Forum / Das politische und moralische Versagen des Westens im Gaza-Krieg
Statt gleich von Anfang an stärker auf den Krieg in Gaza zu reagieren, hat der Westen die Regierung Netanjahu gewähren lassen und ihr eine Blankovollmacht erteilt, meint der Politologe Armand Clesse in seinem Forum-Beitrag.
Man scheint im Westen nicht wahrhaben zu wollen, was in Gaza geschieht. Viele schließen die Augen und hoffen, dass es nur ein böser Traum ist. Das Ungeheuerliche wird verdrängt. Deutschland denkt an seine historische Schuld gegenüber den Juden. Der französische Präsident sagt alles und sein Gegenteil. Polen, die baltischen wie auch die skandinavischen Staaten richten ihr Augenmerk fast ausschließlich auf den Konflikt um die Ukraine. In den USA ist Biden eine „lahme Ente“, jemand, den die Israelis sowieso nie wirklich ernst genommen haben. Sein Außenminister Blinken tut so, als ob er im Konflikt ein „ehrlicher Vermittler“ sei, spielt aber ein israellastiges Spiel.
Gaza ist ja weder für den Westen noch den Rest der Welt geostrategisch oder geoökonomisch wichtig. Die UNO beweist einmal mehr ihr Unvermögen, zeigt wie überflüssig sie gerade dort ist, wo ihre Rolle von vitaler Bedeutung wäre. Die EU wäscht ihre Hände in Unschuld, wagt nicht, mit ihren einzigen Druckmitteln, den ökonomischen, auf Israel einzuwirken. Wirtschaftssanktionen bleiben weiterhin tabu, auch in der arabischen Welt.
Die Mitschuld des Westens
Durch seine Passivität, sein Lavieren, seine Zurückhaltung macht sich der Westen mitschuldig an den Verbrechen, Gräueln, Massakern in Gaza. Er wirkt wie gelähmt, schaut zu bei der rücksichtslosen, ja menschenverachtenden Politik Israels, die vom neonazistischen Diskurs der Minister Smotrich und Ben-Gvir mitbestimmt wird, die Gaza mit seinen fast zweieinhalb Millionen Menschen am liebsten ausradieren würden durch den Einsatz von Atomwaffen oder aber die Menschen elendiglich verhungern lassen wollen. Smotrich hat ein Aushungern der Bevölkerung von Gaza zynischerweise als moralisch legitim bezeichnet. Was wird wohl einst in den Geschichtsbüchern über das, was jetzt in Gaza abläuft, stehen?
Wie ist die Haltung der westlichen Staaten zu erklären: Gleichgültigkeit, Lethargie, Mangel an Empathie, schlechtes Gewissen, larvierte Islamophobie, Zynismus, Abgestumpftheit? Man nennt im Westen die Hamas eine Terrororganisation und rechtfertigt durch diesen Wortgebrauch direkt oder indirekt, bewusst oder unbewusst, alle Gräueltaten gegen die palästinensische Zivilbevölkerung.
Dabei können die Untaten vom 7. Oktober 2023 doch nicht die mörderische Verbissenheit der israelischen Armee legitimieren. Übrigens strebten Netanjahu & Co. auch schon vorher die Vertreibung der Palästinenser aus Gaza, also eine ethnische Säuberung an. Die israelische Armee treibt die völlig verzweifelten Einwohner Gazas wie versprengte Herden lästiger Tiere hin und her. Für die jetzige israelische Regierung sind Gaza genau wie das Westjordanland Teil von „Eretz Israel“, also „Groß-Israel“.
Es ist unfassbar, dass die Nachkommen derjenigen, die einst die Opfer des vielleicht grässlichsten Menschheitsverbrechens waren, jetzt zum Teil mit den Methoden ihrer einstigen Henker vorgehen
Was wohl die Reaktion im Westen wäre, wenn Russland mit ähnlichen Methoden in der Ukraine operieren würde. Welche Empörung, welches Geschrei es geben würde. Von Nazi-Methoden würde man sprechen, von Völkermord.
Es ist unfassbar, dass die Nachkommen derjenigen, die einst die Opfer des vielleicht grässlichsten Menschheitsverbrechens waren, jetzt zum Teil mit den Methoden ihrer einstigen Henker vorgehen: jede Tat der Hamas durch eine zehnfach, ja hundertfach schlimmere rächen, eine andere ethnische Gruppe als Untermenschen behandeln, keinerlei Rücksicht auf das Leben gänzlich Unschuldiger nehmen, völlig ungerührt Tausende von Kindern abschlachten.
Wieso gibt es in Israel so gut wie keine Opposition gegen dieses unselige Treiben? Man hat dort nur Sorge um die Geiseln. Die Befreiung dieser Geiseln, die eine Art armseliges Faustpfand in der Hand der Hamas sind, dient als Rechtfertigung des barbarischen Handelns. Dabei hat ja Netanjahu klargemacht, dass er genauso handeln würde, wenn es die Geiseln nicht geben würde.
Die unbelehrbare Menschheit
Das Vorgehen in Gaza zeigt, dass auch im 21. Jahrhundert Krieg genauso brutal sein kann wie eh und je, dass es keinerlei humanitären, keinerlei moralischen Fortschritt gegeben hat, dass der homo sapiens ein homo rapiens geblieben ist, dass es, im Gegensatz zu dem, was etwa die Philosophen der Aufklärung, allen voran Rousseau meinten, keine wirkliche „Milderung und Verfeinerung der Sitten“ gegeben hat – trotz Völkerrecht, trotz globaler Organisationen zur Verhinderung von Kriegen, zur Eindämmung und Mäßigung von Konflikten, dass die sogenannte Zivilisation jederzeit in wüste Barbarei umschlagen kann, dass die Friedliebenden, ethisch Denkenden genauso ohnmächtig sind wie seit jeher, dass die Natur des Menschen sich nicht grundsätzlich geändert hat trotz aller Bemühungen um eine „Erziehung zum Frieden“.
Der Westen hätte gleich zu Beginn des Krieges stärker reagieren müssen. Doch man hat die Regierung Netanjahu gewähren lassen, hat Verständnis und sogar Sympathie für ihr Handeln gezeigt, vor allem auf Seiten der Deutschen, der Franzosen, aber auch der EU in der Person der deutschen Kommissionspräsidentin, vonseiten der amerikanischen Regierung. Man hat Israel sozusagen eine Blankovollmacht erteilt und dann nicht mehr vermocht, auf die teuflische Dynamik, die z.T. zu einer Eigendynamik wurde, einzuwirken.
Wird man vor allem im Westen aus dieser Katastrophe, diesem Totalversagen lernen? Kaum, wie man seit Jahrhunderten, Jahrtausenden nicht aus Katastrophen gelernt hat, höchstens sich zerknirscht, reumütig gezeigt und geschworen hat, dass nie wieder so etwas vorkommen dürfe. Der Mensch, sagt man, sei durchaus lernfähig. Das Problem ist nur, dass er das Gelernte alsbald wieder vergisst und erst, wenn er erkennt, was er angerichtet hat, sich einsichtig zeigt und beschwörend ruft, wie einst Papst Paul VI. mitten im Vietnamkrieg vor den Vereinten Nationen: „Nie wieder Krieg“.
Was sollte die Welt, was sollte vor allem der Westen jetzt tun? Zumindest sollte er durch eine entschlossene Haltung, etwa durch einen vollkommenen Stopp der Waffenlieferungen dafür sorgen, dass Israel das todbringende Gerät ausgeht, er sollte alles tun, um einen „Frieden“ herbeizuführen, der etwa durch eine massive Präsenz von UN-Blauhelmen garantiert würde, sodass in nicht allzu ferner Zukunft wieder ein einigermaßen zivilisiertes Leben für die Einwohner von Gaza möglich würde, dass es wieder zu essen gäbe, Krankenhäuser und Schulen schnell wiederaufgebaut würden, kurzum es eine Zukunft für die Menschen von Gaza geben könnte.
* Der Autor leitete im Rahmen des von ihm geführten Instituts für Europäische und Internationale Studien in den Jahren 1998 bis 2001 mit hochrangigen politischen und militärischen Verantwortlichen sowie angesehenen akademischen Experten aus Israel, Jordanien und Palästina ein vom Luxemburger Außenministerium finanziell unterstütztes Projekt über mögliche Lösungen für den Nahost-Konflikt.
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