Luxemburg / Desozialisierung durch das Gefängnis: Wie „Eran, eraus … an elo?“ daran etwas ändern will
Eine Haftstrafe ist ein zentraler Einschnitt in das Leben. Auch die Rückkehr in die Gesellschaft stellt eine große Hürde dar. Der Verein „Eran, eraus … an elo?“ begleitet Straftäter bei diesem Schritt – und setzt sich für sie ein.
„Das Gefängnis desozialisiert die Häftlinge“, sagt Christian Richartz, Präsident von „Eran, eraus … an elo?“ im Gespräch mit dem Tageblatt. Die Häftlinge würden aus dem freien Leben gerissen und mit anderen Straftätern in einen Ort gesteckt werden, wo der Umgang nicht der allerbeste sei. Sie würden ihre Arbeit sowie ihre Hobbys verlieren und würden keine Zeit mehr mit ihren Partnern verbringen können.
„Man steckt sie in ein total künstliches Umfeld“, sagt Richartz. Je schlechter die Lage und je länger die Strafe, desto größer auch die Desozialisierung. Viele würden durch das Eingesperrtsein in den kleinen Zellen Probleme entwickeln. Die Resozialisierung, die Wiedereingliederung in die Gesellschaft, gestalte sich dann schwierig.
„Eran, eraus … an elo?“ ist ein kleiner Verein, der sich für Häftlinge einsetzt – sowohl während der Haftstrafe als auch nach der Entlassung. Die Arbeit besteht aus zwei Bereichen. Die „Ligne Info’Prison“ ist eine Hotline, bei der Inhaftierte oder deren Angehörige nach Hilfe fragen können. „Durchschnittlich rufen uns täglich drei bis vier Leute an“, sagt Richartz. Viele würden auch anrufen, weil sie kurz vor der Entlassung stehen: Sie bräuchten Hilfe bei der Suche nach einer Wohnung oder einer Arbeit.
Der zweite Bereich ist die politische Arbeit. Der Verein richte Forderungen an die Politik und versuche zu erreichen, dass sich im System etwas ändere, sagt Richartz. „Eran, eraus … an elo?“ versuche so gut wie möglich, kritische Themen ans Tageslicht zu bringen. Der Verein treffe sich immer wieder mit Politikern, doch habe man auf diese Weise noch keine Resultate erzielen können. „Aber zumindest spürt die Politik, dass jemand auf Missstände aufmerksam macht“, sagt Richartz.
Lange Liste
Luxemburgs Gefängnisse
Centre pénitentiaire de Luxembourg: Das Gefängnis in Schrassig wurde 1984 eröffnet. Mit 597 Betten ist es die größte Einrichtung in Luxemburg. Hier werden Frauen und Männer inhaftiert.
Centre pénitentiaire d’Uerschterhaff: Das Gefängnis wurde 2022 eingeweiht. Bis zu 400 männliche Untersuchungshäftlinge können hier untergebracht werden.
Centre pénitentiaire de Givenich: Am Standort in Givenich gab es bereits 1938 eine landwirtschaftliche Strafkolonie. 1956 wurde diese zu einem halboffenen Gefängnis mit 113 Plätzen für Männer und Frauen umgewandelt. Gefangene können im Lauf ihrer Haftzeit einen Wechsel hierhin beantragen. Das Besondere: Sie können das Gelände unter der Woche zum Arbeiten und sonntags für Familienbesuche verlassen.
Die Liste der Missstände ist lang. Im Gefängnis würden die Häftlinge zwar vom „Service psycho-socio-éducatif“ (SPSE) und vom „Service central d’assistance sociale“ (SCAS) begleitet werden – was laut Richartz auch funktioniere. Ebenso würden die „Unités de vie familiale“ bei der Resozialisierung helfen: Dort könne der Partner zu Besuch kommen.
Doch in einem geschlossenen Gefängnis gestalte sich die Resozialisierung schwierig. Deswegen würden Wissenschaftler immer wieder mehr halboffene Gefängnisse und kleinere Strukturen fordern. „Givenich ist ein tolles Projekt“, sagt Richartz. Die Arbeit und der Kontakt zur Familie seien wichtige Faktoren für die Resozialisierung.
Wenn die Leute ohne Geld aus dem Gefängnis kommen, dann bringen alle Psychologen nichtsPräsident „Eran, eraus … an elo?“
Die Häftlinge in Givenich erhalten für ihre Arbeit – vor Ort oder bei einem Unternehmen – den Mindestlohn. Denn sie fallen unter den „Code du travail“. In Schrassig sei das nicht der Fall: Dort erhielten die Insassen für ihre Arbeit nur eine Entschädigung von wenigen hundert Euro, wie etwa in der Wäscherei. Eigentlich sei bei der Gründung der Wäscherei festgelegt worden, dass die Beschäftigten auch dort den Mindestlohn erhalten sollten, weil sie für eine private Firma arbeiten – doch das sei nicht eingehalten worden. Abgesehen von der Bezahlung handle sich um ein gutes Projekt. „Aber wenn die Leute ohne Geld aus dem Gefängnis kommen, dann bringen alle Psychologen nichts“, sagt Richartz.
Interessenskonflikte?
Theoretisch könne jeder Gefangene während seiner Haft nach Givenich wechseln. In Luxemburg ist die „Exécution des peines“, die Strafvollstreckung, verantwortlich für die Häftlinge: Ein Delegierter des Generalstaatsanwalts trifft die Entscheidung. „Wir sind quasi das einzige Land in der westlichen Welt, in dem die Strafvollstreckung von der Staatsanwaltschaft durchgeführt wird“, sagt Richartz. Es sei problematisch, dass die Instanz, welche die Anklage vertrete, danach auch weiterhin über die Häftlinge entscheide.
In Givenich seien im Durchschnitt nur 60 bis 65 Plätze belegt. Im Umkehrschluss bedeute das, dass 50 Zellen leer stehen. „Ein unabhängiger Richter wäre vielleicht kulanter und würde mehr Leute nach Givenich transferieren“, sagt Richartz. Denn für jeden Gefangenen wäre es ein Riesenunterschied, ob er dort oder im „Monster“ Schrassig einsitze.
Das halboffene Gefängnis in Givenich sei ein Erfolgsmodell. „Wir bräuchten viel mehr solcher Einrichtungen, denn arbeiten gehen zu können, ist sehr wichtig“, betont Richartz. Dennoch müsse man darüber nachdenken, ob in vielen Fällen eine Fußfessel nicht angebrachter wäre. Diese könnte das System sogar überflüssig machen. Und nicht nur dort müsse man über andere Sicherheitsmaßnahmen nachdenken. „Bei 10 Prozent der Straftäter kommen wir nicht daran vorbei, sie lange einzusperren, weil sie eine schlimme Tat begangen haben“, sagt Richartz. Man müsse überdenken, ob diese Praxis auch für die anderen 90 Prozent noch zeitgemäß sei. Denn ein Gefangener koste den Staat pro Tag 450 Euro – und in Luxemburg würden die meisten Straftäter wegen einfachen Diebstahls einsitzen.
Problem: Wohnungsmarkt
Eine weitere Hürde bei der Resozialisierung sei das Strafregister. „Das wird überall gefragt“, sagt Richartz. Er habe sogar bereits erlebt, dass ein Auszug für ein Zimmer bei gemeinnützigen Organisationen vorgelegt werden musste. Es gebe durchaus Organisationen, die den Ex-Häftlingen helfen würden – doch im großen Ganzen reiche das nicht aus.
Denn in Luxemburg sei nicht die Arbeit das Hauptproblem, sondern der schwierige Wohnungsmarkt. „Wenn ein Straftäter entlassen wird, braucht er schnell eine Wohnung“, sagt Richartz. Ohne ein gewisses Geldpolster könne er sich die aber nicht leisten. Abhilfe schaffen könnten sogenannte „Maisons de transition“ – die frisch aus dem Gefängnis entlassenen Menschen eine Unterkunft für mehrere Monate bieten könnten. Mit einer Adresse könnten sie dann zumindest bereits das Einkommen zur sozialen Eingliederung (REVIS) beantragen.
2018 stand ein solches Projekt in den Startlöchern: Die Caritas wollte mehrere solcher Strukturen einführen. Doch die damaligen Ministerinnen Sam Tanson („déi gréng“) und Corinne Cahen (DP) hätten die Idee wieder verworfen. „Schon in den 1950er Jahren hat man erkannt, dass man für die Resozialisierung eine Struktur zwischen dem Gefängnis und der realen Welt braucht“, sagt Richartz. Und die gebe es in Luxemburg noch immer nicht.
Damit die Resozialisierung erfolgreich sein könne, bräuchten die Häftlinge eine zweite Chance. Sonst würden alle Straftäter in eine Ecke gedrängt werden – und die Resozialisierung würde nicht mehr stattfinden. Die Rückfallquote sei weniger groß bei jemandem, der mit sozialen Kontakten, einer Wohnung und einer Arbeit zurück in die Gesellschaft findet.
Mehr zu diesem Thema:
– „Für einen würdevollen Platz in der Gesellschaft“: Défi-job setzt sich für die Resozialisierung von Häftlingen ein
– Seit 2019 mussten 27 Mal Minderjährige in einem Erwachsenengefängnis untergebracht werden
– Platzmangel? So viele Menschen sitzen in Luxemburg hinter Gittern
– Jugendliche sollen künftig nicht mehr nach Schrassig kommen
- Wie Luxemburgs Autobahntunnel mit Spezialfahrzeugen aus der Schweiz gereinigt werden - 26. Oktober 2024.
- Gewerkschaften wollen sich nicht von Ministerin Deprez den Mund verbieten lassen - 24. Oktober 2024.
- Luxemburgs einziger PET-Scanner wird immer anfälliger für Pannen - 17. Oktober 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos