Editorial / Das globale Superwahljahr
Zwar geht die Zahl der Demokratien weltweit zurück, wie dem „Transformationsindex“ der Bertelsmann-Stiftung zu entnehmen ist, jedoch finden in zahlreichen Ländern rund um den Globus – laut Spiegel sind es mehr als 60 – dieses Jahr Wahlen statt. Nicht alle sind demokratisch. In einigen Staaten herrschen ausgesprochen autokratische Strukturen vor, wie etwa in Russland, wo Kreml-Chef Wladimir Putin im März wiedergewählt worden ist. Auch andere bevölkerungsreiche Staaten wie Bangladesch und Pakistan, wo es dieses Jahr schon Wahlen gab, können als elektorale Autokratien bezeichnet werden.
Einige der Urnengänge werden dieses Mal richtungsweisend sein – zum Beispiel jene in den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Vom 6. bis 9. Juni sind ungefähr 350 Millionen Wahlberechtigte in der EU aufgerufen, das Europaparlament zu wählen. Noch mehr Menschen (968 Millionen) sind es allein in Indien, wo seit 19. April und bis 1. Juni über die Zusammensetzung des neuen Parlaments entschieden wird. In den USA dürfen im November etwa 161 Millionen Amerikaner über den neuen US-Präsidenten, die Zusammensetzung des Kongresses und Gouverneure der Bundesstaaten abstimmen.
Während im nördlichen Nachbarland zwei alte weiße Männer darum streiten, ältester Präsident der US-Geschichte zu werden, wählen in Mexiko am 2. Juni knapp 98 Millionen Bürger höchstwahrscheinlich erstmals eine Frau, die favorisierte Regierungskandidatin Claudia Sheinbaum oder Xóchitl Gálvez vom Oppositionsbündnis, zum Staatsoberhaupt. Der beliebte Amtsinhaber Andrés Manuel López Obrador darf laut Verfassung nicht noch einmal antreten. Er hat zwar verstärkt in die soziale Wohlfahrt investiert, wovon viele Familien profitierten. Eine grundlegende Strukturreform steht in dem größten spanischsprachigen Land jedoch aus. Auch gelang es der Regierung nicht, das organisierte Verbrechen erfolgreich zu bekämpfen und die Gewaltkriminalität nennenswert zu senken.
In Indien, wo die Marathon-Wahl an diesem Wochenende zu Ende geht, sieht es danach aus, als würde Narendra Modi von der hinduistischen Bharatiya Janata Party Premierminister bleiben und der in den vergangenen Jahren erstarkte Hindu-Extremismus weiter dominieren. Zu befürchten ist, dass sich die größte Demokratie der Welt zu einer Scheindemokratie oder gar Autokratie entwickelt. Die indische Gesellschaft driftet nicht nur ökonomisch und sozial auseinander: Während die Kandidatenlisten von älteren Herren dominiert werden, ist ein Fünftel der Wählerschaft jünger als 29 Jahre. Indien ist ein Land der Gegensätze und der Widersprüche zwischen opulentem Reichtum und bitterer Armut, Hightech und Holzkarren. Nicht zuletzt ist es aber wegen seines neuen Selbstbewusstseins und seiner ökonomischen Kraft eine mächtige Stimme des Globalen Südens. Und es ziemt sich den Europäern nicht, den moralischen Zeigefinger zu erheben, leicht würden kolonialistische Töne mitschwingen.
Folglich steht nicht nur bei den Wahlen zum Europäischen Parlament einiges auf dem Spiel. Übrigens finden am 9. Juni in Belgien auch Parlamentswahlen statt. In Großbritannien, wo die Unterhauswahl für den 4. Juli angesetzt ist, hatten die Konservativen entscheidend dazu beigetragen, dass die Briten aus der EU austraten. Tory-Regierungschef Rishi Sunak muss die Suppe nun auslöffeln – die Erfolgschancen der oppositionellen Labour Party waren schon lange nicht mehr so gut.
Weltpolitisch gilt es, sich gegen den autoritären Block um China und Russland zu positionieren. Während der amerikanische Großmachtglanz teils verloren gegangen ist und sich die indischen Großmachtambitionen in Modis politischem Geschick zeigen, mit vielen Seiten gleichermaßen gute Beziehungen zu pflegen, muss sich Europa künftig stärker positionieren und sich dabei als Einheit zeigen. Niemand will, dass es wie bei einem Mexican Standoff endet: bei einer Konfrontation, in der jeder auf jeden zielt und die von keiner Seite gewonnen werden kann.
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