Bildung / Das Lycée Ermesinde geht einen Sonderweg – mit Erfolg
Schüler, die autonom arbeiten, vor anderen argumentieren und im Team Projekte entwickeln können und von denen dann noch jedes Jahr viele unter den Besten des Abiturjahrgangs sind: Was macht das Lycée Ermesinde anders als andere? Die Schule mit Sonderstatus denkt Pädagogik von der Seite der Schüler aus. Nicht nur die Pädagogik, sondern auch der Alltag in dem Merscher Schulkomplex ist in vielem anders.
Eine freundliche, behagliche Atmosphäre durchströmt das große hallenartige Foyer des Lycée Ermesinde, in dessen Nebengebäuden die Klassen der „Voie préparatoire“, des „Général“ und Lycée classique untergebracht sind. In der Cafeteria servieren Schüler Kaffee und Gebäck. Lange machen sie das noch nicht, umso charmanter und berührender ist der Service der jungen Mitarbeiter.
In der Küche verlassen derweil „Boxemännercher“ und mit Schokolade überzogene andere Köstlichkeiten Ofen und Schokoladengussmaschine. Auch hier werkeln Schüler. Die Backstube, spezialisiert auf Schokoladenprodukte, ist eines von insgesamt 16 „Entreprises“, die zwischen Gartenarbeiten, Labors, Fahrradwerkstatt oder Grafikatelier das Herzstück der Schule bilden.
Dort erfahren die Schüler täglich, ob ihr Berufswunsch und der angestrebte schulische Weg nicht nur ihren Stärken, sondern auch ihren Erwartungen entsprechen. Die Teilnahme an der Praxiserfahrung ist verpflichtend. Im Lycée Ermesinde sind die „Entreprises“ kein zeitlich begrenztes Projekt, sondern real existierende Betriebe mit externen Kunden und der Aufgabe, wirtschaftlich zu sein.
Pädagogik aus Sicht der Schüler gedacht
Die Schüler können sich darin ausprobieren und durchlaufen im Zweifelsfall mehrere. „Der Unterricht ist für die Orientierung der Schüler zweitrangig.“ Sätze wie diese treiben anderswo Bildungsexperten erzürnte oder erstaunte Röte auf die Wangen. Jeannot Medinger (56), Gründungsdirektor der Schule, bringt die Kritik am herrschenden Bildungssystem nonchalant über die Lippen. „Wir interessieren uns für das, was der Schüler vorgibt, einbringen zu wollen und zu können“, ist sein Mantra und das der Schule.
Was die zukünftigen Schüler wollen und vorhaben, findet die Direktion über das Aufnahmegespräch vor Schulbeginn heraus. Jeder potenzielle Kandidat muss es absolvieren. Dabei machen die Teenager die Erfahrung, dass sie ernst genommen werden – auch wenn ihre anfänglichen Vorstellungen zuerst noch so abstrus klingen mögen. Ob es eine Karriere als Fußballprofi à la Cristiano Ronaldo, als Youtube-Influencer oder als selbstständiger Unternehmer ist, sie müssen mit Nachfragen rechnen und ihre Wahl begründen.
Die Verwunderung der Bildungsexperten mag sich halten, wenn sie dann noch erfahren, dass es in den ersten drei Jahren keine Lehrpläne, wie an anderen Schulen üblich, gibt. Die Schüler erarbeiten sich in den jeweiligen Fächern ihr Programm zusammen mit den Lehrern. Aufgabenstellungen ergeben sich beispielsweise aus Fragen zu den Bereichen wie „Mobilität“, „Wohnformen“ oder „Nahrung“.
Rekrutierungsprobleme gibt es keine
Während der Arbeit an Themen wie diesen lernen sie, sich eine Übersicht zu verschaffen, Zusammenhänge zu erkennen und zu analysieren sowie konstruktive Alternativen zu Problemen zu entwickeln. Diese „Schule des Lebens“ ist Hauptzweck und Selbstverständnis der Schule, die damit Abschlüssen wie dem Abitur automatisch eine andere Bedeutung zuschreibt. Wieder so eine Tatsache, die staatliche Stellen aufhorchen lässt. Nach den ersten drei Jahren müssen die Schüler vor einer Jury aus externen Lehrpersonen ihren weiteren Weg aufzeigen.
Die Schule fordert den Schülern einiges an Reflexion, Selbstkritik und Bewusstsein um das eigene Selbstwertgefühl ab. Von den 70 Lehrern, die neben den 50 Fachkräften der „Entreprises“ in Mersch arbeiten, fordert das pädagogische Konzept Offenheit, Flexibilität und einen Umgang mit Schülern, der auf Augenhöhe stattfindet. Es ist ein Geben und Nehmen. Ernst zu nehmende Nachwuchsprobleme oder Fachkräftemangel verneint die Direktion des Ermesinde angesichts so vieler Ungewöhnlichkeiten.
Im Gegenteil: Es gibt schon sehr früh im Jahr erste Kontakte zur Anmeldung und die Schule eröffnet Quereinsteigern mit Hochschulabschluss über ein zweijähriges Praktikum die Möglichkeit, sich als zukünftige Lehrperson mit dem Konzept anzufreunden. Die allermeisten bleiben, wieder andere finden aus persönlichen Gründen nach Mersch. „Mir hat der Austausch und die Zusammenarbeit mit anderen Erwachsenen gefehlt“, sagt Philippe Demart (40) über seinen eigenen Berufsanfang als Grundschullehrer. „Ich hatte es satt, alleine vor einer Klasse zu stehen.“
Schule in dieser Form einmalig im Land
Er unterrichtet seit 2009 in Mersch und ist mittlerweile Mitglied des Direktoriums. Der Wunsch nach Veränderung hat seinerzeit auch Direktor Jeannot Medinger bewogen, diese Gemeinschaftsschule aus der Taufe zu heben. Seine eigenen Erfahrungen in Schule, Universität und später als Lehrer schockierten den studierten Mathematiker. Sein Schulkonzept stieß 2002 auf offene Ohren bei der zu dem Zeitpunkt zukünftigen Bildungsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP). Der damalige Premier Jean Claude Juncker (CSV) verankert das Wagnis in einem Gesetz als Pilotprojekt und garantiert einen autonomen, aber staatlichen Status.
Nachgemacht hat es bis jetzt noch niemand im Land. Der Ansatz, den Schüler, seine Stärken und sein berufliches Lebensprojekt in den Vordergrund allen Lernens zu stellen, bleibt in dieser Form einmalig. Im Ermesinde hat das übliche normierte, leistungshemmende Konkurrenzdenken bei gelebten Werten wie Toleranz, Teamgeist und Produktivität kaum eine Chance. Kontrolle als Basis der Wissensvermittlung ist angesichts des allgegenwärtigen Vertrauens in die Schüler, ihre individuellen Stärken freiwillig und motiviert auszubauen, überflüssig.
„Wir leben noch immer in dem Irrglauben, Schule müsse weh tun und man muss sie alleine durchstehen“, sagt Ermesinde-Direktor Medinger. „Das ist ererbt über Generationen.“ Am meisten schmerzt diese Haltung in den Bereichen, wo persönliche Schwächen sind. Nicht alle studieren später Mathematik und bringen die Fähigkeiten dazu mit. „Wir erzwingen das auch noch per Gesetz“, sagt er über gängige Bildungsphilosophien. Im besten Fall entlässt die Schule junge Erwachsene, die um ihre Stärken und um ihren Platz im Leben wissen. Das ist zumindest der Wunsch und es ist kein frommer, denn ein Scheitern ist nicht in Sicht.
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