/ Die Brexit-Saga könnte sich noch über Jahre hinziehen – Wie geht es weiter?
Was die 27 EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag in den späten Abendstunden entschieden haben, könnte dazu führen, dass sich die Brexit-Saga noch um Monate, wenn nicht Jahre hinzieht. Der EU-Gipfel schuf weitere Unklarheiten, auch wenn der britischen Premierministerin Theresa May eine Fristverlängerung für den Brexit verschafft wurde.
Von unserem Redakteur Guy Kemp, Brüssel
Lesen Sie zum Thema auch unseren Kommentar „Spielt May Britisch Roulette?“
„Alle Optionen bleiben offen“, sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk in der Nacht zum Freitag. Er freute sich gestern Nachmittag noch darüber, was die 27 tags zuvor entschieden hatten. Einen Deal, eine lange Verlängerung oder, wenn es die britische Regierung wolle, einen Rückzug von Artikel 50, also kein Brexit. „Alles ist möglich“, sagte der Pole mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Das Schicksal des Brexit liege nun in den Händen der britischen Freunde.
Wie geht es nun weiter? Eine erste Entscheidung wird kommende Woche erwartet. Der Europäische Rat ist bereit, die Austrittsfrist bis zum 22. Mai zu verlängern, unter der Voraussetzung, „dass das Austrittsabkommen in der nächsten Woche vom Unterhaus gebilligt wird“, wie es in der Schlusserklärung des Gipfeltreffens heißt. Wird das Abkommen also angenommen, wird der britischen Regierung die Zeit bis zum 22. Mai zugestanden, um die notwendigen Gesetze auf den Weg zu bringen, die zum endgültigen Brexit führen.
Sollte May die Abstimmung gewinnen
Den 27 geht es darum, zu verhindern, dass durch den Brexit-Prozess die Europawahlen, die vom 23. bis 26. Mai stattfinden werden, in irgendeiner Weise infrage gestellt werden könnten.
Mit den Gipfelentscheidungen müsste eine neuerliche Abstimmung im britischen Unterhaus möglich sein. Der Sprecher des britischen Parlaments, John Bercow, hatte zu Beginn der Woche erklärt, dass das Unterhaus kein zweites Mal über die gleiche Vorlage zum Brexit abstimmen dürfe, wenn keine wesentlichen Änderungen vorgenommen wurden. Die 27 billigten daher eine Erklärung zum sogenannten Backstop, die vergangene Woche zwischen EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Theresa May in Straßburg vereinbart wurde und nun Teil des Gesamtdeals ist.
Nur liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Theresa May kommende Woche die gewünschte Zustimmung erhält, EU-Diplomaten zufolge bei 50:50. Labourchef Jeremy Corbyn, der am Donnerstag an einem Treffen der europäischen Sozialdemokraten in Brüssel teilgenommen hatte, ging nicht davon aus, dass May die erforderliche Mehrheit erhält, wie uns Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn berichtete, der ebenfalls am Treffen teilnahm.
Entgegenkommen gegenüber May
Deshalb ließen sich die 27 gegenüber der britischen Premierministerin auf ein weiteres Entgegenkommen ein. Wird das Brexit-Abkommen kommende Woche abgelehnt, gilt eine weitere Fristverlängerung, allerdings nur bis zum 12. April. „Dann sind wir ganz nah an einem No-Deal“, kommentierte gestern Xavier Bettel. Diese Option aber wollen alle vermeiden. Selbst das britische Unterhaus hat sich mehrheitlich gegen einen No-Deal-Brexit ausgesprochen. Ausgeschlossen ist er allerdings nicht.
Um diesen abzuwenden, hat Großbritannien dann noch die Möglichkeit, dem Europäischen Rat „Angaben zum weiteren Vorgehen“ vorzulegen, die dieser dann prüft, wie es weiter in der Gipfelschlusserklärung heißt. Das muss allerdings vor dem 12. April geschehen. Ab diesem Moment wiederum ist alles offen. Allerdings bedeutet das auch, dass Großbritannien dann an den Europawahlen teilnehmen muss. Denn der 12. April ist der vom Gesetz her letzte Termin, an dem das Vereinigte Königreich den Prozess zur Abhaltung der Europawahlen einleiten kann.
Alle Optionen offen
Voraussichtlich kommen die EU-Staats- und Regierungschefs in diesem Fall vor dem 12. April zu einem Sondergipfel zusammen, um über die neuen Vorschläge aus London zu beraten, wie aus Diplomatenkreisen zu erfahren war. Wie diese Vorschläge aussehen werden, darüber kann nun wieder spekuliert werden. Theresa May meinte jedoch, dass sie „Artikel 50 nicht zurückziehen“ werde. Bleiben die 27 ihrer bisherigen Linie treu, muss London einen klaren Plan darüber vorlegen, wie der Brexit zu einem Abschluss gebracht werden kann. Festgelegt werden muss dann ebenfalls ein neues Austrittsdatum.
Möglicherweise könnte Theresa May zu dem Zeitpunkt jedoch nicht mehr im Amt sein, wenn sie kommende Woche mit ihrem dritten Anlauf scheitern sollte, das mit Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen durchs Unterhaus zu bringen. Es könnte zu Neuwahlen kommen, aus der eine von Labour geführte Regierung hervorgeht, die ein zweites Referendum ansetzen könnte – oder eine, trotz Brexit, engere Anbindung an die EU befürwortet, mit einer Zollunion und Beteiligung am Binnenmarkt.
Das lehnen die Hardliner unter den Brexiteers jedoch strikt ab. Um ein solches Szenario zu verhindern, könnten sie den Überlegungen eines Jacob Rees-Mogg folgen, einem der führenden Brexit-Befürworter der konservativen Tories. Dieser hatte jüngst festgestellt, dass kein Deal zwar besser sei als ein schlechter Deal, ein schlechter Deal jedoch einem No-Brexit vorzuziehen sei. Darauf hoffen viele in Brüssel und geben sich der Hoffnung hin, dass Theresa May die Abstimmung kommende Woche doch noch für sich entscheiden kann.
Weitere Gipfelthemen
Klimapolitik
Der französische Staatschef Emmanuel Macron fordert, die EU solle mehr für die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens tun. Er konnte sich beim Gipfeltreffen in Brüssel allerdings nicht durchsetzen. Neben Deutschland sträubte sich auch Polen gegen den Vorschlag, die EU schon bis 2050 „klimaneutral“ zu machen.
Ein ursprünglich geplanter Beschluss zur Klimapolitik wurde auf den nächsten EU-Gipfel im Juni vertagt. In der Gipfelerklärung bekennt sich die EU lediglich zum Pariser Klimaabkommen von 2015. Die Umsetzung des Abkommens berge erhebliches Wachstumspotenzial. Außerdem nimmt sich die Union vor, die Langfriststrategie 2020 fertigzustellen. Eric Bonse
China
Kürzer als geplant fiel die Debatte über China aus. Die EU-Kommission hatte das Reich der Mitte in einer Vorlage für den Gipfel als „strategischen Rivalen“ bezeichnet. Auf dem Treffen wurde die Tonart weiter verschärft. „Wir sind Partner und Wettbewerber – nicht nur ökonomisch“, sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Man habe auch sehr unterschiedliche politische Systeme und dürfe nicht naiv mit Peking umgehen. Die EU will in den Wirtschaftsbeziehungen mit China künftig stärker auf „Reziprozität“ achten, also auf Gegenseitigkeit und fairen Marktzugang. Beschlüsse hat der Gipfel jedoch nicht gefasst. Im Vorfeld war Kritik an Italien laut geworden, das sich der chinesischen Seidenstraßen-Initiative anschließen will. „Ich habe Italien nicht zu kritisieren“, sagte Merkel auf Nachfrage. ebo
Industriepolitik
Deutschland und Frankreich versuchten, China auf Umwegen Grenzen aufzuzeigen: über das europäische Wettbewerbsrecht und die Industriepolitik. Ein deutsch-französischer Vorstoß fand jedoch kaum Unterstützung. Stattdessen wurde die EU-Kommission aufgefordert, bis Ende 2019 eine industriepolitische Strategie vorzulegen. Damit wurde auch dieser Streit vertagt. ebo
Handel
Das gilt auch für das weitere Vorgehen im Handelskrieg mit den USA. Die EU sprach sich für die „schnelle Umsetzung“ einer Vereinbarung mit US-Präsident Donald Trump vom Sommer 2018 aus. Doch die Verhandlungen über ein neues Industriezollabkommen werden von Frankreich blockiert. Macron möchte vor der Europawahl nicht den Eindruck erwecken, die EU knicke vor Trump ein. ebo
Desinformation
Ebenfalls mit Blick auf die Wahl im Mai wollen die EU-Staaten an soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter appellieren, stärker gegen „Fake news“ und gezielte Falschinformation vorzugehen. Wenn sie das nicht freiwillig tun, könnten sie künftig gesetzlich dazu gezwungen werden. Die Europawahl gilt als Testlauf; eine Bilanz will die EU beim nächsten Gipfel im Juni ziehen. ebo
Brexit geht in die nächste Runde – Spielt May Britisch Roulette?
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