Analyse / Das Grenzgänger-Epos: Wenn nicht einmal die Finanzministerien mehr wissen, was besteuert wird
Es ist ein Epos um „geschätzte Nachbarn“, Gleichstellung und Diskriminierung, das sogar Raum und Zeit sprengt. Beim neuen Grenzgänger-Steuerabkommen zwischen Luxemburg und Deutschland wissen selbst die Finanzministerien nicht mehr, was wo und wie besteuert wird.
Berlin am 6. Juli 2023. 23 Grad, und ein fast wolkenloser Himmel. Yuriko Backes, damals Luxemburger Finanzministerin, nimmt an einem langen holzgetäfelten Tisch in einem Besprechungsraum des deutschen Bundesministeriums für Finanzen Platz. Ihr gegenüber: Christian Lindner. Auch ein Liberaler. Auch ein Finanzminister.
Backes und Lindner unterzeichnen an jenem lauschigen Juli-Tag ein Änderungsprotokoll zu ihrem Doppelbesteuerungsabkommen. Genauer gesagt: Ein Änderungsprotokoll zum „Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern“. Ja, Verwaltungen lieben lange, umständliche, leicht komplizierte Formulierungen. Für den Bürger jedoch, da sollen die Regeln, die im Protokoll drin stehen, das Leben einfacher machen.
Moderne Regeln für modernes ArbeitenBundesfinanzminister
Endlich 34 Homeoffice-Tage, das war eigentlich die große Nachricht für die 52.619 Grenzgänger aus Deutschland, die mit der Unterzeichnung des Änderungsprotokolls einherging. Die neue Regelung stelle „eine deutliche bürokratische Entlastung auf beiden Seiten der Grenze dar“, die die „steuerlichen Regelungen vereinfachen“. Moderne Regelungen für modernes Arbeiten. Das sagte Christian Lindner. Und Yuriko Backes freute sich, dass damit „sowohl Arbeitnehmern als auch den Unternehmen mehr Planungssicherheit“ gegeben werde.
Spätestens Mitte März dieses Jahres wissen wir jedoch: Ganz so sicher wie angekündigt, lässt sich mit den Protokolländerungen offenbar doch nicht planen.
Die süße Frucht
Das erste Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Luxemburg und jenem Nachbarland, aus dem später die Bundesrepublik werden sollte, gab es bereits 1906, weiß der Steuerexperte Stephan Wonnebauer. Damals schlossen das Großherzogtum und das von Deutschland besetzte „Reichsland Elsass-Lothringen“ ein Abkommen für Grenzpendler nach Luxemburg. Das jetzige Doppelbesteuerungsabkommen – ab jetzt der bürokratischen Vereinfachung halber „DBA“ genannt – ist natürlich neuer. Es existiert in dieser Form seit dem Jahr 1958, sagt Wonnebauer. Es wurde immer wieder ergänzt und angepasst und geändert, 2012 fand es erneut als Ganzes Erwähnung im Bundesgesetzblatt.
In aller Munde ist das Schriftwerk vor allem seit der Corona-Pandemie. Nur ein Gehalt aus Luxemburg zu beziehen, reicht nämlich eigentlich nicht, um dem Abkommen zufolge als Bürger eines Nachbarlandes in eben diesem nicht steuerpflichtig zu sein. „Das DBA mit Luxemburg regelt die Besteuerung nach dem sogenannten Tätigkeitsortsprinzip, das heißt, das Besteuerungsrecht hat der Staat, in dem der Arbeitnehmer seine Tätigkeit jeweils ausübt“, erklärte das Trierer Finanzamt die Sachlage im Jahr 2022. Also: Der Arbeitnehmer muss die Grenze ins Großherzogtum in der Regel ganz altmodisch in seiner ganzen physischen Körperlichkeit überqueren, um vom dortigen Steuersystem profitieren zu können.
Wegen der Corona-Pandemie – wir erinnern uns, Deutschland sperrte für einige Zeit sogar die Grenze – wurde diese Regelung ausgesetzt. Das Gleiche taten die beiden anderen Nachbarländer Luxemburgs. Grenzgänger durften jetzt, zumindest soweit technisch möglich, für längere Zeit in der heimatlichen Isolation ihr Werk verrichten und wurden dennoch nicht vom lokalen Fiskus behelligt.
Die Pandemie und die damit einhergehenden Maßnahmen hörten irgendwann einmal auf. Und am 30. Juni 2022 endeten auch die Homeoffice-Sonderregelungen mit den lieben Nachbarn. Allerdings hatten nicht wenige Arbeitnehmer offenbar die süße Frucht der Telearbeit zu schätzen gelernt. Für Inländer war das auch kein Problem, falls Arbeit und Arbeitgeber das mitmachten. Den Grenzgängern jedoch drohten Steuerwirrwarr: Wer über das Maß einer sogenannten Bagatellregelung hinaus Homeoffice machte, der muss sein Gehalt zumindest anteilig und möglicherweise fiskalisch eher unattraktiv in der Heimat versteuern.
So kam es in wohl nicht wenigen Unternehmen zu den kuriosen Konstellationen, dass es sich der Luxemburger Arbeitnehmer, der 300 Meter von der Arbeitsstätte entfernt wohnt, im Homeoffice gemütlich machte, während der französische Kollege aus dem 70 Kilometer entfernten Woippy bei Wind und Wetter ins Büro reiten musste.
Frankreich und Belgien schafften bald etwas Erleichterung für ihre Pendler. Sie erhöhten noch im Jahr 2022 die Bagatell-Zeiträume auf 34 Tage. Deutschland aber zierte sich noch eine ganze Weile. Bis eben zu jenem Tag im Sommer 2023.
Das Planungsverunsicherungsabkommen
Ein halbes Jahr später, es war der 15. Januar 2024, schickte das deutsche Finanzministerium eine „Konsultationsvereinbarung“ über die mit Luxemburg vereinbarten Änderungen im DBA an die Finanzbehörden der Bundesländer. Eine Konsultationsvereinbarung, das ist eine „klarstellende Verwaltungsabsprache“, wie das Luxemburger Finanzministerium auf Tageblatt-Anfrage erklärt. „Sie erläutert, wie die Steuerverwaltungen von Luxemburg und Deutschland das geltende Abkommensrecht, also das Steuerabkommen, übereinstimmend auslegen und anwenden.“ Dadurch sollen „Schwierigkeiten oder Zweifel bei der Auslegung oder Anwendung des Doppelbesteuerungsabkommens“ vermieden werden. Sprich: Die Konsultationsvereinbarung vom Januar sollte noch mehr Klarheit über die von Christian Lindner angekündigte „deutliche bürokratische Entlastung auf beiden Seiten der Grenzen“ verschaffen.
Bis der Öffentlichkeit klar wurde, was eigentlich in dem Papier drin stand, dauerte es dann etwas. Der OGBL übte als erstes offen Kritik. Am 20. März forderte die Gewerkschaft per Pressemitteilung nicht weniger als die Rücknahme der Kooperationsvereinbarung. Der LCGB zog zwei Tage später nach und nannte die Vereinbarung „inakzeptabel und diskriminierend“. Der Grund: In dem Abkommen war nicht nur die Rede davon, dass die Bagatellregelung auf 34 Tage erweitert wird – sondern, dass Luxemburger Arbeitnehmer, die in Deutschland wohnen, möglicherweise Lohnbestandteile in Deutschland versteuern müssen. „Als tatsächlich nicht besteuert gelten die Löhne, die für Überstunden gezahlt werden, die in Luxemburg vollständig einkommensteuerfrei sind“, stand da unter Ziffer VII, Absatz 3.
Die große Verwirrung begann. Einige Medien – darunter das Tageblatt – interpretierten die Konsultationsvereinbarung zunächst so, als dass auch Nacht- und Feiertagszuschläge jetzt in Deutschland besteuert werden konnten. Andere Akteure waren überzeugt, dass nicht die Überstundenlöhne selbst, sondern nur die Zuschläge darauf versteuert werden müssen. Tatsächlich scheint es so zu sein: Die neue deutsche Besteuerung gilt für die Löhne und Zuschläge, die in Luxemburg für Überstunden bezahlt werden. Damit hörten die Konfusionen aber nicht auf. Für die nächste sorgte ausgerechnet das Luxemburger Finanzministerium. Es ließ verlauten, dass im deutschen Steuerrecht – ironisch als das komplizierteste Steuersystem der Welt bezeichnet – ein großer Freibetrag geltend gemacht werden könne. Deshalb werde es „nicht zu einer systematischen Besteuerung“ der Überstunden kommen. Am vergangenen Donnerstag korrigierte das Ministerium das – und erkläre, vom deutschen Bundesfinanzministerium zu dem Thema falsch informiert worden zu sein. Die Frage des Tageblatt an das deutsche Ministerium, wie es denn zu dieser Panne kommen konnte, ignoriert die Lindner-Behörde.
Ja, tatsächlich hüllen sich ausgerechnet diejenigen, die in der Sache Klarheit schaffen können, in Schweigen. Das Tageblatt hat im Laufe der vergangenen Wochen mehrere Presseanfragen sowohl an das Bundesfinanzministerium als auch an das Trierer Finanzamt geschickt. Selbst die einfache Frage, was denn nun genau in Deutschland versteuert werden muss und was nicht, konnten oder wollten die Behörden nicht beantworten. Das Berliner Ministerium antwortet auf die entsprechende Frage mit dem fragwürdigen Satz: „Die Konsultationsvereinbarung zwischen Luxemburg und Deutschland vom 11. Januar 2024 hat die Besteuerung nicht geändert.“ Das Finanzamt in Trier dagegen verlautet: „Hinsichtlich der Beantwortung befinden wir uns in Abstimmung mit der vorgesetzten Dienstbehörde und kommen – sobald die Abstimmung abgeschlossen ist – unaufgefordert auf Ihre Presseanfrage zurück.“ Auf die Frage, wieso bei einem Abkommen, das laut Bundesregierung „die Besteuerung nicht geändert hat“, erst die „vorgesetzte Dienstbehörde“ konsultiert werden muss, bleiben die Trierer dem Tageblatt ebenfalls eine Antwort schuldig.
Laut dem Steuerexperten Stephan Wonnebauer gibt es im deutsch-luxemburgischen DBA eine sogenannte Rückfallklausel. Die regelt: Wenn in Luxemburg etwas als nicht besteuert angesehen wird, kann es in Deutschland besteuert werden. So weit, so gut. Aber im Steuerrecht geht es natürlich immer noch eine Stufe komplizierter. Denn als „in Luxemburg besteuert“ kann auch Einkommen angesehen werden, das in Luxemburg als „steuerfrei“ gilt – so lange das so in einem Luxemburger Steuergesetz festgehalten ist. „Normalerweise wird die Klausel so interpretiert, dass Deutschland keine Steuern erhebt, wenn es ein Gesetz in Luxemburg gibt und der Betrag in Luxemburg von diesem Gesetz her steuerfrei ist“, sagt Wonnebauer.
Hinsichtlich der Beantwortung befinden wir uns in Abstimmung mit der vorgesetzten Dienstbehörde und kommen – sobald die Abstimmung abgeschlossen ist – unaufgefordert auf Ihre Presseanfrage zurückFinanzamt Trier
Dass sich diese Praxis jetzt ändere, das ist für den Steuerrechtler ein Paradigmenwechsel. „Dieses Paradigma des Steuerrechts definieren die beiden Länder jetzt neu“, erklärt er. „Sie sagen auf einmal: Überstunden gelten als nicht besteuert. Vorher galten sie als besteuert.“ Können die beiden Länder das Steuerrecht umschreiben, fragt sich Wonnebauer. „Das haben sie mit diesem Satz gemacht.“
Leider ist die Geschichte der Paradoxa, Kuriositäten und offenen Fragen an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Die Zuschläge für Nacht- und Feiertagsarbeit sind in Luxemburg beispielsweise auch „steuerfrei“. Aber sie gelten in dem Abkommen als „tatsächlich besteuert“, können vom deutschen Fiskus also nicht eingerechnet werden. Das Bundesfinanzministerium versucht wenigstens diesen Widerspruch zu entkräften. Es argumentiert in einer Antwort auf eine weitere Tageblatt-Anfrage: „Es macht einen Unterschied, ob Zahlungen von vornherein überhaupt nicht als steuerpflichtiger Arbeitslohn behandelt werden, oder ob sie zwar steuerpflichtiger Arbeitslohn sind, aber bei der Berechnung der Steuer dann ein Freibetrag oder eine Steuerermäßigung gewährt wird.“ Es stellt sich die Frage: Wieso war das vorher anders?
Die Zeitmaschine
Die erstaunliche Antwort auf diese Frage: Es war nicht anders. Oder, präziser ausgedrückt: Seit dem 11. Januar 2024 war es nicht anders gewesen. Denn mit der Konsultationsvereinbarung, die an diesem Tag unterzeichnet wurde, hält die deutsche Steuerverwaltung die Zeit an – und dreht sie zurück. Im Deckblatt der Korrespondenz mit den Landesfinanzbehörden heißt es nämlich: „Die Konsultationsvereinbarung ist auf alle Fälle anzuwenden, die zum Zeitpunkt ihrer Anwendung noch nicht abgeschlossen sind.“
Das heißt, sie gilt nicht nur rückwirkend für das Jahr 2024, wie die Gewerkschaften befürchten. Sondern theoretisch auch für viel ältere Fälle. Stephan Wonnebauer: „Wer für die vergangenen Jahre noch keine Steuererklärung abgegeben hat, kann zur Kasse gebeten werden.“
An dieser Stelle tut sich ein perfides Problem auf, mit dem viele Zeitreisende zu kämpfen haben. Das sogenannte Großvaterparadoxon: Was passiert mit mir, wenn ich in die Vergangenheit reise und meinen eigenen Großvater töte, bevor er meinen Vater gezeugt hat? Denn da die Überstunden zuvor nicht in Deutschland versteuert werden mussten, mussten viele Grenzgänger dort zuvor auch keine Steuererklärung einreichen. Müssen sie alle sich jetzt rückwirkend erklären? Und ihre Überstunden nachträglich versteuern?
Diese Frage beantwortet die Konsultationsvereinbarung freilich nicht. Anstatt für Klarheit in der Praxis zu sorgen, war es ihren Autoren offenbar wichtiger, eher weniger wahrscheinlichere Ereignisse zu regeln: „Als tatsächlich nicht besteuert gelten auch Einkünfte, die einkommensteuerrechtlich nicht erfasst werden, wie zum Beispiel ein Lotteriegewinn.“ Wehe dem Grenzgänger, der in Luxemburg den Jackpot knackt.
Für Stephan Wonnebauer ist aber nicht alles schlecht an der neuen Übereinkunft. „Wir haben jetzt den Freistellungslohn geklärt“, sagt er. „Da geht es um viel mehr Geld.“ Zuvor mussten Arbeitnehmer, die wegen einer Kündigung freigestellt sind, aber wegen der Kündigungsfrist noch ein paar Monate Gehalt aus Luxemburg beziehen, dieses Einkommen in Deutschland versteuern, wenn es keinen Sozialplan gab. „Jetzt neu ist, dass man diese Löhne nur in Luxemburg versteuern muss“, sagt Wonnebauer. „Das ist wirklich eine ganz tolle Sache.“
Die bürokratische Entlastung
Wie die neue Überstundensteuer überhaupt zustande kam, darüber kann derzeit nur gemutmaßt werden. Wonnebauer hält es für möglich, dass die Klausel im Zuge des Personalumbaus nach dem Regierungswechsel in Luxemburg einfach übersehen wurde. Laut James Marsh, beim OGBL für die deutschen Grenzgänger zuständig, könnte es sein, dass sie eine Art Kompensationszahlung für die deutschen Grenzkommunen darstellen soll. Die fordern immer wieder Ausgleichszahlungen von Luxemburg, da die Pendler zwar von ihren Infrastrukturen profitierten, ihre Steuern aber in Luxemburg zahlten. Sollten die klammen deutschen Gemeinden so durch die Hintertür ein Steuergeschenk bekommen? Bei den beiden anderen Luxemburger Nachbarn gibt es zwar ebenfalls jammernde Gemeinden – aber keine Überstunden-Regel. „In den Steuerabkommen mit Belgien und Frankreich gibt es keine Rückfallklausel für Überstunden, wie sie im deutsch-luxemburgischen Steuerabkommen besteht“, schreibt das Luxemburger Finanzministerium.
Ob das neue Abkommen nun tatsächlich „sowohl Arbeitnehmern als auch den Unternehmen mehr Planungssicherheit“ verschafft – das darf nach Aufschrei, Reaktionen und ausbleibenden Reaktionen bezweifelt werden. Der Steuerkanzlei-Verbund Ludwig Consult bemängelt in einem Schreiben an seine Mandanten nicht nur fehlende Informationen, Definitionen und Rechtssicherheit, sondern auch den dräuenden Aufwand: „Die Klausel führt zu erheblichen Bürokratiekosten sowie gesteigertem Arbeitsaufwand aufseiten der Grenzgänger und der Grenzfinanzämter.“
Ja, einem Luxemburger Arbeitgeber kann es eigentlich egal sein, welchen Ärger ein Angestellter mit einem ausländischen Finanzamt macht. Ja, die tatsächlichen Summen, die die Grenzgänger letztendlich versteuern müssen, können klein ausfallen. Aber attraktiver macht die Regelung den Standort Luxemburg mit Sicherheit nicht. Nicht zuletzt deshalb, weil die Überstundenopfer dank der „bürokratischen Entlastung“ jetzt die gefürchtete deutsche Steuererklärung ausfüllen müssen.
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