Tokyo 2020 / Der Appetit kam beim Essen: Ni Xia Lian und ihr Einfluss auf das luxemburgische Tischtennis
Tischtennisspielerin Ni Xia Lian wird in Tokio einen Rekord aufstellen. Noch nie hat eine 58-jährige Tischtennisspielerin an Olympischen Spielen teilgenommen. Dabei war ihre internationale Karriere bereits Mitte der 1980er beendet. Wie Ni Xia Lian durch Zufälle, Professionalität und sehr viel Leidenschaft den Luxemburger Tischtennissport geprägt hat.
Es ist gerade 22.45 Uhr in Tokio, als Ni Xia Lian und ihr Mann und Trainer Tommy Danielsson mit dem Abendessen fertig werden. „Wir konnten erst am Abend trainieren, deshalb wurde es spät. So ist das eben manchmal bei Olympia.“ Es sind die fünften Spiele für Ni, die damit den Luxemburger Rekord von Turner Josy Stoffel einstellt.
Sie bringt nichts so schnell aus der Ruhe, auch wenn das späte Essen die Perfektionistin etwas wurmt. Ohne ihre professionelle Einstellung in sämtlichen Bereichen wäre die 58-Jährige momentan wohl nicht in Tokio. In der Stadt, in der sie vor 38 Jahren ihren wohl größten Erfolg feierte. 1983 wurde sie mit China Team-Weltmeister sowie Weltmeister im Mixed-Doppel.
Nun kehrt sie in die japanische Metropole zurück und wird die älteste Tischtennisspielerin, die je an Olympischen Spielen teilgenommen hat. Internationale Medien haben bereits über die Luxemburgerin berichtet. „Xia Lian ist schon recht bekannt hier in Tokio und es gibt einige Interview-Anfragen“, sagt „Chef de mission“ Heinz Thews. Der Technische Direktor des Nationalen Olympischen Komitees hat maßgeblichen Anteil daran, dass Ni Xia Lian überhaupt nach Luxemburg kam. Er hatte sie schon 1983 in Tokio gesehen und war beeindruckt.
Dem Zufall geschuldet
1989 verließ sie China in Richtung Deutschland. Damals war ihre Karriere in der chinesischen Nationalmannschaft bereits einige Jahre vorbei. Bei Bayer 05 Uerdingen wurde sie aber nicht richtig glücklich. „Es ging dann wie so oft im Sport. Jemand kennt einen, der einen kennt, und so kam der Kontakt zustande“, erklärt Thews, der damals Tischtennis-Nationaltrainer war. Der Weg von Ni Xia Lian nach Luxemburg führte über Zufälle und Kontakte. Der Verein aus Ettelbrück suchte damals eine Nummer eins und da Thews von Kontakten aus Deutschland wusste, dass Ni Xia Lian dort nicht glücklich sei, stellt er den Kontakt her.
Dass Ni irgendwann einmal für Luxemburg spielen sollte, war damals überhaupt kein Thema. Es ging einzig und allein um Ettelbrück. Dass sich dann doch eine zweite internationale Karriere entwickelte, war mehr oder weniger erneut dem Zufall geschuldet. Der luxemburgische Tischtennisverband FLTT organisierte damals gemeinsam mit den Österreichern Lehrgänge für ihre Junioren. „Wir waren immer auf der Suche nach starken Trainingspartnern und da haben wir Xia Lian gefragt“, erinnert sich Thews. Ni hatte Spaß am Lehrgang und irgendwann, als sie zusammensaßen, hat Thews gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, für Luxemburg zu spielen. „Und sie hatte Lust darauf“, erzählt Thews.
Es folgten Siege beim europäischen Top-12-Turnier und andere starke Leistungen auf internationalem Parkett. „Der Appetit ist in gewisser Weise über dem Essen gekommen“, beschreibt FLTT-Generalsekretär Romain Sahr den Beginn von Nis zweiter internationalen Karriere. Die Idee kam aber nicht überall auf Anhieb gut an, erinnert sich Sahr. „Es gab einige Spielerinnen und Eltern, die das kritisch gesehen haben, die Angst um ihren Platz hatten.“ Es seien vor allem Spielerinnen aus der zweiten Reihe gewesen, die eine oder andere hat daraufhin auch einen Schlussstrich gezogen.
Thews’ Doppel-Plan
Für die Verantwortlichen war aber schnell klar, dass Ni eine große Chance für das luxemburgische Tischtennis sein kann. So hatte Thews dann auch die Idee mit der Qualifikation eines Doppels für die Olympischen Spiele 2000 und Sydney. „Wir haben nach einer geeigneten Partnerin für Ni gesucht und die Wahl fiel auf Peggy Regenwetter.“ Thews war sich bewusst, dass der Impakt größer wäre, wenn sich noch eine gebürtige Luxemburgerin gemeinsam mit Ni für Olympia qualifiziert. Der Plan ging auf. Das Duo Ni/Regenwetter fuhr nach Sydney.
„Natürlich war das ein absolutes Highlight“, sagt Nis Doppelpartnerin Peggy Regenwetter. „Ich hätte niemals eine Chance gehabt, mich im Einzel für Olympische Spiele zu qualifizieren, dafür war ich nicht stark genug.“ Dabei war das Verhältnis zwischen Ni und Regenwetter zu Beginn nicht immer einfach. „Ich war damals 29, während Xia Lian schon 37 war. Das waren schon irgendwie zwei unterschiedliche Welten.“ Heute ist es anders. Die ehemaligen Doppelpartnerinnen sind Freundinnen geworden und schreiben sich regelmäßig.
Dabei waren die Spiele in Sydney mit einem großen Schicksalsschlag für Ni verbunden. Die Scheidung von ihrem ersten Mann und ein Sorgerechtsstreit hatten zur Folge, dass sie die Olympischen Spiele von 2004 verpasste. Das ist wohl auch ein Grund dafür, wieso Ni heute so großen Wert auf Familie legt. „Wenn es meiner Familie gut geht, dann fühle ich mich wohl und kann meine Leistung abrufen. Die Familie ist das Wichtigste im Leben.“ Nach der Scheidung zog nicht nur Nis Mutter nach Luxemburg, wo die 95-Jährige heute noch lebt, sondern mit ihrem Trainer Tommy Danielsson hat Ni zudem einen Lebenspartner gefunden, der sie zu 100 Prozent unterstützt.
Disziplin und Professionalität sind Eigenschaften, die Weggefährten immer wieder bei Ni Xia Lian hervorheben. Zu Hause in Ettelbrück hat sie sich im Keller einen Trainingssaal eingerichtet. Ni will sich auch mit 58 noch tagtäglich verbessern. „Mir hat heute die nötige Erfahrung gefehlt, ich muss immer noch dazulernen“, sagte sie 2019 nach einem verlorenen Spiel.
Es ist diese Einstellung, die Ni auszeichnet. „Sie hat uns beigebracht, dass wir nicht immer nur auf die kleinen Nationen schauen sollen. Sie hat unsere Mentalität komplett verändert“, so Regenwetter. Für Thews ist es auch klar, dass so eine Ausnahmespielerin wie Ni eine oder gar mehrere Generationen prägen kann. „Ohne sie würden wir niemals in der höchsten Division spielen. Dadurch haben die anderen Spielerinnen die Möglichkeit, sich mit stärkeren Gegnerinnen zu messen, was automatisch das Niveau anhebt.“
Jährliche Zurückhaltung
Somit profitiert auch eine Sarah De Nutte, die sich als erste gebürtige Luxemburgerin für den olympischen Einzelwettbewerb qualifiziert hat, von Ni Xia Lian. „Ich gebe meine Erfahrungen gerne an junge Spielerinnen weiter und spiele deshalb auch gerne in der Nationalmannschaft. Aber ich will keinem einen Platz wegnehmen.“ Eine Zurückhaltung, die man jährlich bei den Landesmeisterschaften sehen kann. „Xia Lian wird manchmal vorgeworfen, dass sie nicht an den Landesmeisterschaften teilnimmt. Einige halten das für respektlos. Aber ob es für das Luxemburger Tischtennis von Vorteil wäre, wenn 30 Jahre lang die gleiche Spielerin den Titel holt, sei dahingestellt“, sagt Romain Sahr.
Nis Weg in den Sport war dabei nicht gerade vorgezeichnet. In der Schule wollten einige Lehrer, dass sie eine Gesangskarriere einschlägt. Dass sie dennoch wieder in den Tischtennis wechseln durfte, war zu der Zeit in China nicht selbstverständlich. Aber was hätte Ni Xia Lian gemacht, wenn sie ihre sportliche Karriere nicht bis ins Rentenalter laufen würde? „Als Trainerin könnte ich sie mir nicht unbedingt vorstellen“, meint Sahr. „Xia Lian ist sehr streng mit sich selbst. Ich weiß nicht, ob sie damit umgehen könnte, wenn einige Spieler schon nach zwei Stunden Training genug hätten“, fügt der FLTT-Funktionär lachend hinzu.
Nein, Trainerin wäre sie wohl nicht geworden. „Als Kind wollte ich immer Ärztin werden, weil ich den Menschen gerne helfe. Oder Wissenschaftlerin, weil ich sehr neugierig bin“, so die 58-Jährige, die noch nicht an ein Karriereende denkt. Sie hat bereits die Sportförderung beim COSL für Olympia 2024 in Paris beantragt. Dann wäre Ni 61 Jahre alt. Der Appetit ist ihr jedenfalls noch nicht vergangen.
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