Hintergrund / Der Hundert-Tage-Turbo der EU: Ein Arbeitsprogramm für die neue Kommission
„Neu“ ist eines der am häufigsten auftauchenden Worte in den von Ursula von der Leyen vorgelegten Leitlinien für die EU-Politik bis 2029. Es gibt alte Anliegen mit neuem Anstrich, aber auch die Absicht, neue Herausforderungen mit neuen Ansätzen in den Griff zu bekommen.
Es gibt keine Regierungskoalition auf EU-Ebene, aber eine informell verabredete Zusammenarbeit zwischen Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen. Die funktioniert bereits, wie die Wahlen zur Parlaments- und Kommissionsspitze gezeigt haben. Doch auf welche grundsätzlichen Themen haben sich die verabredet, die in den nächsten fünf Jahren gemeinsam die Verantwortung tragen wollen? Einen Koalitionsvertrag gibt es nicht. Aber Ursula von der Leyen, die alte und neue Kommissionspräsidentin, hat die Erwartungen der Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfel von Ende Juni und Erkenntnisse aus ihren Verhandlungen mit den vier Fraktionen der demokratischen Mitte zusammengetragen und daraus eine Art Regierungserklärung gemacht. Sie reicht von der Armutsbekämpfung bis hin zum Zugverkehr.
Leitendes Prinzip des Arbeitsprogrammes ist die Erkenntnis, dass die demokratische Mitte in Europa nur bestehen kann, wenn sie „dem Ausmaß, den Sorgen und Herausforderungen gerecht wird, mit denen die Menschen in ihrem Lebensalltag konfrontiert“ sind. Von der Leyen übersetzt das in den Vorsatz: „Wir brauchen eine Union, die schneller und einfacher ist, fokussierter und geschlossener, und die die Menschen und Unternehmer in den Mittelpunkt rückt“. Das war so und ähnlich schon oft zu hören und zu lesen. Herausgekommen ist eine Fülle neuer Vorschriften, die vielen Firmen das Leben schwer machten, Landwirte, Pflegekräfte und ganze Firmenabteilungen mit Berichtspflichten belegten. Allerdings will von der Leyen nun einen anderen Ansatz: Jedes Kommissionsmitglied soll dazu verpflichtet werden, Bürokratie abzubauen und Vorgaben zu vereinfachen, dazu regelmäßig mit den Betroffenen „Umsetzungsdialoge“ führen. Zusätzlich will sie einen Vizekommissionspräsidenten installieren, der die Vereinfachung koordiniert und den kompletten Bestand des EU-Rechtes einem Stresstest unterzieht.
Noch keine Planungssicherheit
Vorrangspuren soll es für eine ganze Reihe von Projekten im Rahmen eines 100-Tage-Programmes geben. So schnell soll die neue Kommission unter anderem einen „neuen Deal für eine saubere Industrie“ vorlegen, einen Aktionsplan für den Schutz von Krankenhäusern vor Cyberattacken entwickeln, Start-Ups auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz Zugang zu Hochleistungsrechnerkapazitäten eröffnen, ein Weißbuch für die europäische Verteidigung vorlegen, die Politikfelder überprüfen, auf denen die EU sich reformieren muss, um weitere Länder aufnehmen zu können und nicht zuletzt eine „Vision für die europäische Landwirtschaft“ fertig haben, die den Bauern die Perspektive für ein gerechtes und ausreichendes Einkommen sichert. Allerdings sind das nur Papiere, die erst noch in konkrete Gesetzentwürfe münden und dann zwischen den Institutionen ausgehandelt werden müssen.
Verbrennermotoren wird es auch nach dem so genannten „Verbrenner-Aus“ im Jahr 2035 noch geben, da von dem zuletzt beschlossenen Null-Schadstoffausstoß nur Neuwagen betroffen sein sollen. Kleinere Fahrzeugflotten sind jetzt schon ausgenommen. Nun betont von der Leyen den „technologieoffenen Ansatz“. Allerdings schrieb die Richtlinie auch bislang nicht vor, mit welcher Technik die Null-Emissionen erreicht werden sollen. Sie will offenbar, dass mit E-Fuels betankte Fahrzeuge eine größere Rolle spielen, also die Möglichkeit schaffen, dass nicht nur am Auspuff gemessen, sondern der Netto-Schadstoffausstoß auf die gesamte Lebensdauer eines Pkw bezogen werden kann. Allerdings ist die Überprüfung erst für 2026 geplant, muss dann ebenfalls in die Verhandlungen der Gesetzgeber, weswegen die von von der Leyen angekündigte Planungssicherheit noch eine Weile auf sich warten lassen dürfte.
Mehr Personal für Europol, noch mehr für Frontex
Reisende sollen künftig als Ergebnis einer neuen EU-Verordnung ein einziges Ticket auf einer einzigen Plattform buchen können, auch wenn sie verschiedene Verkehrsunternehmen in verschiedenen EU-Ländern nutzen, ohne ihre Fahrgastrechte für die gesamte Reise zu verlieren. Das Vorhaben, den Umstieg auf den öffentlichen Personenverkehr attraktiver zu machen, steht im Zusammenhang mit dem Ziel, schnell den Schadstoffausstoß in der EU zu senken. Ein neuer Rechtsakt zur Dekarbonisierung der Industrie gehört genauso dazu wie der Aufbau der Energieunion zur gemeinsamen Beschaffung nicht nur von Gas, sondern auch von Wasserstoff und kritischen Rohstoffen.
Die Verteidigung Europas rückt als EU-Aufgabe weit vor. Es werde zwar bei der alleinigen Verantwortung jedes EU-Staates für seine eigene Armee bleiben, doch die Ausgaben sollen sie besser abstimmen und „europäischer“ tätigen. Ein eigener Verteidigungskommissar soll dabei unterstützen. Geplant sind auch ein „Binnenmarkt für Verteidigungsausgaben und -dienstleistungen“, ein europäischer Verteidigungsfonds und Leuchtturmprojekte wie ein europäischer Luftschild. Bei der Finanzierung dürfte die Kommission jedoch beim Rat auf Granit beißen.
Mehr innere Sicherheit will die neue Kommission mit einer überarbeiteten Strategie erreichen. Europol soll seine Dienstposten verdoppeln und eine „wirklich schlagkräftige Polizeiagentur“ werden. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem soll dynamisch aufgebaut, die Grenzen durch eine Verdreifachung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex sicherer und der Fluchtsituation im Mittelmeer mit einem eigenen Kommissar Rechnung getragen werden.
Die EU hat zwei Gesetzgeber
– Die Kommission der EU mit ihren 26 Kommissarinnen und Kommissaren für einzelne Politikfelder sowie der Kommissionspräsidentin überwacht die Einhaltung der Gesetze, verteilt die Gelder und entwirft Vorschläge für neue Richtlinien und Verordnungen. Dafür ist Expertenwissen aus allen Mitgliedsländern in den einzelnen Generaldirektionen versammelt.
– Der Rat der EU muss jedem Gesetz zustimmen. Er wird von den regelmäßig zusammentretenden Ständigen Vertreter aller Mitgliedsstaaten vertreten und tagt auf Ministerebene in verschiedenen Formaten, etwa als Agrarrat der Landwirtschaftsminister, als Ecofin-Tagung der Wirtschafts- und Finanzminister oder als Rat für Auswärtige Angelegenheiten der Außenminister. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs konzentriert sich auf die großen Linien und verständigt sich auf „Schlussfolgerungen“, keine konkreten Gesetze.
– Das Europäische Parlament besteht aus 720 Abgeordneten, bei denen jedes EU-Gesetz ebenfalls eine Mehrheit braucht. Sowohl der Rat als auch das Parlament entwickeln Gegenentwürfe zu den Vorschlägen der Kommission. In Trilogen verhandeln dann Vertreter von Rat und Parlament unter Mitwirkung der Kommission über einen Kompromiss, der danach auch noch einmal von Rat und Parlament beschlossen werden muss.
- Sandy Artuso macht mit „Queer Little Lies“ Esch zum queeren Kultur-Hotspot - 26. November 2024.
- Gewerkschaften und Grüne kritisieren „Angriffe der Regierung“ auf Luxemburgs Sozialmodell - 26. November 2024.
- Sozialwohnungen statt Leerstand: Was die „Gestion locative sociale“ Eigentümern bieten kann - 26. November 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos