Bühne und Politik / „Das Theater ist wieder politischer geworden“
„Das Theater ist wieder politischer geworden“, sagt Florian Hirsch, Dramaturg des „Théâtre national du Luxembourg“. So werden verstärkt Themen wie Krieg und Rechtsextremismus behandelt.
Herr Hirsch, inwiefern ist das Theater von heute politisch?
Das Theater hat schon immer auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert. Hierbei gibt es unterschiedliche Ansätze des politischen Theaters, das in den vergangenen Jahren angesichts der gesellschaftlichen Polarisierung und Vereinfachung durch populistische Bewegungen wieder an Bedeutung gewonnen hat. Den genannten Entwicklungen muss das Theater etwas entgegensetzen. Das kann aber nicht noch mehr Vereinfachung und auch kein didaktisches Belehren sein, sondern es muss viel substantieller sein, in die Tiefe gehen und die Zwischenräume sowie Grauzonen ausleuchten.
Hat das politische Theater nicht eine Zeitlang einen schweren Stand gehabt?
Das Theater hat zwar eine große Kraft und ist, zumindest in Luxemburg wie auch in Deutschland und anderen Ländern, noch gut ausgestattet. Aber im Vergleich mit der medialen Konkurrenz wie etwa den sozialen Medien und Streamingdiensten wie Netflix muss es aufpassen, überhaupt gehört zu werden. Gerade während der Pandemie war es besonders schwierig, weil viele Theater geschlossen waren und danach Schwierigkeiten hatten, ihr Publikum zurückzugewinnen. Das war bei uns nicht so massiv das Problem, weil wir bis auf den ersten Lockdown fast durchgespielt haben. Aber in Deutschland und Österreich war das durchaus ein großes Problem. Man musste sich sein Publikum, das sich daran gewöhnt hatte, zu Hause zu sitzen, erst wieder zurückerobern. Das ist natürlich auch ein politischer Akt. In den letzten Jahren ist das Theater wieder lauter und politischer geworden. Es bekommt auch wieder mehr Aufmerksamkeit im Vergleich zu den Jahren davor, in denen es ein bisschen eingeschlafen war.
War es bereits vor der Pandemie eingeschlafen?
Das kann man so sagen. Es traf aber nicht auf alle Theater zu. Die Pandemie war so etwas wie ein Weckruf. Die Theatermacherinnen und Theatermacher waren auf sich selbst zurückgeworfen und konnten sich sammeln, um wieder präsenter zu werden.
Wie wirkte sich die Zielsetzung, politisches Theater zu zeigen, konkret bei der Planung von Programmen und einzelnen Stücken aus?
Es ist sehr unterschiedlich, wie die Programmplanung vonstatten geht. Im TNL ist es uns immer wichtig, auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen zu reagieren. Wir begreifen uns als europäisches und als politisches Theater. Das gilt umso mehr in einer Zeit, in der die europäische Einigung von Populisten und Rechtsextremen bedroht wird. Wir müssen uns wehren. Das geschieht zum einen durch die Auswahl der Stoffe: Wir haben zum Beispiel mit dem nächsten Stück „Stahltier“ ein Auftragswerk an Albert Ostermaier vergeben. Dabei handelt es sich um eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Verführung durch die Kunst. Erzählt werden zwei semi-fiktive Begegnungen zwischen Leni Riefenstahl und Josef Goebbels. Es geht zwar um eine vergangene Zeit, beinhaltet aber so viele Punkte, an die man anknüpfen kann. Zum Beispiel Manipulation und Propaganda.
Können Sie etwas dazu sagen, wie das Auftragswerk entstand?
Der Auftrag wurde vor zwei Jahren an Ostermaier gegeben, der das Stück eigens für die Schauspieler Jacqueline Macaulay und Wolfram Koch geschrieben hat. Wir wollten es eigentlich schon in der letzten Saison aufführen. Aber wegen der Disposition der Schauspieler war das leider nicht möglich. Deshalb machen wir es jetzt. Ein Auftragswerk ist natürlich etwas anderes, weil es erst einmal geschrieben werden muss. Wir sind natürlich im Austausch mit dem Autor gewesen und haben uns mit ihm getroffen. Mit den Schauspielern trafen wir uns letztes Jahr und haben das Stück gelesen und Änderungen vorgenommen. Es war also ein Work in Progress. Diese Arbeit setzt sich jetzt während der Proben fort. Bei anderen Stoffen kann man teilweise schneller reagieren. Wir haben öfter noch im Sommer Stücke entdeckt, von denen wir dachten, dass sie noch gut in unseren Spielplan passen würden. Die Pressekonferenz ist immer im September. Man kann also noch kurzfristig Stücke auswählen. Unsere allerletzte Deadline ist normalerweise Anfang August.
Kann man auch ganz schnell reagieren wie jüngst das Berliner Ensemble, das im Januar die szenische Lesung „CORRECTIV enthüllt: Rechtsextremer Geheimplan gegen Deutschland“ zeigte?
Das ist möglich in der Form, wie es das BE und das Wiener Volkstheater gemacht haben. Sie hatten zwei Tage Probezeit mit den Schauspielerinnen und Schauspielern für die szenische Lesung aus existierenden Protokollen von dem infamen Treffen der AfD und anderen in Potsdam. So etwas ist möglich. Wir hatten vor fünf Jahren kurzfristig etwas Ähnliches ins Programm geholt. Das war „Merde alors“ nach dem Zitat von Jean Asselborn. Dabei haben Ensemblemitglieder des Wiener Burgtheaters Texte von Populisten aus ganz Europa in einer ziemlich erschreckenden Collage zitiert. Solche kleineren Projekte sind möglich. Man kann natürlich auch, während man schon an einem Projekt arbeitet, noch auf politische Entwicklungen reagieren. Als zum Beispiel der Krieg in der Ukraine ausbrach, da konnte man das nicht von sich fernhalten, sondern ließ es irgendwie in die Arbeit miteinfließen. Man reagiert mit künstlerischen Mitteln.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Die Wiederaufnahme von „Zauberberg“. Das Stück handelte in unserer Interpretation von einer Pandemie. Bei der Wiederaufnahme war der Krieg ausgebrochen. Der Kriegsausbruch spielt ja auch bei Thomas Mann eine Rolle. Es gibt zum Beispiel in „Zauberberg“ die russische Figur Clawdia Chauchat. Am Ende löst sich die ganze saturierte „Zauberberg“-Gesellschaft auf, Europa zerbricht. Das hat eine große Rolle gespielt. Vor Kurzem hat Frank Hoffmann „Die Möwe“ von Tschechow inszeniert. Auch da ist der aktuelle Krieg am Schluss sehr präsent.
Kann man überhaupt noch russische Dramatiker spielen, ohne auf den Krieg aufmerksam zu machen?
Das gilt nicht nur für russische Autoren. Bei Thomas Mann war das ja ähnlich. Wir können nicht einfach nur blind „L’art pour l’art“ machen. Das Theater soll eine Art Seismograph sein und gesellschaftliche Entwicklungen, die noch gar nicht vollzogen sind, vielleicht sogar vorausahnen.
Wie reagiert das Publikum darauf?
Manchmal werden wir gefragt, wenn wir einen Klassiker aufführen, ob wir Text hinzugefügt haben, weil das Stück erstaunlich aktuell wirkte. Das heißt aber nicht, dass wir das getan haben. In sehr vielen Klassikern steckt einfach sehr viel Gegenwart. Man muss das nicht immer plakativ visualisieren, um es sichtbar zu machen, sondern einfach nur gut herausarbeiten.
Gibt es eine Grenze des politischen Ausdrucks?
Ich würde nicht sagen, dass es eine Grenze gibt. Eine Inszenierung muss künstlerisch hochwertig sein. Die Regisseurinnen und Regisseure verfolgen ganz unterschiedliche Ansätze. Allzu plakatives politisches Theater ist mir relativ fremd. Ich respektiere jedoch, dass manche das anders sehen. Hauptsache, es ist gut und mit Leidenschaft gemacht.
Darf Theater, ähnlich wie die Karikatur, also alles?
Ja, absolut.
Welche Entwicklung beobachten Sie allgemein in Hinsicht des politischen Theaters?
Ich glaube, dass die Zeit zwischen dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem 11. September 2001 in Europa eine eher friedliche Zeit und eine der Sicherheit war, ohne allzu große politische Umwälzungen. Das hat sich in den letzten 20, und vor allem in den letzten fünf bis zehn Jahren extrem verändert. Zum Beispiel haben wir nach „Stahltier“ eine Produktion über Heiner Müller auf dem Programm: „Die Väter haben immer Recht“. Wenn man Texte von Müller liest, stellt man fest, dass er ein Prophet der Verschiebungen einer wankenden Welt war. Er hat den Umbruch nach dem Fall der Mauer extrem luzide und poetisch verarbeitet und eigentlich vorweggenommen. Man merkt, dass diese Texte wieder besser in die Zeit passen als in den 90er Jahren.
Heiner Müller ist also wieder aktuell.
Das Gleiche gilt auch für Bertolt Brecht. In der nächsten Spielzeit werden wir eine große internationale Koproduktion von „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ haben. Wir arbeiten mit Künstlerinnen und Künstlern aus Italien und Slowenien, auch mit der eminent politischen Band Laibach. Die Premiere wird in Bologna sein, im November wird das Stück u.a. in Ljubljana und bei uns im TNL in Luxemburg gezeigt, übrigens auch in verschiedenen Sprachen. Allein schon die Begegnung von Künstlerinnen und Künstlern aus unterschiedlichen Ländern ist ein hochpolitischer Akt. Bei Brechts Text handelt sich um eine extrem hellsichtige Analyse des Kapitalismus und der Börsenspekulation, was es schon zur Zeit seiner Entstehung war. Von seiner Aktualität und Relevanz hat das Stück nichts verloren.
Was haben die Kollegen von ihrer Arbeit im postfaschistisch regierten Italien berichtet? Haben sie dort Schwierigkeiten?
Ja, das kann ich bestätigen, dass dort die Kunstfreiheit eingeschränkt bedroht ist. Was nicht nur über eine Zensur geschehen muss, sondern in Form von Subventionskürzungen. Die italienischen Kunst- und Theaterschaffenden haben jedenfalls sehr große Sorgen.
Kann Theater schneller auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren als manch andere Kunstform?
Ja, aber ich würde mir ehrlich gesagt noch mehr davon und mitunter eine schnellere Reaktion wünschen. Selbst ein kleines Haus wie das TNL ist ein relativ schwer zu manövrierender Tanker, weil man einfach an den Spielplan und bestimmte Probenzeiträume gebunden ist. Aber es ist möglich, wenn man es will.
Florian Hirsch, geboren 1979 in Berlin, war zehn Jahre lang Dramaturg am Wiener Burgtheater. Seit der Saison 2019/20 arbeitet er fest als Dramaturg am TNL. Hirsch ist im Vorstand der Union des Théâtres de l‘Europe (UTE).
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