„Kass-Haff“ / Der Vorzeigehof: Wo Tierwohl, Pädagogik, Bildung und Regionalität keine Frage sind, sondern ein Muss
Grunzende Schweine, zufrieden kauende Kühe und dazwischen ein schmetternder Hahn, der an diesem Vormittag noch nicht gemerkt hat, dass längst alle wach sind: Die Aura des Kass-Haff kommt vergangen geglaubter „Heidi“-Idylle nahe. Der Blick hinter die Kulisse entlarvt die Idylle jedoch schnell als Klischee und legt die Schwächen des Systems Landwirtschaft offen. Dabei gibt es Ideen, dies zu ändern. Der Bio-Hof hat eine Mission.
Als die Grundrisse der Ställe, des Wohnhauses und des Ladens damals schon zu erkennen sind, kommt ein Nachbar vorbei. Er ist neugierig, was auf dem 100 Hektar großen Gelände passiert. Nach dem ersten bewundernden „das ist richtig schön“, heißt es gleich „das können wir unseren Tieren nicht bieten, wir müssen mehr Kühe halten“, bis hin zum „sonst geht bei uns die Rechnung nicht auf“.
Damit enden in den allermeisten Fällen Überlegungen, etwas zu ändern. Tom Kass (48) kennt das nur zu gut. Der Sohn eines Landwirtes legt trotzdem 2011 unbeirrt mit dem Bau des neuen Hofes los. Die Entscheidung zu „Bio” fällt während des Studiums in Hohenheim (D). Der Weg ist klar, die Mission auch. Seine 35 Rinder haben richtig viel Platz, die Kälber bleiben mehrere Monate bei ihrer Mutter.
Die Schweine mit ihren Ferkeln werden artgerecht gehalten, bevor sie geschlachtet werden. Die auf der großen Wiese frei laufenden Hühner sind eifrige Eierleger. 90.000 sind es pro Jahr bei insgesamt 440 Tieren. Kein Tier auf dem Hof wird kastriert oder coupiert. Fleisch, Milch, Eier und die Einnahmen aus deren Verkauf im Laden sind die Geschäftsfelder der „Société à responsabilité limitée“ (S.à r.l.) in Rollingen.
Soziales und pädagogisches Engagement
Die Geschäftsform als S.à r.l. war eine bewusste Entscheidung. Den Tag, an dem die Eltern die Übertragung des Hofes auf Kass notariell regelten, hat der Bio-Landwirt in nicht allzu guter Erinnerung. Das Gefühl, irgendwie nicht richtig gerecht zu sein, bleibt bei den Eltern haften. Sie kennen noch die Zeiten, als die Höfe ohne Diskussion der Tradition gemäß auf den ältesten Sohn übergingen.
Das hatte oft zur Folge, dass Landbesitz zerstückelt wurde, was eine rentable Bewirtschaftung nicht einfacher gemacht hat. „Das wollten ich und meine Frau für unsere Kinder nicht“, sagt Kass. Apropos Kinder: 300 Gruppen, Schulklassen und Kindergeburtstage kommen jährlich auf den Hof, macht 6.000 angemeldete Besucher, ohne die, die so vorbeikommen. Einen Vormittag in der Woche helfen Jugendliche des „Ediff“-Zweiges des Lënster Lycée bei der Stallarbeit mit, um sich dadurch weiterzuentwickeln.
Sie lernen Dinge auf dem Hof, die im Klassenzimmer so nicht möglich sind. Über dem Laden ist ein Kindergarten mit 20 Kindern angesiedelt. Von den 3.000 Produkten, die einen Stock tiefer verkauft werden, kommen rund 30 direkt vom Hof. Die Hälfte des Gewinns aus dem Shop fließt in den Betrieb des Hofes. Shopbetreiber ist „Naturata“, die „Oikopolis Participations“ hält 30 Prozent der Anteile an der „Haff“-S.à r.l. „Nur allein mit Banken hätten wir das Projekt hier nicht stemmen können“, sagt Kass. „Denen war das Risiko viel zu groß.“
80 Prozent des Einkommens resultiert aus Subventionen
Da sieht er auch den Knackpunkt für die Umstellung auf Bio und die ehrgeizigen Ziele, die die aktuelle Koalition sich gesetzt hat. „Wenn die Landwirte sich keine Sorgen mehr über den finanziellen Aufwand machen müssen, würden viel mehr auf den Zug aufspringen“, sagt Kass. „Wir wissen alle, dass etwas passieren muss.“ Fakten belegen Aussagen wie diese. Gleichzeitig erhärten sie die Vermutung, dass das Ziel, bis 2025 ein Fünftel der landwirtschaftlich genutzten Flächen biologisch zu bewirtschaften, nicht erreicht wird.
1.872 landwirtschaftliche Betriebe gibt es in Luxemburg (Stand 2019), gerade mal 105 arbeiten biologisch. Anders ausgedrückt: Von knapp 132.000 Hektar landwirtschaftlich bewirtschafteter Fläche werden nur rund 5.800 Hektar biologisch bewirtschaftet. Die durchschnittliche Hofgröße beträgt 70 Hektar. Diese Zahlen gibt das Landwirtschaftsministerium an. Kass liegt mit seiner Größe zwar über dem Durchschnitt, bleibt aber realistisch.
„Wenn wir mal ehrlich sind, geben wir zu, dass 80 Prozent der Einkommen in der Landwirtschaft Subventionen direkter und indirekter Art sind“, sagt er. Nur die erzielten Preise für die Produkte reichen in den allermeisten Fällen nicht zum Leben. Auch er nimmt die unzähligen Ausgleichszahlungen wie „Prime unique“, Landschaftspflegeprämie oder die Bio-Zulage in Anspruch. „Trotzdem reicht es nicht“, sagt er.
Unentgeltliche Leistungen sind wichtiger Teil
Das wirft ein schlechtes Licht auf die Zukunft der Ernährungserzeugung, weil es sehr wahrscheinlich ist, dass er damit nicht allein dasteht. Die Gelder werden falsch verteilt, die Bio-Zulage muss für alles Mögliche herhalten und ist ausgereizt. Die eigentlich wichtigen Leistungen wie Aufklärungsarbeit, die dem „blümelig“ angehauchten Retro-Image der „Heidi“-Kulisse in den Köpfen vieler entgegenwirken, das soziale Engagement bei besonders förderintensiven jungen Menschen, wie die aus den „Ediff-Zweigen“, oder die Offenheit des Hofes für alle Menschen, die sich für „Bio“ interessieren, werden gar nicht entlohnt.
Sie sind aber ein nachhaltig wirkender Beitrag zum Funktionieren der Gesellschaft und leisten pädagogische Arbeit in puncto Ernährung. Äpfel wachsen nicht im Supermarktregal, genauso wenig wie die Milch von selbst hineinfindet. Außerdem gibt es bei der Arbeit mit der Natur nicht immer die gleichen Ergebnisse, um dem Konsumenten die Wahl zwischen 20 verschiedenen Herstellern des gleichen Produktes im Regal die Wahl zur Qual zu machen. Das muss denen, die nur im Handel einkaufen und die Bauernhöfe nur aus Filmen kennen, erklärt werden.
Nicht entlohnt wird auch, dass die Produkte des Hofes praktisch keine Wege zurücklegen, um dem Konsumenten in aller Herstellungstransparenz zur Verfügung zu stehen. Kein Schiff, kein Zug, kein Lkw muss herhalten. Die nicht adäquat entlohnte Landschaftspflege und der Schutz, die Kass mit seiner Art der Bewirtschaftung Boden und Wasser angedeihen lässt, kommt gleich danach. Sie ist zeitintensiver als bei konventioneller Landwirtschaft.
Es gibt Alternativen dazu
Deswegen ist der Bio-Landwirt ein Fan der Leistungswert-Rechnung. Sie honoriert Dienste wie seine anders und monetarisiert sie überhaupt erst einmal. Tierwohl, Ökologie, Regionalökonomie und Soziales sind die Hauptkriterien des insgesamt 300 Punkte umfassenden Fragenkatalogs, nach dem Betriebe in diesem System bewertet werden. Würde diese Art der Rechnung angelegt, sähe seine Bilanz deutlich anders aus.
Statt der aktuell 677 Euro würde Kass 2.049 Euro pro Hektar bekommen. Bis sich das jedoch durchsetzen wird, ist es ein weiter Weg. Deshalb will Kass seine Aktivitäten, die der solidarisch orientierten Hofphilosophie entsprechen, weiter ausbauen. „Wir wollen Menschen auf dem Hof, wir wollen offen sein, wir wollen einen Austausch“, sagt er. Den „Return-on-invest“ hat er gerade bei den Jüngsten anfangs unterschätzt.
„Ich dachte immer, das zahlt sich erst in zehn Jahren aus, wenn die Kids größer sind“, sagt Kass. „Aber es geht von jetzt auf gleich.“ Begeisterte Kinder sind zu Hause, und nicht nur dort, sehr aktive Botschafter in Sachen „Bio“. Potenziellen Förderern, die das Hofprojekt finanziell unterstützen, bei der Arbeit mithelfen und den Shop möglichst häufig nutzen, muss er Argumente liefern. Bislang hat er da falsche Bescheidenheit walten lassen. Er will die Konzepte, die er täglich umsetzt, zukünftig transparent auf der Homepage darlegen. Zehn Jahre nach der Gründung ist die Zeit reif dafür.
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Für mich bleibt noch immer das Probem der Kälber die der Kuh nach der Geburt wegegnommen werden. Nur damit wir Milch trinken können.
Bio ist nicht ohne Leid.
Nicht nur Milch trinken! Keinerlei Käse, auch kein Raclette oder Käsefondue, Quark pikant oder süß, auch keinen Käsekuchen, Joghurt, Skyr… die Liste ist lang, wenn man auf alle Milchprodukte verzichtet. Ich habe es mit Hafermilch u. ä. versucht, es ist einfach nicht das selbe. Trotzdem ist es irgendwie tröstlich wenn man über solche Höfe was liest. Aber es sind zu wenige.