Editorial / Den Bach runter: Klassische Musik gegen Junkies
Der Mikrokosmos des hauptstädtischen Bahnhofs spiegelt dieser Tage wider, was die DP-CSV-Koalition in der ganzen Stadt umsetzen möchte und was vor kurzem auch die Literaturaktualität – siehe den Fall Roald Dahl – prägte: den Wunsch nach einer aseptischen Welt, in der alles, was einem nicht in den Kram passt – kruder Sprachgebrauch, Bettler, Armut, Drogenabhängigkeit –, einfach so lange an den Rand unserer Wahrnehmung geschoben wird, bis man hofft, dass all dies, ganz im Sinne eines präkopernikanischen Weltbilds, von der Erdscheibe kippt und in ein reinigendes Fegefeuer fällt.
Mithilfe von Beschallung möchte man, ganz nach dem Modell der Deutschen Bahn – die ja im Allgemeinen als Vorzeigeexemplar für alles, was Schienenverkehr anbelangt, gilt –, im städtischen Hauptbahnhof für ein sichereres Umfeld sorgen. Wem nicht ganz klar ist, was die Verbindung zwischen mehr Sicherheit und klassischer Musik sein soll: Diese Maßnahme, angelehnt an eine Praxis, die u.a. in Hamburg bereits keine sichtbaren Erfolge verbuchen konnte, besteht darin, dass man Musik von Bach oder Mozart laufen lässt, weil sich „Anhänger der Betäubungsmittelszene“, so die im Luxemburger Wort zitierte Bezeichnung der CFL-Pressestelle, nicht lange an Orten aufhalten können, an denen klassische Musik läuft.
Davon abgesehen, dass dieser Musikmissbrauch sehr stark an Guantanamo erinnert, wo Songs zu Folterzwecken eingesetzt wurden, gibt es doch unzählige Komponisten – sei es klassischer Musik oder dessen, was man moderne Klassiker nennt –, die selbst Junkies waren, wenn auch oft gutbürgerliche. Rauschmittel stehen also erst im Dienste der Kreativität, deren Erzeugnisse dann Rauschmittelkonsumenten vertreiben sollen – das wirkt nur dann wie ein Widerspruch, wenn man vergisst, dass auch unter Drogenkonsumenten zwischen denen, die in den eigenen vier Wänden konsumieren, und denen, die dies auf der Straße tun, hierarchisiert wird.
Darüber hinaus ist der wissenschaftliche Gehalt dieser klanglichen Anti-Junkies-Vogelscheuche mehr als bröckelig: Befragte Musikpsychologen oder Experten von der Hamburger Drogenberatungs- und Kontaktstelle sind sich einig, dass die Annahme, mit klassischer Musik würde man Junkies vertreiben, mehr Wunschdenken ist, als dass sie auf Empirie oder kognitiven Studien fußt. Der Musikpsychologe Reinhard Kopiez ordnet diese These sogar in den Bereich der „Naiven Theorien“ ein – eine Kategorie, in der sie neben Spekulationen wie „Kühe geben mehr Milch, wenn sie Mozart hören“ Platz findet.
Aber selbst, wenn dieses Vorhaben funktionieren sollte: Eine solche Zweckentfremdung der Kultur ist ähnlich abartig wie diese Anti-Obdachlosen-Bänke, die letztlich für niemanden mehr bequem sind. Vielleicht werden sich Lydie Polfer (DP) und Paul Galles (CSV) dies zu Herzen nehmen – und in der dystopischen Luxembourg City ertönen zukünftig überall Bach-Sonaten. Damit hätte man gleichzeitig die nervigen Straßenmusiker vertrieben.
In seinem Post-9/11-Roman „Bleeding Edge“ beschreibt Thomas Pynchon, wie der New Yorker Bürgermeister einst den Times Square säuberte: „Giuliani, seine Stadtentwicklerfreunde und die Kräfte vorstädtischer Rechtschaffenheit haben es in ein steriles Disneyland verwandelt: Man hat die melancholischen Bars, die Cholesterin- und Fettschleudern und die Pornokinos abgerissen oder renoviert, man hat die Ungekämmten, Unbehausten, Unvertretenen vertrieben, es gibt keine Drogenhändler, Zuhälter oder Hütchenspielartisten mehr, nicht mal mehr die alten Spielhallen mit schwänzenden Schulkindern – alles weg. Maxine wird übel bei dem Gedanken, es könnte irgendeinen verblödeten Konsens darüber geben, wie das Leben zu sein hat, und dieser könnte sich der ganzen Stadt bemächtigen, eine immer engere Schlinge des Schreckens aus Multiplexen, Shoppingcentern und riesigen Geschäften.“
Wer in diesem Auszug Rudolph Giuliani durch Lydie Polfer und den Times Square durch das Bahnhofsviertel ersetzt, erhält eine erschreckend treffende Beschreibung dessen, was in Luxemburg zurzeit passiert.
- Barbie, Joe und Wladimir: Wie eine Friedensbotschaft ordentlich nach hinten losging - 14. August 2023.
- Des débuts bruitistes et dansants: la première semaine des „Congés annulés“ - 9. August 2023.
- Stimmen im Klangteppich: Catherine Elsen über ihr Projekt „The Assembly“ und dessen Folgeprojekt „The Memory of Voice“ - 8. August 2023.
Den « Bach » runter….
Schéint Wuertspill ;-)))
De Johann Sebastian géing sech schudderen…
Danke Herr Schinker für den „Flache Erde“ Vergleich nebst dem des „Reinigenden Fegefeuers“. Dieses himmelsschreiende Wunschdenken hat schon 1933 in Luxemburg Salonfähigkeit erlangt. Die damals vom meinungsgewaltigen päpstlichen „Luxemburger Wort“ befürwortete Propagandabetäubungsszene hat aus meinen katholischen luxemburgischen Eltern rassenhygienische Hardcoresoldaten mit dem utopischen Auftrag der Herstellung einer Pflichtgesundheit für alle arischen Herrenmenschen gemacht. Der Medizinhistoriker Thomas BEDDIES beschreibt dieses kriegsvorbereitende Wahnunternehmen in seinem Buch „Du hast die Pflicht, gesund zu sein“.
MfG
Robert Hottua
Die Kids haben Kopfhörer mit Bach-cancelling.
Dat as jo nëmmen zënter 13 Joer den Fall…sin zwar selwer zimlechen Bach- Junkie….Mäi dat mat Folter gläich ze stellen…Ween Musik net passt..kan jo goen..wat zu Guantanamo net den Fall as..
Leserbrief
Die rezenten Artikel von Frau Stella SCHALAMON im „Spiegel“: „Fünf Boxen voller Knochen“ und von Herrn Jeff SCHINKER im „Tageblatt“: „Den Bach runter: Klassische Musik gegen Junkies“ haben mich wieder zum Buch von Herrn Thomas BEDDIES und zum Schreiben dieser Zeilen veranlasst. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der von Frau SCHALAMON, Herrn SCHINKER und Herrn BEDDIES erwähnten Themen würde Luxemburg meiner Meinung nach guttun.
▪ Die Utopie vom perfekten individuellen Körper
Zur NS-Utopie des „Neuen Menschen“ im neuen Reich sagt der Medizinhistoriker Thomas BEDDIES in seinem Buch „Du hast die Pflicht, gesund zu sein“: „Kaum ein anderes gesellschaftliches Handlungsfeld wurde von den Nationalsozialisten so politisiert, ideologisiert und propagandistisch flankiert wie die Gesundheitspolitik sowie die ihr zugrunde liegenden rassen- und körperpolitischen Zielvorstellungen.“ (Seite 21) (…) „Krankheit wurde als schädlich nicht nur für jeden einzelnen, sondern auch für den ‚Volkskörper‘ wahrgenommen und damit als Bedrohung für den Bestand und die Produktivität der Gemeinschaft insgesamt verstanden, die folgerichtig gesellschaftliche Abwehrmaßnahmen erforderlich machte. Körperliche Gesundheit und Leistungsfähigkeit wurden zum Staatsinteresse deklariert, mit der Folge einer Biologisierung des Sozialen und einer ‚gesellschaftlichen Bemächtigung des Körpers‘
(>Buch von Paula DIEHL: „Macht – Mythos – Utopie“).
In letzter Konsequenz führten diese Auffassung und die daraus resultierende Gesundheits- und Sozialpolitik zu einem Konzept der Unschädlichmachung und sogar Vernichtung der vermeintlichen Träger von ‚Erbkrankheiten‘. (…) Diese Vorstellungen trugen in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts entscheidend zum Entstehen eines geistigen Klimas bei, in dem bereits vor 1933 „Rassenhygiene zu einer wissenschaftlichen Orthodoxie in der deutschen Medizinergemeinschaft geworden war“. (Seite 18)
(Schriftenreihe zur Medizin-Geschichte, Band 18. Herausgegeben von Kristina HÜBENER für die Brandenburgische Historische Kommission e.V., 2010)
▪ Fünf Boxen voller Knochen
Von Stella SCHALAMON, „Spiegel“, 08.04.2023
Beerdigung möglicher NS-Opfer in Berlin
16.000 Knochen haben Archäologen nahe der Freien Universität in Berlin-Dahlem ausgegraben. Sie gehören Opfern der Wissenschaft, darunter womöglich auch Ermordete aus Auschwitz. Warum auf ihrem Grabstein kein Name stehen wird.
Mehr als 200 Männer und Frauen sind auf den Waldfriedhof in Berlin-Dahlem gekommen. (…) Vor fast zehn Jahren, am 1. Juli 2014, hoben Bauarbeiter auf dem Gelände der Freien Universität Berlin, 20 Minuten Fußweg vom Friedhof entfernt, mit einem Bagger einen Graben aus. Da rieselten ihnen Knochen entgegen. Viele Knochen, zum Teil winzig klein. Sie stoppten den Bagger und riefen die Polizei. Die Gebeine, insgesamt sieben Säcke voll, stammten von mindestens 15 Menschen, Erwachsene wie Kinder, fanden Gerichtsmediziner heraus. Sie waren stark verwittert, mussten also schon jahrzehntelang in der Erde gelegen haben. (…) Die Knochen wurden eingeäschert und anonym in Ruhleben begraben, Archäologen wurden zunächst nicht eingeschaltet.
Wenige Hundert Meter von der Fundstelle entfernt befand sich bis 1945 das „Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“, hier wurden Rassentheorien entwickelt, die zur Grundlage von Hitlers Vernichtungspolitik wurden. Der Gründer des Instituts, Eugen Fischer, sammelte und untersuchte schon in der Weimarer Zeit Skelettreste aus damaligen deutschen Kolonien. Aber auch Josef Mengele, der berüchtigte KZ-Arzt von Auschwitz, arbeitete als Gastwissenschaftler am Institut und schickte Leichenteile der Menschen, die im Konzentrationslager ermordet wurden, dorthin. Also grub schließlich ein Team Archäologinnen und Archäologen von der Freien Universität noch einmal und siebte die Erde. Sie wussten um die Geschichte des Ortes, die Stimmung sei ernst gewesen, erzählt die leitende Professorin Susan POLLOCK am Telefon. Sie hatten gerade einmal die Hälfte der Baustelle von damals ausgegraben, da fanden sie schon Zähne, Wirbel, zerbrochene Schädelknochen. An manchen hafteten Klebstoffreste, andere waren beschriftet. (…) Ungefähr 16.000 Knochenteile bargen die Forschenden. Ganz tief waren sie vergraben, als habe man verhindern wollen, dass sie eines Tages ans Licht kommen. Für die Wissenschaftler bestand kein Zweifel daran, dass sie aus dem Institut stammten. Die Funde wurden von Erdresten gesäubert, ausgemessen und begutachtet, um abzuschätzen, dass sie zu mindestens 54, womöglich aber sogar zu mehr als hundert Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts gehörten.
Um mehr herauszufinden, hätte man Proben der Knochen pulverisieren müssen. Das aber widerspricht der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz. Menschen jüdischen Glaubens sollen der Halacha zufolge unmittelbar nach dem Tod und mit unversehrtem Körper begraben werden. Die Verbände, darunter der Zentralrat der Juden sowie der Sinti und Roma und der Afrikanischen Gemeinde, entschieden sich gegen weitere Untersuchungen. Die Unbekannten sollten endlich würdevoll bestattet werden. Auch, wenn sie so für immer unbekannt bleiben werden. (…) (Spiegel, 08.04.2023)
MfG
Robert Hottua
Freuds Anhänger treiben seltsame Blüten. Es gibt ja auch Ställe wo Kühe mit Mozart beschallt werden um die Milchproduktion und die Qualität zu steigern. Auch in Kreissälen wird experimentiert um die Wehen der werdenden Mütter zu lindern und,oh Wunder,soll der kommende Spößling auch eine Affinität für Klassik und Genie bekommen.