Konzert / Der Wortverderber: So war Bob Dylans Auftritt in der Rockhal
Dylan war in Luxemburg, vernuschelte seine Texte, versteckte sich hinterm Klavier und verballhornte manch alten Hit. Alles wie immer also? Nicht ganz. Über einen Abend mit einem Mann, der nun wirklich im Zwielicht seiner Karriere angekommen ist – und dort so herrlich schummrig strahlt wie noch nie.
Am Ende des Konzerts schaut man ungläubig auf den Notizblock. Doch, doch, es stimmt. Ganze fünf Mal hat sich Bob Dylan, notorischer Grantler, ewiges Pokerface, großer Erwartungspulverisierer, an diesem Abend in der Rockhal bei seinem Publikum bedankt. Und damit nicht genug. Mindestens zwei Mal – vielleicht sogar öfter, man kann das bei seinem legendären Genuschel nie so genau sagen – hat Dylan sogar mit den Anwesenden geschäkert. Zum Beispiel, als er sich mit einem kleinen, spontanen Kichern in eine Neuinterpretation des „Nashville Skyline“-Songs „To Be Alone with You“ wirft. Dessen nasal-nöliger Country-Schmalz ist seit 1969 zu einer knorrigen Rocknummer vertrocknet, die das Publikum dankbar klatschend aufnimmt. Auch ein Mundharmonika-Solo wird mit Szenenapplaus belohnt. Dylan brummelt ein „Thank you“ und stellt Bandkollegen Tony Garnier am Bass vor, mit dem er seit 1989 zusammenspielt: „He knows what it’s like to be alone with me“. Wieder dieses heisere Dylan-Kichern. Ein laues Witzchen, klar. In Dylan-Small-Talk-Maßstäben ist das jedoch beinahe ein Kaffeekränzchen.
Dabei hat alles unter ganz anderen Vorzeichen angefangen. Pünktlich um 20:32 erlischt in der ausverkauften Rockhal das Saallicht, die Band betritt die Bühne. Augenblicklich geht es los, alles stürmt nach vorne, das Schlagzeug voran, dahinter Gitarre, Bass, Klavier. Aber Moment, was für ein Song soll das eigentlich sein? Und wo ist überhaupt Dylan? Plötzlich erklingt die unverkennbare Stimme: „There must be some way out of here …“. Zwei Erkenntnisse blitzen in ein- und derselben Sekunde auf. Erstens, das soll „All Along the Watchtower“ sein und, zweitens, Dylan sitzt schon die ganze Zeit am Klavier, ist nur niemandem aufgefallen, so versteckt ist er da. Der berühmte kryptische Text ist noch unklarer als sonst, Dylan sprechsingt ihn halb am Mikrofon vorbei. Nicht nur will sich beim Zuhörer keinerlei Wiedererkennung einstellen, so verdreht ist das markante Gitarrenriff, nein, die Band lässt den Song nach ein paar Minuten einfach in sich zusammenfallen. Und das nicht mit mächtigem Wumms, sondern fast beiläufig, wie eine Kiste voller Altglas, das die Kellertreppe runterpurzelt. Uff, ist man hier schon verführt zu denken, wenn das so weitergeht, wird das ein anstrengender Abend.
Gelöst, spielfreudig, vielleicht sogar: fröhlich
Dylan selbst hat derweil schon zum zweiten Song angesetzt und sich dafür mit Gitarre auf dem Klavierhocker noch weiter vom Publikum abgewandt. Er schrammelt ein paar Akkorde, die sich später als „It Ain’t Me, Babe“ herausstellen sollen, noch ein Klassiker. Doch etwas ist anders. Nach dem nächsten Mundharmonika-Solo driftet der Song nicht auseinander, im Gegenteil, er zieht sich zusammen. Dylan, klar und deutlich, seufzt: „No, no, no, it ain’t me, babe, it ain’t me you’re lookin’ for, babe“. Er ätzt das nicht mehr mit dem Freiheitsdrang des jungen Wilden, der er einmal war, nein, er krächzt ganz sanft, die Zeit hat diese Zeilen schon fast reumütig gemacht. Was ihnen jedoch nichts an Kraft nimmt. Dylan klopft auf die Klaviatur, am Schluss steht er gar auf. Die Dynamik ist da und sie ist nicht mehr aufzuhalten. Beim dritten Song, „I Contain Multitudes“ vom tournamensgebenden Studio-Album „Rough and Rowdy Ways“, lehnt sich Dylan aufrecht über das Klavier, mit einer Hand hämmert er die Akkorde, mit der anderen hält er das Mikrofon – während er über die Welten singt, die ihm innewohnen. Ein exemplarischer Song, hat Dylan in seiner Karriere doch schon etliche Manifestationen durchlaufen. Dylan ist viele, er ist immer ein Anderer. Es ist nie ganz sicher, welchen Dylan man an solch einem Konzertabend zu Gesicht bekommt. Doch jetzt sind drei Songs vorbei und es ist klar, es wird ein guter Abend. Denn der Dylan, der in Belval auf der Bühne steht, ist ein gelöster Dylan, spielfreudig, ja vielleicht sogar: fröhlich.
Die meisten Stücke, die dieser Dylan an diesem Abend spielt, stammen entweder von „Rough and Rowdy Ways“, das er bis auf das epische „Murder Most Foul“ in seiner Gesamtheit präsentiert, oder sind Neuinterpretationen alter Songs, vergangenes Jahr auf „Shadow Kingdom“ veröffentlicht. Gerade das neue Material besteht aus einigen Blues-Nummern, die die Band souverän runterstampft: „False Prophet“, „Crossing the Rubicon“, „Goodbye Jimmy Reed“. Dylan ist hellwach, im Stakkato von „My Own Version of You“ feuert er die Textbrocken wie scharfe Granaten. Anderswo streichelt er sich durch seine Songs – und lässt im düsteren „Black Rider“ selbst eine Zeile wie „I’ll take a sword and hack off your arm“ wie einen Liebesschwur klingen. Der absolute Höhepunkt des Abends ist jedoch „Desolation Row“.
Das Schlagzeug wirbelt, die Lead-Gitarre pluckert halbverstummt vor sich hin. Ein Song baut sich auf. Dann steigt Dylan am Klavier ein. Die Band zäumt den Folk-Song von einst auf. Er wächst und wächst – ohne etwas von seiner versöhnlichen Romantik zu verlieren. Zuweilen galoppiert Dylan seinen Mitmusikern davon. Er spielt sich frei und die Band lässt es geschehen. Ein Augenblick voller Leichtigkeit. Man lässt ihn vorpreschen, man fängt ihn wieder ein. Diese Leichtigkeit, das ist die eine Sache, die man an diesem Abend ganz deutlich spürt. Die andere – und das ist kein Widerspruch – ist die Schwere des Todes. Nicht etwa, weil Dylan alt und gebrechlich wirken würde. Es ist mehr so eine Art thematisches Hintergrundrauschen. Der schwarze Reiter, die sterbenden Blumen in „I Contain Multitudes“ und der Grenzfluss Rubikon. Als Dylan einen weiteren Bandkollegen vorstellt, sagt er: „He crossed the Rubicon many times. Like we all have to some day.“ Dylan ist ohne Zweifel im Zwielicht seiner Karriere angekommen. Doch das hat ihn nicht schwermütig gemacht. Im Gegenteil. Er scheint freier und leichtfüßiger als jemals zuvor.
Eingegroovt in seiner vielleicht letzten Rolle
Man analysiert bei so einer Dylan-Show jede Kleinigkeit, jede Bewegung, jeden Ton. Was bleibt einem auch anderes übrig? Fotos darf man schon lange keine mehr machen, Smartphones werden weggesperrt, zu sehen gibt es wenig wegen der herrlich schummrig-atmosphärischen, aber doch sehr funzeligen Bühnenbeleuchtung. Keine Chance, auch nur einen Blick auf Dylans Mimik zu erhaschen, mehr als ein für sein Alter imposanter Lockenkopf ist da nicht zu erkennen. Und so analysiert man seit Jahren den Meister der Verweigerung, der Häutungen und Wiedergeburten anhand der Häppchen, die er einem hinwirft. Allein, bei der seit 2021 laufenden „Rough and Rowdy Ways World Wide Tour“ wird eines deutlich: In seinem ewigen Drang zur Veränderung ist Dylan mittlerweile sehr konstant geworden. Die Shows der letzten Wochen gleichen sich wie Drucke ein- und desselben Holzschnitts. Egal ob Frankfurt, Paris oder Esch/Alzette.
Wenn man jeden Abend eine perfekte Kopie des Vorabends bestaunt, macht das natürlich diese ganzen Analysen wieder hinfällig. Man sucht ja auch hier in der Rockhal wie überall immer sehnsüchtig nach dem Funken Authentizität, der Echtheit, dem Blick hinter den Vorhang, dem Riss, dem Menschen. Aber was wenn das am Ende doch einfach nur inszeniertes Showbizz ist? Zugegeben, mit Ecken, Kanten, Genuschel und Tempofehlern, aber doch kalkuliertes Entertainment? Mehr Sinatra als Outlaw? Oder gar beides?
Hier schichten sich die Lagen von Hoch- und Popkultur übereinander, von amerikanischen Mythen und europäischer Klassik, von Literatur und Politik, Protest und Pop. Dylan ist ein Kulminationspunkt des 20. Jahrhunderts. Und man kann ihn an Abenden wie diesem noch einmal in seiner ganzen windschiefen Pracht erleben. Dabei bekommt man sicherlich kein Einzelshow-Kunstwerk. Aber in der Gesamtheit dieser Konzerte, angelesen oder selbst erfahren, lässt sich schon eine Aussage über Bob Dylan im Jahr 2024 treffen. Über einen Mann, der mit 83 Jahren gelöst und lässig auf der Bühne steht, distanziert, ja, aber niemals kühl. Einen Mann, der auf sieben Jahrzehnte schaut, die in seiner Musik stecken und in denen seine Musik steckt. Einer, dem alles egal sein könnte, dem wahrscheinlich auch vieles egal ist, aber nicht seine Kunst, nicht sein Handwerk, nicht seine Show. Einer, der sich eingegroovt hat in seiner vielleicht letzten Rolle, seinen Fixstern, den er bei all den Rollenwechseln doch immer umkreist hat: der weise Shakespearesche Narr. Ein Clown, ein Außenseiter, ein scharfsinniger Beobachter der Welt. „I am not her fool, but her corrupter of words“, sagt der Narr Feste in „Was ihr wollt“. Der Wortverderber, der mit Sinn und Unsinn jongliert, bis nichts und alles stimmt. Was für ein schönes Bild für Dylan. Aber wer weiß, vielleicht ist das alles auch wieder nur ein Narrenstreich.
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