiart gewesen, die das Corona-Tracing-Team auf die Beine gestellt habe, sagt Vergison. Zwar sei das Contact Tracing in Luxemburg nicht unbekannt gewesen. Die „Inspection sanitaire“ tat bereits eine ähnliche Arbeit bei Salmonellen-Ausbrüchen oder Masern-Infektionen. Was beim Coronavirus radikal anders war, war das schiere Ausmaß der Infektionen. „Wir mussten dafür sorgen, ausreichend Personen zu rekrutieren, um das überhaupt leisten zu können“, erklärt Vergison. Da das zu Beginn der Krise noch nicht der Fall war, musste die Regierung das Contact Tracing während der ersten Welle aussetzen. Im April dann startete ein zweiter Anlauf unter der Leitung von Dr. Huiart. „Andere Länder haben das nicht so schnell in Angriff genommen“, unterstreicht Vergison.
Automatisierung
Unter der Leitung von Vergison wurden allerdings sofort mehrere große Anpassungen vorgenommen. Einerseits wurde der Fokus von einem medizinischen Tracing auf ein reines Contact Tracing gelegt. „Wir hatten zu viele Neuinfektion“, gibt Vergison offen zu. Man habe es einfach nicht mehr geschafft, sowohl ein „Suivi médical“ als auch das Tracing zu stemmen. Bei Notfällen würde man natürlich immer noch medizinisch betreut werden. Doch die Symptome und der Krankheitsverlauf werden nicht mehr so im Detail abgefragt. Dadurch können nun auch Personen, die nicht aus dem Gesundheitsbereich arbeiten – wie etwa die 68 Luxair-Angestellte – für das Tracing angelernt werden und einen Großteil der Arbeit übernehmen. Sie stemmen nun bis zu 1.000 Anrufe am Tag. „Wir haben uns auch dazu entschieden, weil die Allgemeinärzte heute besser aufgestellt sind. Die Praxen können auch bei höheren Infektionszahlen weiterarbeiten und es ist deutlich mehr über das Virus bekannt“, sagt Vergison.
Andererseits wurde der Prozess des Tracing durch das Online-Formular, das positiv Getestete und ihre engen Kontakte ausfüllen und einreichen können, automatisiert. Das soll auch weitergetrieben werden. Wie Vergison ankündigt, soll bald ein informatisches Werkzeug zum Einsatz kommen, was vom „Luxembourg Institute of Science and Technology“ (LIST) entwickelt wurde. Dies soll es erlauben, Cluster leichter zu identifizieren und auch dort auszumachen, wo sie noch nicht entdeckt worden sind. Denn die aktuelle manuelle Nachverfolgung von Clustern gestalte sich schwierig, besonders wenn es verschiedene mögliche Infektionsmomente gegeben hat.
Von Cluster spricht man, wenn mehrere Infektionen an einem Ort, etwa einer Schule oder einer Firma, vorkommen. „Diese müssen aber nicht zwangsweise miteinander zu tun haben“, sagt Vergison. Als Beispiel: Ein Lehrer und mehrere Schüler einer luxemburgischen Schule werden positiv getestet. Beim Tracing stellt sich aber heraus, dass die einzelnen Schüler und der Lehrer überhaupt keinen Kontakt miteinander hatten, sondern sich zu Hause angesteckt haben. Trotzdem spricht man von einem Cluster in der Schule. Andererseits würden Cluster etwa beim Transport nicht entdeckt werden. Wenn etwa mehrere Arbeiter zweier Firmen zusammen morgens zur Arbeit fahren und alle krank werden, würden aktuell nur Cluster auf den Arbeitsplätzen verzeichnet werden. Doch eigentlich entstammen diese dem gemeinsamen Transport. Solche Zusammenhänge soll das neue Programm identifizieren können.
Personalaufstockung
Die Aufstockung des Personals sowie die Anpassung und Automatisierung der Prozesse war aufgrund der aktuellen Krise dringend nötig. Das Contact-Tracing-Team kam nämlich der Arbeit nicht mehr hinterher. Vergison gibt zu, dass, als die Neuinfektionszahlen zu Beginn der dritten Welle Mitte Oktober stark anstiegen, das Team unter Druck geriet und sich Verzögerungen von mehreren Tagen anhäuften. „Am 15. November haben wir alle Verspätungen aufgearbeitet“, sagt Vergison. Der angehäufte Rückstand habe auch zu Problemen bei der Zahlenbearbeitung geführt. Das Programm, das die Zahlen für die Tages- und Wochenbilanzen des Gesundheitsministeriums sammelt, sei nicht auf die Verspätungen ausgelegt gewesen. Dadurch seien die daraus resultierenden Zahlen nicht mehr akkurat und verlässlich gewesen. Das würde das „weiße Rauschen“ des Contact Tracing im vergangenen Wochenbericht erklären. „Das Problem haben wir behoben“, betont Vergison.
Mit der Leitung der Gesundheitsdirektion sowie der „Cellule de crise“ stünde man jederzeit im engen Kontakt. „Den Direktor der Gesundheitsdirektion, Jean-Claude Schmit, informieren wir täglich über den Stand der Dinge beim Contact Tracing“, sagt Vergison. Das sei auch dadurch bedingt, dass größere Veränderungen oder schwierige Fälle auch seinen Input oder seine Unterschrift brauchen. Mit der Krisenzelle würde man sich mehrmals die Woche austauschen. Entweder sie persönlich oder Personalchefin Sandra Sidon seien bei diesen Sitzungen vertreten. Gesundheitsministerin Paulette Lenert informiere man einmal wöchentlich über die Lage beim Contact Tracing – oder wenn politisch weitreichende Entscheidungen gefällt werden.
Wie es dazu kam, dass manche Personen bis zum Ende der Quarantäne nicht von der „Santé“ kontaktiert wurden, kann sich Vergison nicht erklären. Sie betont, dass jede Person, die die nötigen Kriterien erfüllt – Kontakt von mehr als 15 Minuten ohne Maske oder mit direktem Hautkontakt in den 48 Stunden vor den ersten Symptomen oder dem positiven Test – von dem Contact-Tracing-Team angerufen werde.
Dass allerdings einige Menschen frustriert über das Contact Tracing und die Corona-Situation allgemein seien, kann Vergison verstehen. „Es bleibt viel Kommunikationsarbeit zu tun“, sagt sie gegenüber dem Tageblatt. Im Vergleich mit den Nachbarländern sei die Kommunikation des luxemburgischen Gesundheitsministeriums „klar und transparent“, doch man könnte sicherlich noch nachbessern. Es sei gut, wenn Menschen „einen kritischen Geist behalten und Fragen stellen“, aber wenn die Öffentlichkeit die Informationen nicht versteht, „müssen wir reagieren“.
Keine magische Lösung
Die Öffentlichkeit müsse sich allerdings auf weitere Monate der Corona-Krise gefasst machen. Zwar würden Impfstoffe in Aussicht stehen, aber bisher wisse man noch „wenig Konkretes“. Eine „magische Lösung“ seien diese sicherlich nicht. Vor allem da man aktuell noch nicht wüsste, wie lange ein Impfstoff gegen die Krankheit schützen wird. Kurzfristig könnte man nichts anderes machen als weiter das, was Luxemburg aktuell schon tut. Nach der Corona-Krise müsse Luxemburg aber seine Lehren aus dieser Pandemie ziehen. Zwar sei das Land schon mit dem Plan Pandemie und dem nationalen Maskenbestand gut aufgestellt, doch „es gibt sicher weitere Lektionen, die wir lernen müssen“. „Es bleibt noch viel zu tun“, sagt Vergison.
Ob die Corona-Krise und ihre Erfahrungen sie persönlich verändert haben, weiß die Direktorin der Contact-Tracing-Einheit nicht. Sie habe natürlich neue Kontakte geknüpft, andere Arbeitsweisen erfahren und einige „dramatische Momente“ erlebt. „Aber ich kann erst nach der Krise Bilanz ziehen“, sagt Vergison. „Im Moment bin ich noch zu sehr in der Situation gefangen.“ Auch ihr persönliches Leben sei ordentlich auf den Kopf gestellt worden. „Durch die viele Arbeit ist es mir aktuell nicht möglich, meinen Sport auszuüben“, sagt die begeisterte Läuferin. Ihr Mann würde sie sehr unterstützen und habe den Großteil der Hausarbeit übernommen. Außerdem habe sie Glück, dass ihre Kinder schon erwachsen sind und mittlerweile studieren. „Sonst wäre es noch schwieriger“, sagt Vergison.
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Habe ich eine Erwähnung der Corona Warn App übersehen? Wenn, warum wird diese weder von der Interviewten noch von Politikern häufiger angepriesen?