NATO / Das transatlantische Bündnis steht vor Umwälzungen
Nichts wird so sein wie vor dem russischen Angriff. Ganz gleich, wie der Krieg in der Ukraine ausgeht, steht die NATO vor allem in Europa vor großen Umwälzungen. Die Europäer werden mehr auf dem eigenen Kontinent schultern und Mitverantwortung auch in Afrika und Asien übernehmen müssen.
Wenn die Verteidigungsminister der 32 NATO-Staaten an diesem Donnerstag und Freitag in Brüssel zum Herbsttreffen zusammenkommen, dann hat das nur oberflächlich den Anstrich von Routine. Schauen, wo wir stehen bei der Selbstverpflichtung, die NATO verteidigungsfähiger zu machen, hören, was der ukrainische Amtskollege über die Situation an den Fronten und die Pläne für die nächsten Monate zu berichten hat, beobachten, welche Akzente der neue NATO-Generalsekretär Mark Rutte in den internen Sitzungen setzt. Doch unter dieser Oberfläche brodelt es gewaltig, denn den meisten ist klar, dass die transatlantische Verteidigungsorganisation tiefgreifende Umwälzungen schaffen muss, wenn der Westen angesichts der angehäuften globalen Bedrohungen und Herausforderungen überhaupt noch eine Zukunft mit Sicherheit und Wohlstand haben soll.
Die beiden erfahrenen Bonner NATO-Experten Rolf Clement und Detlef Puhl haben die Dimensionen der bevorstehenden NATO-Wende in einem in diesen Tagen erschienenen 230-Seiten-Buch („Die Zukunft der Sicherheit“, Mittler-Verlag) messerscharf herausgearbeitet: Hoffnungen, dass alles nicht so schlimm kommen werde und die NATO irgendwann in alte Bahnen zurückfinden könne, seien „bestenfalls naiv“, halten sie nach der Analyse verschiedener Szenarien für die Entwicklungen im Russland-Ukraine-Krieg und den drohenden Konflikt zwischen China und Taiwan fest. Und sie unterstreichen, was auch den NATO-Verteidigungsministern in Brüssel erneut bewusst werden dürfte: Europa wird sehr zügig sehr viel mehr schultern müssen, und zwar unabhängig vom Wahlausgang in den USA Anfang November.
Greifbar wird das in der Clement-Puhl-NATO-Studie angesichts des von ihnen zitierten Konzeptes für eine zweite Amtszeit von Donald Trump. Dann solle die NATO derart „transformiert“ werden, dass „die Alliierten der USA fähig sind, den großen Teil konventioneller Streitkräfte zur Abschreckung Russlands zu stellen und den USA hauptsächlich die atomare Abschreckung und die Wahl anderer Fähigkeiten zu überlassen; zugleich die Truppenpräsenz der USA in Europa reduzieren“. Dazu aber sind die Europäer noch lange nicht in der Lage.
EU- und NATO-Spitzen teilen Sprache und Sichtweise
Allerdings gibt es in Brüssel Hoffnungen, dass hier einiges sehr zügig in Gang kommen kann, wenn die neue Kommission erst einmal ihre Arbeit aufgenommen hat. Dann gibt es nämlich eine Konstellation, in der unter der Führung der Kommissionspräsidentin und früheren Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, mit einer auf größere Verteidigungsfähigkeit ausgerichteten neuen Außenbeauftragten und früheren estnischen Regierungschefin Kaja Kallas sowie dem ersten EU-Verteidigungskommissar und früheren litauischen Premierminister Andrius Kubilius drei entschlossene Ansprechpartner zur Verfügung stehen, deren Sprache, Sichtweise und Mentalität NATO-Generalsekretär Rutte nach seinen eigenen fast anderthalb Jahrzehnten als niederländischer Regierungschef und EU-Gipfel-Mitgestalter teilt.
Diese vier werden die 27 EU- und 32 NATO-Spitzen davon überzeugen müssen, dass es keinen Weg an der (teuren) Zeitenwende vorbei gibt. Wie Clement und Puhl herausarbeiten, wird Europa deutlich mehr Ressourcen ins Militär stecken müssen, ganz gleich, wie der Krieg in der Ukraine endet. Siege Russland, müsse die Verteidigungsfähigkeit schnell glaubwürdig verfügbar sein, um ein weiteres Ausgreifen auf noch mehr Länder zu verhindern. Überlebe die Ukraine, werde es eine Sicherheit nur mit umfassenden Garantien für Kiew geben – einschließlich Truppenstationierungen innerhalb der Ukraine.
Zugleich blicken die beiden Analysten auf die Rolle Russlands nach dem Krieg, das als atomare Supermacht nur eine ökonomische Mittelmacht sei, von China als Juniorpartner, von den USA als Regionalmacht behandelt werde und dem machtpolitischen Bedeutungsverlust mit militärischen Mitteln zu begegnen versuche. Für die EU als unmittelbarer Nachbar eines solchen Russlands gebe es daher ein strategisches Interesse, sich „einen Weg zum Ausgleich mit Russland nach dem Krieg“ offenzuhalten.
Unterstützung von Europäern im Indopazifik erwartet
Auch vor den Entwicklungen in Afrika mit wachsendem Einfluss russischer und islamistisch-terroristischer Kräfte dürften die Europäer nicht die Augen verschließen, wenn sie die Sicherheit des Mittelmeeres und die Beherrschbarkeit der Migration ernst nähmen. Schließlich prophezeien die Sicherheitsexperten, dass eine Eskalation zwischen China und den USA für die europäischen NATO-Partner ganz anders ablaufen würde als die früheren Waffengänge in Korea und Vietnam. Sollte Peking tatsächlich eine „Wiedervereinigung“ mit Taiwan militärisch erzwingen, und dann in einen Krieg mit den USA kommen, würde die Konstellation des globalen Systemwettbewerbs und das Interesse an einer Aufrechterhaltung der Freiheit der Schifffahrt „auch die europäischen Alliierten zur Solidarität zwingen“, sagen Clement und Puhl voraus. Die USA könnten dann bei den NATO-Partnern in Europa „auch militärische Unterstützung“ einfordern. Damit wird vom transatlantischen Bündnis schon jetzt ein erweiterter strategischer Blickwinkel auch auf den indopazifischen Raum erwartet. Beim NATO-Herbsttreffen wird das deutlich durch Runden mit den Verteidigungsministern aus Australien, Japan, Korea und Neuseeland.
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