/ Das Sterben der Murmeltiere: „Matrjoschka“ bringt den dunklen Kern der menschlichen Natur ans Licht
Amy Poehlers Netflix-Drama „Russian Doll“, zu Deutsch „Matrjoschka“, ist im weitesten Sinne eine Adaptation des Filmes „Und täglich grüßt das Murmeltier“ von 1993 mit Bill Murray. Die Serie und der Film teilen sich nebst der Prämisse des ständigen Wiedererlebens einer gewissen Zeitspanne auch eine höchst zynische Hauptfigur. Während die fröhlichen Neunziger jedoch letztlich eine moralische Fabel produzierten, ist die Herangehensweise unserer Dekade von weit finsterer Natur.
Von unserem Korrespondenten Tom Haas
Nadia Vulvokov stirbt an ihrem 36. Geburtstag, als sie nachts von einem Taxi überfahren wird. Womit eine Geschichte üblicherweise endet, beginnt diese allerdings erst, denn Nadia befindet sich im nächsten Augenblick im scheußlich eingerichteten Badezimmer ihrer Freundin Maxine, welche die Geburtstagsparty der Protagonistin ausrichtet – und diese lässt bereits erahnen, welchen Weg die Serie geht.
Die Party ist ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, ein Get-together von Narzissten, die ihre scheinbar liberale Geisteshaltung nur durch genüsslich zelebrierte Maßlosigkeit verwirklicht sehen. Nadia fügt sich wie ein Puzzleteil in diese Gesellschaft und vermutet die Ursache für ihre Wiedergeburt zunächst in einer Drogenpsychose, die von einem mit Kokain gestreckten Joint ausgelöst wurde.
Rasch wird jedoch ersichtlich, dass ihr Schicksal wohl von anderen Ursachen als ihren Konsumgewohnheiten herrührt. Im Verlauf der Serie wird klar, dass sie es nicht schafft, ihren Geburtstag zu überleben: Im Gegensatz zu Bill Murray, der einfach nur schlafen ging, muss sie sterben, damit der Prozess wieder von vorne beginnt, was ihr auch auf unterschiedlichsten Wegen unfreiwillig – und durchaus komisch – gelingt.
Ironische Distanz zum eigenen Tod
Nachdem sie begreift, dass der reine Versuch, das Überleben zu sichern, nicht ausreicht, macht sie sich auf die Suche nach anderen Wegen, ihrem Gefängnis in der Zeitschleife zu entrinnen. Und ab dem Zeitpunkt beginnt eine Reise, die den Zuschauer tief in die verwinkelten Abgründe der Seele eines kaputten Menschen führt. Ihren unwiderstehlichen und zugleich nervenzehrenden Charme gewinnt die Geschichte dabei durch die schonungslose Unverfrorenheit, die Nadia wie eine Rüstung trägt und der es ihr ermöglicht, selbst das eigene Ableben noch mit einer satten Portion Galgenhumor zu goutieren.
Mit jedem Tod jedoch bröckelt und rostet diese Rüstung ein Stück mehr und wie bei der namensgebenden Matrjoschka entpuppt sich langsam ein schwer versehrtes, von Selbsthass zerfressenes Wesen mit immer stärker aufkeimenden Zweifeln an ihrem Metaverstand. Der anfängliche Pragmatismus sucht Ausflüchte in der jüdischen Mystik und der Bibel, um den Erklärungsbedarf zu decken und es ist ein langer Weg, bis die Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit als Ursache heranreift.
Die erzählerische Struktur der Serie, das „Loopen“, erlaubt dabei das multiperspektivische Sezieren der zugrundeliegenden Traumata und der unterschiedlichen Bewältigungsstrategien, die ein Mensch an den Tag legen kann. Es ist das „Was wäre wenn?“, die Frage, die jeden Menschen bisweilen plagt, die Reue des Zurückblickens – und hier sind die Erzähler überaus fatalistisch. Unbarmherzig zeigen sie, dass auch ein Weg mit vielen Abzweigungen und Pfaden letztlich nur ein Weg für jene Person ist, die ihn beschreitet, und dass der Glaube, im Nachhinein klüger zu sein, auch wenig mehr ist als ein Verleugnen der eigenen Natur und nicht unbedingt einen Lernerfolg darstellt.
Du musst dein Leben ändern
Wo Rilke noch eine Epiphanie im Louvre zu dieser Erkenntnis ausreichte, braucht der postmoderne Mensch in Form von Nadia Vulvokov (oder später auch Alan Zaveri, der zweite Protagonist) mehr als nur eine ästhetisch induzierte Erleuchtung, auch wenn die Referenz in der Serie natürlich nicht fehlt. Im späteren Verlauf tritt dieser Anspruch immer deutlicher zutage, ohne allerdings dem moralinschwangeren Duktus der filmischen Vorlage zu verfallen – dafür ist die Geschichte zu irre, sind die Figuren zu abgedreht.
Die Notwendigkeit ist jedoch nicht weniger dringlich vorgetragen: Um dem Alltagstrott im Hamsterrad, dem totalitären Gefühl des Absurden, das hier durch die Metapher der Zeitschleife verdichtet wird, zu entrinnen, bedarf es einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Wurzeln des eigenen Handelns, jenseits von Lebensratgebern, positiver Psychologie und anderen Nebelkerzen, die uns das Vorhandensein einer Abkürzung suggerieren, als tadelloses Mitglied der Gesellschaft funktionieren zu können. Vor allem braucht es aber auch ein wirkliches Interesse an den Mitmenschen, das sich nicht aus der Gier nach Klatsch und Sensation speist, sondern den Menschen im kantianischen Sinn als Selbstzweck begreift.
Diese nur scheinbar naive „Moral der Geschichte“ wirkt auf den ersten Blick etwas banal, verhandelt aber tatsächlich eine sehr grundlegende Frage des Menschseins. Begreift man den Loop als repetitive Handlungsmuster, in denen wir uns alle mithin aus Gründen der Bequemlichkeit einzurichten pflegen, so untersucht „Matrjoschka“ sowohl die Bedingungen ihres Zustandekommens, als auch das Rüstzeug, welches notwendig ist, um ihnen wieder zu entrinnen. Dazu zählen Ehrlichkeit, sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber unseren Mitmenschen, und Freunde, die diese Muster erkennen und uns an der Hand nehmen, um uns hinauszuführen.
Insofern ist „Matrjoschka“ ein Märchen – mit Mitteln der Postmoderne rasant und witzig erzählt, aber mit einem Anspruch an die Selbsterkenntnis des Rezipienten versehen, der geradewegs dem Zeitalter der Aufklärung entspringt. Es geht darum, diese Welt nicht zu einem Ort zu machen, an dem wir Murmeltiere alle sterben müssen, sondern an dem wir alle leben wollen. Das Kunststück, diese Botschaft mit einer zynischen Nihilistin als Hauptdarstellerin zu vermitteln, ist den Schreibern auf jeden Fall gelungen, woraus sich eine uneingeschränkte Sehempfehlung ergibt – für alle. Denn die Werte der Aufklärung sind bekanntlich universal – und im Falle dieser Serie auch geradezu tödlich unterhaltsam.
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