/ Der den Brexit zur Ordnung rief – John Bercow tritt als Unterhaus-Sprecher zurück
Wie es bei guten Serien üblich ist, tritt gegen Ende der letzten Staffel eine der Lieblingsfiguren noch einmal unter den emotionalen Scheinwerfer. So ist es auch bei der Brexit-Saga, die jetzt, nach mehr als drei Jahren voller Intrigen, Wendungen und vermeintlicher Showdowns, auf ihr großes Finale zusteuert.
Ein Finale, das aus einer letzten Verlängerung besteht, um es Boris Johnson zu ermöglichen, erneut und gestärkt den eisernen Thron zu besteigen beziehungsweise britischer Premier zu werden. Ein „Game of Brexit“-Finale, das nun ohne eine seiner Hauptfiguren auskommen muss: Am heutigen Donnerstag tritt John Bercow ab. Es wird der letzte Auftritt des berühmt-berüchtigten Unterhaus-Sprechers sein, der besonders mit seinen langgezogenen „Order“-Rufen zu weltweiter Berühmtheit gelangte.
Wandelbar und redegewandt wurde der Sprecher des Unterhauses ebenso zu einem Sympathieträger wie zu einer Hassfigur im ganzen Brexit-Drama. Als „Marmite“-Figur bezeichnete sich Bercow zuletzt selber. Marmite ist ein britischer Brotaufstrich, der die Gesellschaft ähnlich spaltet wie der Brexit. „Love it or hate it“ wurde gar zum Werbespruch der Firma. Bercow weiß, dass es um ihn ähnlich bestellt ist. „Manche sind sehr zufrieden mit mir, andere überhaupt nicht“, sagte er kürzlich gegenüber dem Spiegel. Ihm sei das herzlich egal.
John Bercow, Sohn von aus Rumänien stammenden jüdischen Eltern, wurde 1963 in Edgware, Middlesex, geboren. Als Jugendlicher galt er als bester britischer Tennisspieler, wurde aber mit nicht einmal 1,70 Metern als zu klein für eine Profikarriere angesehen. John Bercows Ehrgeiz suchte sich seinen Weg, führte ihn früh in die Politik, wo er zu Studienzeiten noch am ganz rechten Rand der britischen Konservativen stand und als Mitglied des „Conservative Monday Club“ gegen Migranten wetterte. Später wird Bercow das einen „kompletten Wahnsinn“ nennen, seine damaligen Ansichten als „saudumm“ bezeichnen.
Nach dem Studium arbeitete Bercow als Banker, dann als Regierungsberater. Seine politische Karriere innerhalb der konservativen Tories, denen er mit Anfang 20 beigetreten war, verlief zügig. Nach zwei misslungenen Versuchen wurde er 1997 erstmals ins Unterhaus gewählt. Auch dank seiner Wortgewalt rückte Bercow schnell vom Backbencher zum Frontbencher bei den Tories vor. Das bedeutet mehr Redezeit, mehr Sichtbarkeit, eine größere Bekanntheit. 2001 wurde Bercow in das damalige Tory-Schattenkabinett berufen.
Vom Konservativen zum Liebling der Linken
Doch Bercow wandelte sich, seine Partei tat dies nicht, erste Risse wurden deutlich. Im Jahr 2002 heiratete Bercow seine Frau Sally Illman. Eine Labour-Anhängerin einerseits. Und andererseits eine Person, die es offenbar versteht, mit Medien umzugehen. Über Fernsehauftritte gelangte Sally Illman zu einer gewissen Prominenz in der britischen Boulevardpresse. Das strahlte auf ihren Gatten ab, machte Bercow abseits der Politik bekannter.
Bercows Wandel vom Konservativen zum Sozialliberalen beschleunigte sich in dieser Zeit. Vor allem sein Einsatz für die Rechte Homosexueller ließ ihn vielen Tories als verdächtig erscheinen, als zu links. So sehr, dass irgendwann das Gerücht umging, Bercow könnte zu Labour wechseln.
So weit kam es nicht. Bis zu seiner Wahl zum „Mr Speaker“ 2009 blieb Bercow in der Partei (als Sprecher gilt dann die Pflicht zur Unabhängigkeit). Seine Entfremdung von den Tories schritt trotzdem voran. Mittlerweile, nach fast zehn Jahren im Amt des Sprechers und nach mehr als drei Jahren Brexit-Drama, ist Bercow endgültig vom konservativen Hoffnungsträger zum Liebling der Linken geworden.
Bereits bei seinem Antritt als Sprecher hatte Bercow für Aufsehen gesorgt. Die Rosshaarperücke war zwar damals schon eingemottet, der zu der Zeit 46-Jährige räumte jedoch alsbald mit dem restlichen Empire-Blingbling wie Halskrause, Schnallenschuhen und Seidenstrümpfen auf. Nur noch ein Talar sollte die Würde des Amtes ausdrücken. Eine Würde, so mancher Modekritiker, die von Bercows bunten Krawatten in den Folgejahren wieder stilistisch untergraben worden sei.
Am heutigen Donnerstag werden Bercows letzte „Ooorrrdeeer“-Rufe durch Westminster hallen. Doch es waren nicht nur diese Appelle zur Ordnung, die vielen in Erinnerung bleiben werden. In guter wie in schlechter. Bercow war oft spitzzüngig, manchmal nahe an der Beleidigung, wenn er Abgeordnete maßregelte. Wer im Unterhaus als „Honorable Member“ vom Sprecher gesagt bekommt, „versuchen Sie es mit Yoga, das wird Ihnen guttun“, dürfte das nicht goutiert haben. Auch Zurechtweisungen wie „Beruhigen Sie sich, Sie mögen ein freches Kerlchen sein, aber auch ein unglaublich lautes“ oder „Benehmen Sie sich, seien Sie ein braver Junge!“, werden nicht bei allen in guter Erinnerung bleiben. Hinzu kommt, dass Bercow seit Jahren Vorwürfe begleiten, sich herablassend gegenüber seinen Mitarbeitern, besonders den weiblichen, verhalten zu haben. Bercow sagt, wenn das so war, tue ihm das leid.
Während der Brexit-Verhandlungen ist Bercow im Unterhaus zu Höchstform aufgelaufen (wie es viele Remainer sehen) oder weit über die eigene Rolle hinausgeschossen (wie es viele Brexiteers sehen). Was keiner abstreitet, ist die Hauptrolle, die der mittlerweile 56-Jährige in diesem mehrjährigen Drama eingenommen hat. Bercow hat die Rolle des Speakers nicht nur optisch, sondern vor allem inhaltlich neu interpretiert.
Tories verzweifeln an Bercows Trickkiste
Bercow schmiss den Brexiteers von Theresa May bis Boris Johnson mehrmals einen Stock zwischen die Beine. Er stärkte die Rolle der Hinterbänkler und der kleineren Parteien. Er kramte auch mal ein Gesetz aus dem Jahr 1604 hervor, um den Brexit zu blockieren. Was Mays Konservative nahe ans Verzweifeln brachte und ihre Gegner jubilieren ließ.
Insgesamt schränkte Bercow die Macht der Regierung ein und erweiterte den Handlungsspielraum des Parlaments. Kultfigur für die einen, von den anderen der Parteilichkeit und Arroganz beschuldigt. Bercow hat, wie Marmite, die Briten gespaltet. Und damit wohl dazu beigetragen, dass das Parlament immer so entschieden hat, wie es die Briten empfunden haben. Mit einem Ja zu einem Brexit. Aber unentschlossen, welcher EU-Austritt es denn nun sein soll.
Einen letzten Haken teilte Bercow auch jetzt noch aus. Sein Rücktritt ist ein verfrühter. Absichtlich verfrüht, damit das alte Parlament noch den neuen Sprecher wählen kann. Und nicht jenes neue Unterhaus über den Speaker entscheidet, das nach der Wahl am 12. Dezember möglicherweise von Johnsons Tories dominiert sein wird.
Mit dem streitbaren John Simon Bercow tritt jetzt der Speaker ab, der wie kein anderer seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges viermal wiedergewählt wurde. Bercow selber freut sich derweil darüber, dass die Todesstrafe abgeschafft ist. Von seinen 156 Vorgängern wurden sieben enthauptet. „Was immer auch passiert“, sagte er dieses Jahr in einem Interview, „ich werde wohl nicht meinen Kopf verlieren.“ Ob die Briten ihren in dem ganzen Brexit-Tumult behalten werden, steht auf einem anderen Blatt. Keep Calm and Carry On? Sicher angebracht. Aber auch: Order!
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Diesen temperamentvollen Unterhaus-Sprecher John Bercow, ein Rhetoriker und Unterhaltungskünstler von Format, wird man vermissen. Der brachte “ Schwung in die Bude „. Eine andere, nicht so einschläfernde, Atmosphäre wie bei uns, auf dem Krautmarkt, wo höchstens die Glocke des Präsidenten einzelne erhitzte Gemüter gelegentlich zur Ordnung ruft.
Eine charismatische Persönlichkeit !