Ein Gespräch über Leid und Optimismus / Der Direktor des ukrainischen Roten Kreuzes zu Besuch in Luxemburg
Maksym Dotsenko, Direktor des ukrainischen Roten Kreuzes, hat viel zu tun. Sein Land wird seit Monaten von Russland brutal angegriffen. Doch der 39-Jährige hat seinen Optimismus nicht verloren. „Sonst ist es unmöglich, zu arbeiten“, sagt er, während er von der harten Wirklichkeit in der Ukraine erzählt.
Als der Anruf im August kommt, fällt Maksym Dotsenko ein Stein vom Herz. Die Frau, die der 39-jährige Ukrainer im Frühling nicht retten konnte, lebt. Ihre Nichte hatte dem Direktor des ukrainischen Roten Kreuzes Bescheid gesagt. Er selbst hatte sich nicht getraut, nachzufragen. Maksym Dotsenko und sein Team wurden während der russischen Besatzung von Städten wie Mariupol, Butscha, Irpin oder eben Borodjanka täglich von hunderten Anrufern und ihren verzweifelten Bitten um Hilfe bei der Evakuierung ihrer Liebsten überschwemmt. Wochenlang ging das so.
Eine Frau hat sich dem Rotkreuzler besonders eingebrannt, er wird sie sein Leben lang nicht vergessen können. Anderthalb Monate lang rief sie ihn an, jeden Tag zur gleichen Uhrzeit, mit immer derselben flehentlichen Bitte: Holt meine Tante aus Borodjanka raus, hier ist die Adresse, geht da hin! Seine Teams schafften es nicht. Bis zu 300 Meter kamen sie an die Tante heran, dann war Schluss. Sie konnten ihre Straße sehen, aber die Russen ließen sie nicht durch. 300 Meter, die über Leben oder Tod entscheiden können.
Auf Benelux-Tour
Die Frau selber hatte sich mit Nachbarn in ihrem Keller verschanzt, kommunizieren konnten sie nicht, trauten sich nicht raus, mussten ausharren. Am Ende hatten sie Glück, die Ukrainer hatten die Russen zurückgedrängt, Borodjanka und damit auch die Tante befreit. „Dass ich, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer, dass die Welt so etwas erleben muss im 21. Jahrhundert, das ist doch verrückt“, sagt Maksym Dotsenko nun am frühen Samstagmorgen in einer Hotellobby in Esch-Belval dem Tageblatt. Der Mann, der trotz Vollbart jünger ausschaut als 39, Vater einer zwölfjährigen Tochter, wirkt erschöpft an diesem Morgen. Wie soll es auch anders sein, nach 234 Tagen Krieg? 234 Tage voller Zerstörung, Leid und Trauer.
Maksym Dotsenko befindet sich gerade auf einer kleinen Benelux-Tour für das ukrainische Rote Kreuz. EU-Kommission treffen in Brüssel, mit dem Ministerium für Entwicklungszusammenarbeit reden in Luxemburg und dann weiter in die Niederlande. Zwischendurch Konferenzen und Treffen mit jenen 15 nationalen Rot-Kreuz-Sektionen, die der ukrainischen besonders helfen, darunter auch die luxemburgische.
Die Ukraine braucht Unterstützung, also muss Maksym Dotsenko die Arbeit der ukrainischen Rot-Kreuz-Sektion vorstellen, erzählen, was sie geleistet haben und was ihre Pläne sind. Es geht besonders um den Wiederaufbau der zivilen Infrastruktur. Um die staatliche Gesundheitsversorgung zu entlasten, stellen sie mobile Gesundheitszentren auf, reparieren zerbombte Schulen. Daneben verteilen sie Zigtausende Tonnen Nahrungsmittel und Hygieneartikel an die zehn Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die in ihrem Land vertrieben wurden und vor dem Nichts stehen. Sie organisieren Erste-Hilfe-Kurse, die mit dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar auf einen Schlag eine ganz andere Bedeutung bekommen haben. Das alles kostet viel Geld, und jetzt kommt der Winter. Das ukrainische Rote Kreuz rechnet damit, dass es 250 Millionen Euro bis zum kommenden Frühling brauchen wird, 600 Millionen Euro bis Ende 2024.
Wenn es minus zehn oder minus 15 Grad sind und du nicht heizen kannst, weil alles kaputt ist, ändert das deine Situation, dann musst du weg
Vor allem werden auch private Unterkünfte gebraucht. Das ist der Bereich, in dem sich Luxemburg besonders engagiert. „Luxemburg ist unser einziger nationaler Partner, wenn es darum geht, den Menschen wieder eine Unterkunft zu bieten“, sagt Maksym Dotsenko. Alles werde zusammen beraten und entwickelt. Zur Seite steht ihm dabei besonders Myriam Jacoby. Die 41-Jährige aus Redingen, die in Arlon lebt, kümmert sich seit 2012 für das luxemburgische Rote Kreuz um die Zusammenarbeit mit der Ukraine.
Bald wird Maksym Dotsenko wieder in der Ukraine sein. Selbstverständlich bleibe er optimistisch, sagt er und lächelt dabei, anders seien die Herausforderungen nicht zu stemmen, „sonst ist es unmöglich, zu arbeiten“. Doch der nahende Winter, der Schnee und die Kälte bereiten ihm große Sorgen. Am vergangenen Montag ließ Russland Raketen, Marschflugkörper und „Kamikaze“-Drohnen auf die Ukraine regnen. In wenigen Stunden wurden rund 30 Prozent der Strominfrastruktur beschädigt oder zerstört.
„Das ist eine neue Situation“, sagt der Direktor des ukrainischen Roten Kreuzes, man könne sich nirgends in der Ukraine mehr richtig sicher fühlen. Sein Team und er müssten sich jetzt auf eine noch intensivere Arbeit einstellen. Maksym Dotsenko befürchtet vor allem eine neue Flüchtlingswelle, in der Ukraine selber, aber auch aus dem Land hinaus: „Wenn es minus zehn oder minus 15 Grad sind und du nicht heizen kannst, weil alles kaputt ist, ändert das deine Situation, dann musst du weg – und diese Situation gilt seit den letzten Angriffen für die ganze Ukraine, nicht nur für die Kontaktlinie.“
Wie wohl die allermeisten Menschen in der Ukraine ist auch Maksym Dotsenko gezeichnet von Putins Krieg. „Ich hätte nie gedacht, dass ich all das sehen müsste, was ich die vergangenen Monate gesehen habe, nicht einmal zwei Tage vor Kriegsbeginn hätte ich das gedacht“, sagt er. 21 Büros des ukrainischen Roten Kreuzes wurden seit Kriegsbeginn beschossen und zerbombt. Respekt vor dem Roten Kreuz, vor diesem Emblem, sehe er keinen mehr. „Das ist leider gewöhnlich geworden, dass das Rote Kreuz zum Ziel der Russen wurde.“
Die Hoffnung bleibt
Das Einzige, was Hoffnung für die Zukunft mache, sei zu sehen, wie sich das eigene Land diesem Gemetzel entgegenstemme und wie sehr die Welt die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrem Freiheitskampf unterstütze. Das mache ihn stolz auf seine Nation, sagt der 39-Jährige. Und immerhin könne er als Rotkreuzler weiter arbeiten und helfen, viele, viele andere haben ihren Job verloren. Der Krieg ist auch ein ökonomischer, die Wirtschaft der Ukraine ist zu großen Teilen in Schutt und Asche gelegt. Dazu kommen die drohenden Hungersnöte in der Welt, die Energiekrise. Maksym Dotsenko benutzt jetzt wieder das Wort, das ihm während des Gesprächs so oft über die Lippen kommt: „crazy“, alles sei so verrückt, „so viele Menschen leiden, so viele Leben sind zerbrochen“. So etwas wie dieser Krieg hätte nicht passieren dürfen, er hoffe, dass die Welt die richtigen Lektionen daraus zieht. „So etwas darf sich nicht wiederholen.“
Maksym Dotsenko freut sich, nach der Etappe in den Niederlanden zurück in die Ukraine zu können, zurück dorthin, wo er als Rotkreuzler am meisten gebraucht wird, zurück vor allem zu seiner Familie, zu seiner Frau und seiner Tochter. Sie seien die ganze Zeit über in der Ukraine geblieben, die Familie habe das noch stärker gemacht. Hat der Krieg seine Tochter verändert, wie geht sie damit um? „Sie ist ein normales Kind geblieben“, sagt Maksym Dotsenko, sie sei unabhängiger, selbstständiger geworden. In wenigen Monaten sei sie um Jahre gereift. „Irgendwie wirkt sie jetzt wie 15, nicht mehr wie zwölf.“ All die verschiedenen Waffen und Geschosse erkenne sie jetzt an ihren Geräuschen, sagt Maksym Dotsenko. Und wieder rutscht es ihm raus: „Dass so etwas im 21. Jahrhundert passiert, mitten in Europa, das ist doch verrückt.“
Ein unvollständiger Überblick über die Arbeiten des ukrainischen Roten Kreuzes
Hilfe verteilen an bis zu zehn Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer.
Aufbau mobiler Gesundheitsstationen, um Druck vom staatlichen Gesundheitssystem zu nehmen, 50 sind es bislang, 100 werden gebraucht.
Bislang wurden drei Millionen Nahrungsmittel-Boxen und zwei Millionen Hygiene-Kits verteilt.
Neben 500 festen Mitarbeitern engagieren sich 8.000 Freiwillige beim ukrainischen Roten Kreuz.
Aufbau von vorübergehenden oder festen Unterkünften für die zehn Millionen Binnenvertriebenen. Das ist der Bereich, in dem sich Luxemburg besonders engagiert.
Hilfe beim Wiederaufbau der zerstörten Energie-Infrastruktur.
Hilfe dabei, Häuser und Wohnungen winterfest zu machen, unter anderem durch Verteilung von Generatoren und Dämmmaterial.
Erste-Hilfe-Kurse, die von 100.000 Ukrainerinnen und Ukrainern besucht wurden und an denen eine Million online teilnahm. Mentale und psychologische Hilfe anbieten.
Das Rote Kreuz und die Kriegsgefangenen
Das Rote Kreuz bemüht sich nach eigenen Angaben seit Monaten vergeblich, mehr Kriegsgefangene in der Ukraine zu besuchen. Nach Kritik aus der Ukraine, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) kümmere sich nicht genug um ukrainische Soldaten in russischer Gefangenschaft, sagte IKRK-Sprecher Ewan Watson am Freitag in Genf: „Wir teilen die Frustration.“ Mitarbeiter könnten Gefangene aber nur besuchen, wenn die Kriegsparteien zustimmten. Dazu seien sie nach internationalem Recht verpflichtet. Die Sicherheit der IKRK-Mitarbeiter müsse garantiert werden.
Diese Besuche zählen nicht zum Mandat, das das ukrainische Rote Kreuz hat, sondern sind Angelegenheit des IKRK. „Wir arbeiten nur auf dem Gebiet der Ukraine, das von der ukrainischen Regierung kontrolliert wird“, erklärt der Direktor des ukrainischen Roten Kreuzes, Maksym Dotsenko, dem Tageblatt. Dass seine Kollegen vom IKRK keinen oder kaum Zugang bekommen, beschreibt Dotsenko als „Katastrophe für alle Gefangenen und alle betroffenen Familien und Freunde“.
- Die Welt spielt weiter Risiko - 31. Dezember 2024.
- Erstes Jahr, alter Luc: Junckers Zensur für Friedens Politik sollte aufhorchen lassen - 24. Dezember 2024.
- Würdelos vor der Geschichte: Nach Assads Fall ruft Europa seinen Basar der Gehässigkeiten aus - 16. Dezember 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos