Bildung / Der etwas andere Schulstart: Am Lycée Ermesinde sind Handys nicht mehr erlaubt
Jeder kennt das: Ob auf einer Bank, im Zug oder Bus, die Menschen – jung wie alt – sitzen, stehen oder gehen und starren auf ihr Handy. Was als basisdemokratische Idee der Bildung für alle entstanden ist, der Zugang zum weltweiten Web mit x Informationen, hat sich längst verselbstständigt. Das „Lycée Ermesinde“ ist deshalb einen radikalen Schritt gegangen und verbietet Schülern wie Personal die Handynutzung auf dem Schulcampus.
Der Schritt ist radikal und ein Alleingang. Er passt aber ins pädagogische Konzept der Schule, das auf Mitbestimmung und kritisches Denken der Schüler setzt. Ähnlich der Entscheidung, was täglich nach dem Unterricht auf den Teller kommt, gibt es auch ein schulinternes Gremium, das sich mit den Vor- und Nachteilen der Digitalisierung befasst. „Seelite“ heißt es, das Pendant fürs Essen ist „Seefood“.
Dort haben Schüler, Erwachsene und Vertreter der Schulleitung Anfang Juli die Entscheidung gefällt, Schülern der Klassenzyklen 5, 6 und 7 die Nutzung ihrer Handys und privaten Laptops zu untersagen. Das Gleiche gilt für die Lehrerschaft. Das Handy muss morgens abgegeben werden und wird vor dem Nachhauseweg wieder abgeholt. Die Abgabepflicht betrifft rund 400 der insgesamt 700 Schüler an der Schule.
„Ein Handy ist kein Arbeitsgerät“, bestätigt Tammy Muller, seit November 2022 Vizedirektorin der Schule, die Auffassung. „Aber das wird, je nach vorher besuchter Grundschule, eine Herausforderung.“ In die Steinzeit wolle man damit nicht zurück, begegnet sie – noch bevor es ausgesprochen ist – dem in diesen Fällen gängigen Gegenargument. Es geht um eine sinnvolle Nutzung, worüber bei „Seelite“ regelmäßig nachgedacht wird.
Argumente gegen Handyverbot
Aber es gibt Argumente dagegen. „Für den Erfolg einer generellen Verbotspolitik von Mobiltelefonen gibt es aus medienpsychologischer Sicht keinerlei Belege“, sagt André Melzer, Assistenzprofessor an der „Faculty of Humanities, Social and Educational Sciences“ der Uni.lu. Er hat gerade einen Kongress zu Medienpsychologie in Belval ausgerichtet und gibt zu bedenken, dass ein Verbot das Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs mit Medien verhindern und ein „jetzt erst recht“ fördern könnte.
Außerdem führt Melzer an, dass vor allem jüngere Menschen mit der Nutzung von Snapchat, TikTok und Co. ihren Wunsch nach Teilhabe und zwischenmenschlichem Austausch erfüllen – zumal sie Wissenswertes und für Kinder und für Jugendliche Bedeutsames wie Mode, Kochen, Selber machen und Wissen für Lerninhalte in der Schule beinhalten. Statt eines Verbots komme es viel mehr darauf an, Kanäle wie diese richtig zu nutzen und Medienkompetenz aufzubauen.
„Kinder und Jugendliche müssen eben auch lernen, den durch Algorithmen erzeugten, verlockenden Angeboten bewegter Bilder und Clips zu widerstehen“, sagt der Psychologe. Das war wohl in den Augen der Ermesinde-Pädagogen zunehmend schwieriger geworden. Der formelle und informelle Austausch und die Kooperation zwischen den Schülern, aber auch unter den Mitarbeitern, liefen Gefahr, durch „neue“ Gewohnheiten, die im Zusammenhang mit der Nutzung von Mobiltelefonen beobachtet wurden, beeinträchtigt zu werden, schreibt die Schule auf ihrer Webseite.
Schule will das „soziale und intellektuelle Potenzial“ schützen
„Wir sehen uns in der Verantwortung, das soziale und intellektuelle Potenzial unserer Schule zu schützen“, heißt es in der Mitteilung weiter. Die Schule argumentiert unter anderem damit, dass „die bloße Zugänglichkeit des Smartphones die Aufmerksamkeit und Konzentration stark reduziert“. Dass es auch außerhalb der häuslichen Intimsphäre Regeln für die Mediennutzung gibt, wurde von den Eltern begrüßt. „Viele haben sich bedankt“, sagt Direktions-Vize Tammy Muller.
Ausnahmen bestätigen die Regel: In der Oberstufe müssen die Geräte zwar nicht abgegeben werden, aber sie sollen nicht benutzt werden. „Da setzen wir qua Alter eine gewisse Autoregulierung voraus“, sagt Muller. Auch für Neuankömmlinge in der Schule aus anderen Ländern gelten Ausnahmen. „Die Übersetzungsprogramme helfen immens in der ersten Zeit“, sagt Muller. Ein Aspekt, der vielleicht die Entscheidung mit beeinträchtigt hat, ist der Umweltaspekt.
Er gehört bei Überlegungen zu einer „sinnvollen und verantwortungsbewussten Digitalisierungspolitik“, der sich „Seelite“ verschrieben hat, dazu. Michel Wilwert war einer der Experten, die für die Entscheidungsfindung gehört wurden. Er ist Energieberater bei der „Ëmweltberodung Lëtzebuerg asbl.“ und sehr beeindruckt von der Vorgehensweise des Lyzeums. „Sie haben geniale Arbeit gemacht“, sagt er, der in Sachen Umwelt Schwergewichte auffährt. Die Produktion der Endgeräte verursacht den größten Anteil am CO₂-Fußabdruck, vor allem die Displays, nicht deren Betrieb.
Expertenrat über Umweltzusammenhänge
„Man müsste einen Computer 50 Jahre laufen lassen, um den Strom zu verbrauchen, der bei der Herstellung verbraucht wurde“, sagt Wilwert. Und es geht weiter. 9-13 Tonnen CO₂ werden bei der Nutzung des Internets pro Stunde produziert. Zum Vergleich: Jeder Einwohner Luxemburgs verursacht nach Angaben Wilwerts pro Jahr rund 13 Tonnen CO₂.
Damit wäre auch die gängige Vorstellung, die Datenzentren seien die größten Energiefresser in der Hierarchie der Digitalisierung, aus dem Weg geräumt. Die Schule ihrerseits setzt mit der Maßnahme zum Schulstart vor allem auf den Schutz der sozialen Qualitäten ihres pädagogischen Konzepts.
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