Forum / Das Regelwerk von Laut und Leise
Es gibt viele Situationen im Leben, die uns den Gegensatz von Leise und Laut veranschaulichen können. Ruhe wird beispielsweise nicht nur eingefordert, sondern gelegentlich in den Status eines Luxusguts erhoben. Denn ohne Ruhe lassen sich viele Dinge nicht angemessen genießen. Also wird Abgeschiedenheit wertgeschätzt. Ohne Stille in einem Konzert haben die leisen Töne ebenso keine Chance. Disziplin in einer Menschenansammlung ist die Grundvoraussetzung für eine Ansprache, die Gehör findet. Das Laute steht für Dominanz, für das Zurückdrängen alles Anderen, für das Rauschen, das uns ständig umgibt.
In der Schule gab es beispielsweise eine Note für Betragen und für Mitarbeit. Manchmal hatte man den Eindruck, dass Plaudertaschen in dem einen Fall bestraft und in dem anderen Fall belohnt wurden. In vielen Belangen des Alltags wird Spontaneität oder die Fähigkeit, sofort zu reagieren (im Englischen spricht man gerne von „immediate reaction“), verlangt. Zugleich wird Zurückhaltung, Zögern, Nachdenken im Augenblick des Auftretens weniger gewürdigt als die prompte Antwort, die wie aus der Pistole geschossen kommt.
Dort, wo die politische Auseinandersetzung eine Arena betritt, wird Schlagfertigkeit erwartet. Die Sprecherinnen und Sprecher dürfen sich in diesem Moment keine Blöße geben. Sie müssen angreifen, provozieren, dem anderen gegebenenfalls ins Wort fallen, ihn irritieren, aus dem Konzept bringen. Wer es zu häufig tut, lenkt die Aufmerksamkeit unter Umständen auf die fehlende Etikette. Das Nachdenkliche mag punktuell den Eindruck des durchdachten Agierens unterstreichen. Aber auf Dauer geht nicht, dass die emotionalen Antriebe kontrolliert und die kognitiven Fähigkeiten ganz darauf konzentriert werden, im Denken ein Probehandeln zu absolvieren, mit dem man sich noch nicht so recht auf die Bühne wagt. Die Öffentlichkeit ist eine Arena, die diesen stillen Tugenden nur in wenigen und kurzen Momenten ein Forum gewährt.
Dynamisches Bild des Meinungsklimas
Ganz anders scheint es, wenn Zeitungen ein Interview publizieren. Natürlich muss ein solcher Text auch Spontaneität ausstrahlen, in der Regel wird er nach dem eigentlichen Interview redaktionell bearbeitet und vom jeweiligen Gesprächspartner autorisiert. Hinter dem Eindruck einer stets passenden Antwort steht also in diesem Fall unter Umständen die Chance eines langen Nachdenkens. Alles, was dagegen live stattfindet, geschieht vor einem Publikum, das von den Akteuren dramaturgisch geschulte Inszenierungen erwartet. Die Vorderbühne steht für Aktion, die Hinterbühne für einen exklusiven Moment.
Auch dort kann Einfluss ausgeübt werden, aber eine solche Wirkung wird vor allem mit Öffentlichkeit in Verbindung gebracht. Auf der Suche nach seiner Verbreitung gab die Demoskopie gerne auch einmal die folgende Aussage zur Bewertung vor: „Bei Gesprächen höre ich lieber zu, als dass ich selbst rede.“ Eine Zustimmung zu dieser Aussage wurde in mehreren Studien als Indiz für ein eher beobachtendes und passives Verhalten gewertet. Wer leise ist, so müsste die Schlussfolgerung lauten, verzichtet aus unterschiedlichen Gründen darauf, andere mit Worten zu überzeugen. In demselben Zusammenhang wurde auch die Aussage „Ich bin manchmal etwas unentschlossen, schüchtern“ verwandt. Eigentlich sind dies zwei verschiedene Dinge. Aber sie geben uns weitere Erklärungen dafür, warum bestimmte Personen in vielen Situationen sich lieber an anderen orientieren oder das direkte Urteil in Begegnungen scheuen.
Am Ende solcher Messungen ergeben sich beispielsweise Hinweise auf starke und schwache Persönlichkeiten: Wer redet, ist von sich überzeugt; wer schweigt, fürchtet sich mit seiner eigenen Meinung zu isolieren. Aus dieser Forschungstradition ist ein dynamisches Bild des Meinungsklimas hervorgegangen. Obwohl es keine Vorschriften oder Regeln gibt, führt die Option für Leise oder Laut zu einer Form von Über- und Unterordnung. Historisch konnte eine Demonstration von Macht durch leises Auftreten erfolgen. Wer etwas wollte, musste sich vor einem Regenten erklären. Heute muss, wer Verantwortung trägt, erklären, warum er sich nicht äußert.
Das Reden und Schweigen führt somit ein eigenes Schauspiel auf. Denn gerade die öffentlichen Auftritte haben ihre eigene Architektur, ein Programm, das sich aus Rollenerwartungen und Abläufen zusammensetzt: Tagesordnung, Rednerliste, Impulsreferate, Moderatoren – ein als zu passiv gefürchtetes Publikum soll doch auch einmal Lebenszeichen von sich geben. Ein Blick auf öffentliche Debatten und Prozesse der Meinungsbildung bestätigt immer wieder, dass der aktive Teil der Gesellschaft vergleichsweise überschaubar ist. Das Überschaubare wiederholt sich aber gleichsam auch in Veranstaltungsformen mit begrenzter Teilnehmerzahl, beispielsweise in Seminaren an Universitäten oder in Debatten in Kommunalparlamenten. Es ist dabei nicht nur die Introvertiertheit in ihrer Reinform, die dafür sorgt, dass sich Zurückhaltung, Passivität und Nachdenklichkeit als Eigenschaften gegenseitig verstärken. Es ist darüber hinaus eben auch die Bevorzugung von Prozessen des behutsamen Erschließens, also ein anderer Weg, Probleme zu lösen oder zu einem Urteil zu gelangen. Die Verlagerung des akademischen Austauschs in Videokonferenzsysteme zeigte, dass dort die ohnehin Leisen noch leiser scheinen und dies den aktiven Sprechern zusätzlich zugutekommt. Manche Dozenten sorgen sich heute, dass dieser rezipierende Teil noch seltener die Bereitschaft aufbringen wird, aus der bevorzugten Rolle auszubrechen und zumindest vorübergehend Interesse und Aktivität zu signalisieren.
Kunst der dosierten Informationsweitergabe
Das technische und soziale Umfeld sorgt also nicht automatisch für ein organisches Zusammenwirken. Populär ist dennoch weiterhin die Vorstellung, ein Netzwerk bilden zu können, in dem jeder für die Gesellschaft oder eine Gruppe die besten Dienste leisten kann. Hier bleibt auch Platz für Hierarchien: Wer seine Arbeit macht und zur Stelle ist, wenn sein Rat eingefordert wird, sorgt für reibungslose Prozesse. Hier kommt zur rechten Zeit der rechte Ratschlag, wie in einem Rateteam, das sich mal laut, mal leise denkend an ein Ergebnis herantastet. Das Credo der Beteiligung und Transparenz lässt dann manchmal erleben, was bereits in den 1950er Jahren in der amerikanischen Literatur als die „Tyrannei der glücklichen Arbeitsgruppe“ beschrieben wurde. Das Nachdenkliche und Zurückhaltende kann sich außerhalb dieser kleinen Öffentlichkeit viel besser im Mikrokosmos einer Dyade (also nur zwei beteiligte Personen) gut zur Geltung bringen. Überhaupt gibt es nicht wenige Anlässe, in denen Besonnenheit und Zurückhaltung auch in strategischer Hinsicht vorteilhaft sein können. Die Kunst der dosierten Informationsweitergabe ist gelegentlich bei den Leisen besser aufgehoben als bei den Lauten. Dennoch kann auch hier die Balance in Gefahr sein, wenn auf beiden Seiten die Redebereitschaft auf ein Minimum begrenzt wird. Mündliche und schriftliche Stille sind der Sache dann nicht dienlich.
Im Gegensatzpaar von Leise und Laut ist somit ein Mechanismus angelegt, der der Gesellschaft im Kleinen und im Großen als entlastende Differenz dienlich sein kann. Wer in der Welt der Politik ein Kabinett zusammenstellt, achtet auf das Zusammenspiel verschiedener Charaktere. Manchmal lässt sich im Schatten der Lauten in Ruhe an den wichtigen Dingen arbeiten. Eine Arbeitsgruppe kann nicht nur aus Meinungsführern bestehen. Wenn strategische Entscheidungen anstehen, muss auch ein Kanal existieren, der nicht von Wortführern dominiert wird. Wie in einer Symphonie, die vermeintlich Disparates eindrucksvoll zusammenführt – also mehr als Pauken und Trompeten.
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