Britische Parlamentswahl / Dem Labour-Erdrutschsieg folgt rasend schnell der Machtwechsel
Knapp fünfzehn Stunden nach Schließung der Wahllokale hat am Freitagmittag die neue Labour-Regierung Großbritanniens die Amtsgeschäfte aufgenommen.
Sein Team werde allen dienen, „besonders jenen, die uns nicht gewählt haben“, versprach Premierminister Keir Starmer vor seinem Amtssitz in der Downing Street. Die Arbeiterpartei verfügt im neuen Unterhaus mit 412 von 650 Mandaten über eine gewaltige Mehrheit. Mit Respekt und Demut gehe er ans Werk für eine „nationale Erneuerung: Wir wollen den Glauben an eine bessere Zukunft wiederherstellen“.
Während des intensiven sechswöchigen Wahlkampfs hatten die Demoskopen keinen Zweifel daran gelassen, dass die Briten die konservative Regierung unter Premier Rishi Sunak aus dem Amt jagen wollten. Dieses Vorhaben setzten die Wählenden am Donnerstag diszipliniert in die Tat um: Während überzeugte Konservative ihren Wahllokalen entweder fernblieben oder sogar der Reform-Bewegung des Nationalpopulisten Nigel Farage die Stimme gaben, unterstützten die Gegner der bisherigen Regierungspartei die jeweils aussichtsreichste Konkurrenz gegen die Tories.
Engländer, Schotten und Waliser bescherten den Tories die schwerste Niederlage seit 1906. Den noch inoffiziellen Ergebnissen vom Freitagmittag zufolge brachte es die einst stolze Regierungspartei mit etwa 24 Prozent der Stimmen gerade noch auf 121 Mandate, rund ein Drittel der vor viereinhalb Jahren bei Boris Johnsons Brexit-Wahl gewonnenen Sitze. Dagegen konnte Labour (35 Prozent) die Sitzzahl auf 412 verdoppeln.
Das Ergebnis schlug sich an den Finanzmärkten kaum nieder. Der Labour-Sieg sei ja längst eingepreist gewesen, hieß es in der City of London.
Wohlerzogene Höflichkeit
Was sich in der Nacht bei der Auszählung der rund 40.000 Wahllokale beobachten ließ, war Politik-Theater vom Feinsten, wie man es von den Briten gewohnt ist. Eine prominente Tory-Frau nach der anderen, ein Minister nach dem anderen musste sich die Ergebnisse der siegreichen Konkurrenz anhören. Je nach Stimmung und Charakter begegneten sie der Niederlage mit Eleganz, Gleichmut – oder mit peinlichem Schweigen. Den Vogel schoss diesbezüglich die Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss ab. Zunächst ließ sie die anderen Kandidaten, darunter auch den siegreichen Labour-Mann, ihres Wahlkreises in der ostenglischen Grafschaft Norfolk minutenlang auf ihr Erscheinen warten. Anschließend verließ sie die Wahlstatt ohne ein einziges Wort.
Im Gegensatz dazu demonstrierten Truss’ Nachfolger im höchsten Regierungsamt wohlerzogene Höflichkeit. Der scheidende Premier Sunak entschuldigte sich in seiner kurzen Abschiedsrede zunächst beim Volk für die Zumutungen der 14 Tory-Jahre. Er habe „Ihre Enttäuschung und Ihren Zorn“ wohl gehört. Nach Worten des Bedauerns über all jene Parteifreunde, die ihre Unterhaus-Sitze verloren hatten, wandte sich der 44-Jährige dem Wahlergebnis zu. Seinem Nachfolger Starmer, „einem integren Mann mit Sinn fürs Gemeinwohl“, wünsche er alles Gute: „Seine Erfolge werden unser aller Erfolge sein.“
Dann nahm Sunak auf seine indischstämmige Herkunft Bezug. Es sei doch bemerkenswert, wie wenig bemerkenswert das Land seinen Aufstieg zum Premierminister gefunden habe. Da seien Werte wie „Anstand, Freundlichkeit und Toleranz“ zum Vorschein gekommen, die es seinen halbwüchsigen Töchtern erlaubt hätten, am Hindu-Feiertag Diwali auf der Schwelle der Downing Street Kerzen zu entzünden.
Während seiner 20-monatigen Amtszeit hatte Sunak immer wieder überfordert gewirkt, im Wahlkampf beging er einen Fauxpas nach dem anderen. Doch die Abschiedsrede des einstigen Hedgefonds-Managers lieferte das beinahe perfekte Beispiel dafür, wie ein Machtwechsel unter zivilisierten Menschen verlaufen sollte.
Machtwechsel unter zivilisierten Menschen
Etwa zwei Stunden später – dazwischen lagen die jeweiligen Audienzen der beiden Männer und ihrer Frauen bei König Charles III. – erwiderte der neu gewählte Premier das Kompliment. Wie einst für Tony Blair 1997 hatten die Parteistrategen auch diesmal Anhänger und frischgewählte Abgeordnete zum Fähnchenschwenken in die besonnte Downing Street beordert. Jubelnd begrüßten diese ihren Vorsitzenden. Er wolle Sunak Tribut zollen für dessen Engagement und harte Arbeit, sagte Starmer. Um erster Premierminister asiatischer Abstammung zu werden, habe dieser sich gewiss besonders anstrengen müssen: „Davor haben wir Achtung.“
Der höfliche Ton an der Staatsspitze fand in den Ansprachen vieler Politikerinnen im Land seine Entsprechung. Der scheidende Finanzminister Jeremy Hunt, ein Überlebender der großen Tory-Austreibung, erinnerte die Briten an den täglichen Überlebenskampf in der Ukraine. „Wir haben das unglaubliche Glück, in einem Land zu leben, in dem Machtwechsel nicht mit Bomben und Granaten, sondern mit Millionen von Wahlzetteln entschieden werden. Das ist die Magie der Demokratie.“
Freilich gab es auch ganz andere Szenen. Allerorten mussten sich Labour-Abgeordnete wie der mutmaßliche neue Außenminister David Lammy als „Genozid-Apologeten“ beschimpfen lassen – Israels Gaza-Krieg und Labours vermeintlich zu lasche Reaktion darauf beschäftigeen auch im Königreich viele Menschen, die sich der politischen Linken zurechnen. Prominente Muslimas wie Rushanara Ali im Londoner Wahlkreis Bethnal Green oder die designierte Justizministerin Shabana Mahmood in Birmingham sahen sich im Wahlkampf zusätzlich mit Frauenfeindlichkeit und den Beschimpfungen aus den Reihen ihrer eigenen Ethnie konfrontiert. Trotz hoher Stimmverluste an unabhängige Kandidaten „für Gaza“ retteten sich beide ins Ziel. Im Unterhaus werden sie auf eine Handvoll Unabhängiger treffen, die sich den Gaza-Zorn zu Nutzen machen konnten.
Sowohl die Grünen als auch Farages Reform treten statt wie zuletzt mit einer einzigen Abgeordneten zukünftig als Quartett im Unterhaus auf. Das Abschneiden dieser beiden Parteien im Vergleich zu den Liberaldemokraten verdeutlicht die eklatante Ungerechtigkeit des Mehrheitswahlrechts – oder, je nach Lesart, die Brillanz der jeweiligen Wahlstrategen, welche die Anstrengungen ihrer Partei auf aussichtsreiche Bezirke konzentrierten. Mit 3,5 Millionen Wählerstimmen gewannen die Liberaldemokraten 71 Sitze; hingegen brauchten die Grünen für jeden ihrer vier Sitze je eine halbe Million Stimmen, Reform sogar jeweils eine Million Stimmen.
Premier Starmer wandte sich am Freitagnachmittag der Kabinettsbildung zu. Als gesetzt galten vorab die Ministerinnen Rachel Reeves (Finanzen), Yvette Cooper (Inneres) sowie Partei-Vize Angela Rayner (Regionales); am Kabinettstisch dürften auch Ex-Parteichef Edward Miliband (Energie) und Veteran Hilary Benn (Nordirland) Platz nehmen.
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